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Abiturfeier

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10.11.2001
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Abiturfeier

1

In einer mäßig großen Stadt am Rande des Bergischen Landes steht ein Gymnasium, das den Humanisten Nikolaus Cusanus in seinem Namen trägt. Es ist in einem Bau untergebracht, der zur Zeit seiner Entstehung ein progressives Wagnis war und (wie man den Schülern einzuprägen nicht müde wird) mit seiner allseitigen Ausrichtung ein Symbol geistiger Offenheit sein sollte. Wenn man allerdings die Ebene kühler, geistig-abstrakter Betrachtung verlässt und das Gebäude rein auf das Gemüt wirken lässt und schlichtweg nach den Kriterien der Schönheit und Behaglichkeit urteilt, so wird man wenig vorteilhaftes daran finden. Doch darum soll es hier nicht gehen. Festzustellen ist zunächst nur dies, dass das Nikolaus Cusanus Gymnasium eine Schule ist, die ich neun Jahre lang besuchte, und anzumerken, dass mein letzter Schultag nunmehr vier Jahre zurück liegt.
Vor einigen Stunden wurde in der Aula eben dieser Schule der jüngste Abiturjahrgang gefeiert, und da mein Bruder zu den glücklichen Abgängern zählt, nahm ich an der festlichen Veranstaltung zuschauend teil. Es machte mich zeitweilig traurig. Und dennoch will mir scheinen, als läge ein gewisser Wert darin, wieder einmal aufgerüttelt worden zu sein, den dämpfenden Staub meines Einsiedler- und Dichterdaseins von den Augen und den Ohren, von der Seele hinfort geblasen bekommen zu haben und gezwungen worden zu sein, hell in Leben und Lebendigkeit hineinzuhören – mit der anderen, bisweilen drückend überlegenen, bisweilen lächerlich nichtigen Seite des Daseins in schmerzlichen Kontakt getreten zu sein und nebenher verräterische Einblicke in meine eigene Geschichte getan zu haben.
Ich unterhielt mich mit einem Klassenkameraden, ich sah mit erhitzten, überreizten und überforderten Sinnen einem bunten, lauten, lebensfrohen Bühnentreiben zu, sah mein eigen Fleisch und Blut, den Bruder, sich mit innig vertrautem Ungeschick und ganz offenbarem Unwohlsein gebärden, sah und hörte die Muse vieler meiner Hervorbringungen Klavier spielen – in etwa dies geschah an dem vergangenen Abend, nicht mehr und nicht weniger, und von nichts mehr oder weniger werde ich berichten.

2

Es mischte sich an jenem lauen Frühsommerabend unter die Schar festlich gestimmter und festlich gekleideter Eltern, Geschwister und sonstiger Angehöriger ein Einzelner, ein dem äußeren Ansehen nach nichts weniger als festlich Gestimmter, jemand, von dem man sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was ihn hierher, zu dieser frohen, feierlichen Festlichkeit getrieben haben mochte; und er selbst würde hierüber ja keine eindeutige Rechenschaft abgelegt haben können: gewiss, sein Bruder zählte zu denjenigen, die heute Abend nach bestandenem Abitur gefeiert werden würden – aber war dies ein hinreichender Grund für sein hiesiges Erscheinen? Es war der konkrete Anlass – der Grund im eigentlichen Sinne war es nicht. Worin bestand dieser? Allerlei Unbestimmtes, sich wechselseitig Überschneidendes und Überlagerndes war es gewesen, das ihn, den wir im Folgenden Daniel nennen wollen, bewogen hatte, seine Einsiedelei zu verlassen, und nur das wenigste davon hat jenen Grad der Bewusstheit, dass wir es formulieren könnten. So wollte er zurückblicken auf die eigene Vergangenheit, wollte untersuchen, inwieweit er von den vier Jahren, die seit seinem eigenen Schulabschluss verflossen waren, gezeitigt, ob er womöglich reifer geworden war, welche Wirkungen seine vierjährige Klausur an seiner Seele hervorgerufen hatte – sich selbst, den Gegenwärtigen, wollte er an dem Vergangenen, dem Schüler von einst, messen; auch war es ihm ein Bedürfnis zu sehen, wie ihm das lange nicht mehr geübte Mischen unter eine große, fröhlich-gesellige Menschenmasse bekommen würde; dann allerdings war da noch ein weiteres Bedürfnis vorhanden, das man nicht zu gering schätzen darf, das man gar nicht überschätzen kann: denn es würde Klavier gespielt werden, und die Ausführende würde eine Abiturientin sein, mit der er vor etlichen Jahren auf seltsamste Weise zusammengetroffen war; ihr Name war Anna, und sie war ihm zu einem sehr ungewissen, dabei aber sehr folgeschweren Sinnbild geworden...
Dies waren die Gründe, die man einigermaßen identifizieren kann; unidentifizierbar hingegen sind all die tausend heimlichen Gründe, Ursachen und Mechanismen, die an seinem Entschluss mitgewirkt haben mochten, selbstzerstörerische Tendenzen, die Sehnsucht nach der Herde und all dieses unterschwellig Wirksame. Darüber müssen wir uns ausschweigen. Das kann nicht unsere Sache sein – wir sind Dichter, und nicht Götter.

