Abgründiges Dasein I
Wenn du durch die Straßen gehst und ein Stück eines handbeschriebenen Papierblattes auf dem Boden unbeachtet liegen gesehen hast, bleibt es nicht bei einem verstohlenen Blick auf die Schrift. In der Hoffnung auf eine geheime Botschaft oder eine Antwort als Geschenk des Schiksals hebst du den Fetzen auf. Das Papier ist schmutzig. Es zeigt Fußtritte. Es gibt darauf Männerschriften und Frauenschriften. Manchmal ist das Papier kariert, selten liniert, meistens weiß, aber nicht mehr weiß. Die Zettel haben manchmal Flecken von Tropfen, die ihre Buchstaben verschmieren. Sie sagen nichts Geheimes und sie sagen nichts Erbetenes. Es sind Einkaufzettel, Denkzettel, Terminnotizen.
Manchmal findet sich ein Fragment eines mutwillig zerrissenen Briefes. Aber was auf dem Stück zu lesen ist lässt nicht wissen, wieso und von wem er hat vernichtet werden müssen. Geschah das durch den Leser oder den Schreiber? Es lassen sich Telefonummern mit Notizen auf die Rückseite eines Kassenbons gekritzelt finden.
Sie sind nicht der Rede wert. Aber du gibst nicht auf, du hebst sie auf. Die kleinen Botschaften die Schüler durch die Bänke reichen und auf dem Nachhauseweg im U-Bahn-Schacht verlieren haben oft Kringel auf dem i, weil man sich Zeit nimmt für einen iPunkt. Es war noch nie eine Schatzkarte unter den Papieren, aber das hat dich nicht entmutigt. Du bist schnell überzeugt vom Unwert der Papierschnipsel und überlässt sie auch sogleich wieder dem Stadtbild. Und diese klitzkleine Verzögerung auf deinen Wegen, nun du nimmst sie in Kauf. Schließlich hebst du auch nicht jeden Schwachsinn auf, nur das von Menschenhand beschriebene und nur solche Papierfetzen, bei denen es irgendwie Sinn macht. Du prüfst genau und weißt sehr gut, ob es sich lohnt stehenzubleiben. Stehst du einmal, ist das Papier noch nicht in deiner Hand im nächsten Sekundenbruchteil kann entschieden sein, dass du einfach weitergehst. Oft lässt ein kleiner Stups mit dem Fuß schon sichtbar werden, was es zu lesen gibt. Vielleicht aber auch bückst du dich. Falls Wind weht ist deine Hand schnell im Einsatz. Aber die meisten erweisen sich nach dem ersten Blick schon als nicht vielversprechend.
Ganz wenige werden also tatsächlich aufgehoben und von diesen werden alle sogleich wieder falengelassen. Denn was auf ihnen steht willst du nicht haben. Manchmal wenn du Eile bist, hebst du gar nichts auf. Aber dein Blick ist immer suchend und oft schon glaubtest du, dir sei eine Botschaft entgangen.Wie damals, du erinnerst dich vielleicht, als du zu der Theateraufführung eilen musstest. Schnellen Schrittes überquertest du den Stadtplatz, der sehr weitläufig ist und du sahst da ein Stück Papier vom Taubenschiss beschwert liegen. Es hätte eine große Kurve, ab vom kürzesten Weg, gebraucht um dich vergeswissern zu können, ob das Papier wert ist besehen zu werden. In diesem Fall bist du der Sache nicht nachgegangen, aber wirklich unruhig hat dich das gemacht. Auf dem Rückweg war das nicht mehr nachzuholen. All der Müll ist in Bewegung und er wartet nicht.
Nun, ja die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass gerade dieser Zettel dir das gebracht hätte, worauf du hoffst. Aber wie willst du sicher sein? Ähnlich reuevoll waren früher einige Wege in Begleitung. Ein Mann deiner Position zeigt sich nicht als jemand den interessiert was andere wegwerfen. Aber was wenn sich unter all den gedankenlosen Aufzeichnungen einmal eine hervortut, die dir Auskunft gibt. Es ist möglich. Faulheit oder Geltungsdrang können diese Chance doch nicht auslöschen.
Durch immer weniger siehst Du dich eingeschränkt deiner Suche nachzugehen. Und du bist hektischer geworden. Ich sehe, dass du nicht mehr schmunzelst, nachdem du mit glänzenden Augen von einer Einkaufsliste eine Offenbarung erwartet hattest und enttäuscht wurdest. Bitter ist dein Blick. Was früher noch dein albernes lustvolles Laster war, ist jetzt eine harte Jagd. Immer wenn du wieder einen Zettel in der Hand hältst ist dir klar, wie aussichtslos das alles ist und du sagst dir, dass du dich nie wieder diesen Papiermist widmen wirst, aber dann kommt ein Zettel und besonders wenn er ganz zusammengeknüllt ist, weckt er wieder alle Hoffnung in dir auf die verborgene Botschaft an dich, so dass du ihn also wieder an dich nimmst.
Mein lieber Freund, ich will dich waren, da ich merke, dass dein Vertrauen in deinen Blick schwindet. Du hast Angst zu übersehen, du hast Angst falsch zu entscheiden, dein Unmut wird zur Gier und ich will dich davor bewahren, dass du bald schon aus jedem verrotzten Tempo dein Leben zu ziehen trachtest.
Was hoffst Du zu finden? Was suchst du da eigentlich?
[Beitrag editiert von: ingrid.scheruebl am 14.02.2002 um 16:08]