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Abgründiges Dasein I

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28.01.2002
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Abgründiges Dasein I

Wenn du durch die Straßen gehst und ein Stück eines handbeschriebenen Papierblattes auf dem Boden unbeachtet liegen gesehen hast, bleibt es nicht bei einem verstohlenen Blick auf die Schrift. In der Hoffnung auf eine geheime Botschaft oder eine Antwort als Geschenk des Schiksals hebst du den Fetzen auf. Das Papier ist schmutzig. Es zeigt Fußtritte. Es gibt darauf Männerschriften und Frauenschriften. Manchmal ist das Papier kariert, selten liniert, meistens weiß, aber nicht mehr weiß. Die Zettel haben manchmal Flecken von Tropfen, die ihre Buchstaben verschmieren. Sie sagen nichts Geheimes und sie sagen nichts Erbetenes. Es sind Einkaufzettel, Denkzettel, Terminnotizen.
Manchmal findet sich ein Fragment eines mutwillig zerrissenen Briefes. Aber was auf dem Stück zu lesen ist lässt nicht wissen, wieso und von wem er hat vernichtet werden müssen. Geschah das durch den Leser oder den Schreiber? Es lassen sich Telefonummern mit Notizen auf die Rückseite eines Kassenbons gekritzelt finden.
Sie sind nicht der Rede wert. Aber du gibst nicht auf, du hebst sie auf. Die kleinen Botschaften die Schüler durch die Bänke reichen und auf dem Nachhauseweg im U-Bahn-Schacht verlieren haben oft Kringel auf dem i, weil man sich Zeit nimmt für einen iPunkt. Es war noch nie eine Schatzkarte unter den Papieren, aber das hat dich nicht entmutigt. Du bist schnell überzeugt vom Unwert der Papierschnipsel und überlässt sie auch sogleich wieder dem Stadtbild. Und diese klitzkleine Verzögerung auf deinen Wegen, nun du nimmst sie in Kauf. Schließlich hebst du auch nicht jeden Schwachsinn auf, nur das von Menschenhand beschriebene und nur solche Papierfetzen, bei denen es irgendwie Sinn macht. Du prüfst genau und weißt sehr gut, ob es sich lohnt stehenzubleiben. Stehst du einmal, ist das Papier noch nicht in deiner Hand im nächsten Sekundenbruchteil kann entschieden sein, dass du einfach weitergehst. Oft lässt ein kleiner Stups mit dem Fuß schon sichtbar werden, was es zu lesen gibt. Vielleicht aber auch bückst du dich. Falls Wind weht ist deine Hand schnell im Einsatz. Aber die meisten erweisen sich nach dem ersten Blick schon als nicht vielversprechend.
Ganz wenige werden also tatsächlich aufgehoben und von diesen werden alle sogleich wieder falengelassen. Denn was auf ihnen steht willst du nicht haben. Manchmal wenn du Eile bist, hebst du gar nichts auf. Aber dein Blick ist immer suchend und oft schon glaubtest du, dir sei eine Botschaft entgangen.Wie damals, du erinnerst dich vielleicht, als du zu der Theateraufführung eilen musstest. Schnellen Schrittes überquertest du den Stadtplatz, der sehr weitläufig ist und du sahst da ein Stück Papier vom Taubenschiss beschwert liegen. Es hätte eine große Kurve, ab vom kürzesten Weg, gebraucht um dich vergeswissern zu können, ob das Papier wert ist besehen zu werden. In diesem Fall bist du der Sache nicht nachgegangen, aber wirklich unruhig hat dich das gemacht. Auf dem Rückweg war das nicht mehr nachzuholen. All der Müll ist in Bewegung und er wartet nicht.
Nun, ja die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass gerade dieser Zettel dir das gebracht hätte, worauf du hoffst. Aber wie willst du sicher sein? Ähnlich reuevoll waren früher einige Wege in Begleitung. Ein Mann deiner Position zeigt sich nicht als jemand den interessiert was andere wegwerfen. Aber was wenn sich unter all den gedankenlosen Aufzeichnungen einmal eine hervortut, die dir Auskunft gibt. Es ist möglich. Faulheit oder Geltungsdrang können diese Chance doch nicht auslöschen.
Durch immer weniger siehst Du dich eingeschränkt deiner Suche nachzugehen. Und du bist hektischer geworden. Ich sehe, dass du nicht mehr schmunzelst, nachdem du mit glänzenden Augen von einer Einkaufsliste eine Offenbarung erwartet hattest und enttäuscht wurdest. Bitter ist dein Blick. Was früher noch dein albernes lustvolles Laster war, ist jetzt eine harte Jagd. Immer wenn du wieder einen Zettel in der Hand hältst ist dir klar, wie aussichtslos das alles ist und du sagst dir, dass du dich nie wieder diesen Papiermist widmen wirst, aber dann kommt ein Zettel und besonders wenn er ganz zusammengeknüllt ist, weckt er wieder alle Hoffnung in dir auf die verborgene Botschaft an dich, so dass du ihn also wieder an dich nimmst.
Mein lieber Freund, ich will dich waren, da ich merke, dass dein Vertrauen in deinen Blick schwindet. Du hast Angst zu übersehen, du hast Angst falsch zu entscheiden, dein Unmut wird zur Gier und ich will dich davor bewahren, dass du bald schon aus jedem verrotzten Tempo dein Leben zu ziehen trachtest.
Was hoffst Du zu finden? Was suchst du da eigentlich?