3

Die hinterste Reihe war es, in der Daniel Platz nahm. Das war seinem Wesen ganz naturgemäß. Ihm kam entgegen, dass die Aula in einem dämmrigen Dunkel lag, denn er befürchtete enervierende Begegnungen mit ehemaligen Lehrern. Seinen derzeitigen Lebensweg darzulegen, fehlte ihm nicht das Rückgrat, sondern es fehlten ihm schlichtweg die Nerven – und nicht auch ein wenig die Worte? Wie war denn seine Lage einem Außenstehenden darzustellen, wenn der Darsteller selbst in dieser Hinsicht von einem unbewussten Dunkel umfangen war? Es hätte eines sensibel komplizierten, raffiniert aufgebauten und durchgeführten Romanes bedurft, um in dieses Dunkel ein wenig Licht zu bringen; und richtig, diese Notwendigkeit eines klärenden Romanes war es, die ihm unter den Nägeln brannte, sie war die Triebfeder der letzten Jahre gewesen. Mancher Versuch war ja auch bereits gestartet worden - zu einem befriedigenden Ergebnis hatte noch keiner geführt. Und dennoch spürte er in unwiderlegbarer Deutlichkeit, dass diese Angelegenheit, dieses dichterische Aufklären, mühsame Selbst-Erkennen und noch viel mühsamere Rechtfertigen bei ihm jenes Seltsame war, das bei den anderen Menschen Beruf genannt wurde. Nein, er würde nichts bestimmtes geäußert haben können, wenn ein ehemaliger Lehrer ihn angetroffen und über seine gegenwärtige Tätigkeit ausgefragt hätte – außer vielleicht dies Merkwürdige: „Ich dilettiere ein wenig...“
Da saß er jedenfalls im Dunkel der letzten Reihe, sah zu, wie sich die murmelnde Aula immer mehr füllte, sah besorgt, wie sich die Menge bedrohlich der letzten Reihe näherte und musste schließlich einsehen, dass die Hoffnung, die letzte Reihe ganz allein für sich zu haben, die törichte Illusion eines Einsiedlers gewesen war. Würden die Plätze links und rechst wenigstens frei bleiben? Dies war etwas durchaus mögliches, und in der Tat, bis kurz vor dem Beginn des eigentlichen Programmes blieb ihm die kleine Schneise links und rechts erhalten – da geschah aber dies, dass sein Name gerufen wurde... ein Klassenkamerad von einst, stattlich gereift und in seiner feierlichen Gewandung kaum wiederzuerkennen, nahm sich die Freiheit, den Platz neben ihm zu besetzen. Man begrüßte höflich einander, und es dauerte nicht lange, da wurde ganz folgerichtig gefragt: was man derzeit so mache? Der Stattliche, ernstzunehmend Gereifte studierte Maschienenbau... Und er, Daniel? Womit verbrachte er seine Tage? Er habe die letzten Jahre, wenn er ehrlich sein solle, ziemlich nutzlos verstreichen lassen, sei als Student zwar eingeschrieben, nicht aber als ein solcher tätig gewesen...
„Hast das Studentenleben genossen, stimmt´s?“ lachte mit Bassstimme der Stattliche. „Ja“, lachte der andere, so könne man es wohl nennen. Übelkeit stieg in ihm auf. Wie dankbar war er, dass in diesem Moment das Programm begann.

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Das Schulorchester, gelenkt von Herrn Zinzius, Daniels ehemaligem Geschichtslehrer, spielte ein beschwingtes Stück zeitgenössischer Musik, das im Programmheft als „Grooving hard“ gekennzeichnet war... Die Leute gaben sich hin, dachten sich nichts weiter dabei und spendeten reichlichen Beifall. Was hätte man sich auch weiter dabei denken sollen? Es war Programmpunkt Nummer Eins; man ließ sich von ihm unterhalten und harrte dann der weiteren Programmpunkte, harrte vor allem der Zeugnisvergabe. In ihm allerdings, in Daniel, gingen die Gedanken ganz andere, ganz unübliche Wege: Bilder stiegen in ihm auf, die ihm fremd waren und die er neidete. Er sah das Schulorchester auf Gastspielreise im Ausland, sah sie als eine eng verbundene Gemeinschaft auftreten und anschließend im Hotel ausgelassen feiern. Sie verbrachten sinnvoll ihre Freizeit, widmeten sich der Musik und dem Orchester, waren eingebunden in etwas... Im Hotel ging es hoch her, und später würde man sich mit lachenden Tränen diese und jene Anekdote erzählen, würde sich erinnern, wie der Schlagzeuger im Alkoholrausch seinen Schlüssel verloren habe und über den Balkon geklettert sei, wie man ein nächtliches Bad im Hotelpool unternommen hätte, wie sich die anderen Hotelgäste am nächsten Morgen beschwert hätten – all das! All das, und viel bildreicher, intensiver und hässlich neidvoller, als wir es hier wiedergeben können, zog an Daniels innerem Auge vorüber, während man vorne ganz unbedarft „Grooving hard“ spielte; es zog vorüber und war wie eine bittere Mahnung an Versäumtes: wie ein einziges, großes Versäumnis – so kam ihm in diesem Moment seine ganze Jugend vor.
So begann für Daniel das Programm, so wurde seine Seele bereits ganz zu Anfang in moll gestimmt, das war die Tonart, in der ihm alles folgende nun erklingen würde.
Ein kritisch-scherzhaftes Stück von Brecht über den Berufsstand der Lehrer folgte, gestenreich und mit vollen, geübten Stimmen vorgetragen von zwei jungen Frauen, die so furchtbar lebendig und unverwüstlich extrovertiert wirkten... Da ahnte man kein zweites Gesicht, keine dunkle Tiefe hinter der hellen Mimik, alles war so zweifellos, so unverdächtig direkt und voll sprudelnder Vitalität. Daniel in der letzten Reihe war sprachlos, umfasste verkrampft die Lehne seines Sitzes und war ganz gebannt von den Eindrücken, die da auf ihn einprasselten und die er nicht gleich verarbeiten konnte. Er war ja so ein langsamer, lahm-nachdenlicher Geist, und das, was da vorne vorgetragen wurde, war so spritzig und voller lebendigem Esprit, voll spontaner Augenblicklichkeit, Gegenwärtigkeit, Jetztheit! Voller Mut war es auch, sich dem Publikum so nackt zu stellen! Man war begeistert und klatschte laut und ehrlich. Auch Daniel klatschte, weniger laut, weniger ehrlich.
Dann wurden die ersten Zeugnisse verteilt. Die Bühne war voller Leben; glänzende Kostüme, vorteilhaft maskulinisierende Anzüge, feierliche Reden, großer Jubel, pathetische, fanfarenhafte Musik; Umarmungen, Tränen des Glücks und auch der Trauer, nun auseinander zu gehen; stolze, teilweise feuchte Eltern- und Großelternblicke; hier und da ein kleiner Bruder, eine kleine Schwester, in deren Augen man Langeweile und Unverständnis sah.
Daniel sog das alles innig auf, reckte den Hals und wollte alles genau sehen. Diese verflucht herrliche Welt, die ihm so unsäglich fremdartig war und die ihn doch so bannte! Diese Ergriffenheit der Menschen da, diese Gefühle, die sie dort bezeugten, ehrliche, innige Gefühle, wie man ganz eindeutig sah! Er konnte es nicht begreifen, konnte es nicht nachvollziehen, war wie die kleinen Brüder und Schwestern, die nicht verstanden, was an jenem vierseitigen Stück Papier so besonders war. Der Unterschied zu den kleinen Geschwistern war der, dass Daniel nicht Langeweile und Ungeduld, sondern bei aller Befremdlichkeit eine gewisse Trunkenheit empfand, eine sonderbare Lust hatte, sich an den Eindrücken zu betrinken.
Es folgte Hänsel und Gretel auf lateinisch: Haensulus Gretulaque. Des Lachens und gegenseitigen Schulter- und Schenkelklopfens war kein Ende. „Herrlich!“ rief der Stattliche neben Daniel und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite; auch Daniel lachte.