[Beitrag editiert von: ingrid.scheruebl am 14.02.2002 um 16:08]

 

Hallo Ingrid,

Willkommen auf Kurzgeschichten.de!
Schön, dass Du Dein Debut hier mit einer so guten Geschichte feierst. Abründiges Dasein I gehört mit zum Besten, was ich im Philosophisches-Forum gelesen haben - und gelesen habe ich hier viel.

Die Geschichte saugt den Leser geradezu in sich hinein, und liefert noch dazu einen Hammer von einem Ende - alles verstärkt durch das erzählen in der zweiten Person; die direkte ansprache am Schluss ist fast ein Schock.

Ansatzpunkte zur Interpretation gibt es hier viele. Zum einen als einfache Allegorie der Suche nach einer Sinngebung, im universellen, sowie im persönlich-alltäglichem Raum. Da ich mich zur Zeit aber etwas mit Habermas und Luhmann befasse komme ich auch nicht daran vorbei es in Hinblick auf diese beiden zu lesen. Die Papierschnipsel sind vielleicht so eine Art herrschaftsloses Kommunikationsystem sowie ein Teil des Speichers Menschlicher Erkenntnis, für die der Mensch unter umständen gar nicht mehr Notwendig ist. Hier hat sich der Mensch also eine Erkenntniswelt geschaffen, die für ihn selbst nicht mehr zugänglich ist - Communication Overload sozusagen.
Mir ist auch noch mehr aufgefallen, aber ich hör jetzt lieber auf bevor ich mir die Geschichte noch selbst madig mache.

Nur zwei Sachen hätte ich dann doch noch auszusetzen. Du solltest ein paar Absätze lassen, und das "Mien Freund" korrigieren. Dieser Moment der direkten Ansprache ist ziemlich wichtig, und da sollte ein Tippfehler einen nicht aus der Geschichte reissen. Ausbessern kannst Du, in dem Du über dem Text auf editieren drückst.

Hoffe noch mehr von Dir zu lesen,

I3en

[Beitrag editiert von: I3en am 29.01.2002 um 06:52]

 

Liebe Ingrid!

Auch ich möchte Dich herzlich begrüßen!

Deine Geschichte hat mich jetzt etwas nachdenklich gemacht, auch der Kommentar von I3en. So bleibe ich jetzt mal bis morgen, dann melde ich mich wieder.

Auf jeden Fall ist sie gut und flüssig geschrieben! ;)

Liebe Grüße
Susi

 

Liebe Ingrid!

Einige Male ist mir Deine Geschichte seit vorgestern durch den Kopf gegangen. Oder besser gesagt, sind mir aufgrund Deiner Geschichte viele Dinge durch den Kopf gegangen.

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Wie viele Dinge schnappt man irgendwo auf und macht sich Gedanken darüber, obwohl sie einen nichts angehen, einen nicht betreffen? In allen erdenklichen Formen...

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Die Suche nach ?????
Etwa meine Freundin: Sie sucht richtig. Sie macht gar kein Hehl daraus, daß sie Wohnungen, in denen sie netterweise während der Abwesenheit der Bewohner Blumen gießt, durchstierlt, alles liest, was nicht Bücher oder Zeitschriften sind. - Was bringt es ihr, wonach sucht sie?

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Ist es vergeudete Zeit, sich Gedanken zu machen über Dinge, die uns nicht direkt betreffen?

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Ich kann Dir nicht alles aufschreiben, was ich mir gedacht habe, aber auf alle Fälle:

********
DANKE!
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für diese Geschichte!

Liebe Grüße
Susi :)

[Beitrag editiert von: Häferl am 30.01.2002 um 21:54]

 

Wow!
Die Zettel-Metapher hat mir sehr gut gefallen. Dachte dann, dass wir hier drin auch nichts anderes machen, als anderer Leute Zettel zu lesen. "Was suchst Du da eigentlich?" - Anschlüsse?

 

Hi Ingrid !

Dieses Stöbern in den Zetteln: Ich sehe das unter dem Aspekt der Vergänglichkeit und auch etwas in Hinblick auf Erkenntnisfindung.
Gedanken werden geäußert, sind momentan wichtig, von Fremden sind sie vielleicht schon nicht mehr nachvollziehbar. Trotzdem ist man auf der Suche, halt fast schon zwanghaft, will irgendwie den Durchblick für die Gesamtheit erhalten. Gut beschrieben, dieses ewige Anrennen.

aquata

 

Hallo Ingrid,
mir gefällt deine Geschichte auch.
Vor allem spricht mich die Verwandlung von etwas Spielerischen in etwas Zwanghaftes an. Dadurch schaffst du es, was in dem eher berichtenden Stil schwierig ist: eine Handlung zu schaffen.
Manchmal bin ich über ein paar Satzstellungen gestolpert, fehlende Kommata erschweren das Lesen auch. Daraufhin solltest du die Geschichte noch mal korrigieren.
Ansonsten: Weiter so!

 

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