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Der nächste Kurs, die nächsten Zeugnisse. Und da stand dann auch Daniels Bruder auf der Bühne – sah und empfand nur er, Daniel die peinigende Fremdheit, die den Bruder umgab? Hob sich nur seinen Augen der Bruder von den Übrigen ab? Das angestrengte Lächeln, das die dicken Lippen in das großstirnige Gesicht zeichneten, die steifen, hilflosen Bewegungen, die ungewissen Konventionen gerecht zu werden bestrebt waren und möglichste Glätte und Unscheinbarkeit zum Ziel hatten, durch dieses künstliche Bemühen aber das gerade Gegenteil erreichten und den Bruder geradezu entlarvten, bloßstellten, exkommunizierten – all das war Daniel bekannt und innig vertraut. Diese Verstellungen, die hässliche Selbstverkrüppelungen bedeuteten, nicht mehr ausüben zu müssen, hatte er sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Es gab dort manchen Schmerz zu leiden, manchen Zweifel zu ertragen, manchen Unrat anzuhäufen und zu erbrechen, manche Todesstunde zu verbringen, aber alles, alles nahm er in Kauf, wenn nur solche Auftritte ihm erspart blieben. Der Weg seines Bruders war ein anderer, seine Seele war nach anderen Verhältnissen gemischt, und Daniel überlegte einmal mehr, welche Mischung die günstigere war, seine eigene oder die des Bruders; bislang war er es gewohnt gewesen, den Bruder – aus einer gewissen Bequemlichkeit heraus – zu beneiden, darum, dass dieser das gesellschaftliche Jenseits nicht in dem Maße kennengelernt hatte wie er selbst, darum, dass ihm keine Skrupel anzusehen waren, wenn er sich in irgendeiner Weise irgendeiner gesellschaftlichen Forderung anpasste, darum, dass ihm die Kenntnis einer anderen Welt als der bestehenden fehlte, dass ihm diese Kenntnis zumindest nicht allzu deutlich anzumerken war: so war Daniels einigermaßen eindeutiges Bild vom Bruder gewesen, und oft hatte er aus seinem kleinen, dunklen Kämmerlein dem Bruder einige höchst ungerechte, kleinlich-bösartige Bemerkungen zugerufen, wenn dieser sich anschickte, dem Ruf der „Herde“ zu folgen, eine abendliche Feier zu besuchen oder eine Hausarbeit nicht alleine, sondern zu zweit, zu dritt oder zu viert anzufertigen, nicht etwa weil zu mehreren die Arbeit einfacher von der Hand ginge, nein, sondern um die Geselligkeit zu pflegen.
Daniel tat dies gerne: Menschen in starre, meistens sehr unvorteilhafte, verhässlichende Rahmen zu zwängen und das einmal gemachte Bild dann für unumstößlich zu halten; das war seine Art, sich vor allzu viel Anteilnahme zu schützen, denn wie hätte man sonst noch geradeaus blicken können? Vor allem aber galt es ja die Konzeption der eigenen Person zu schützen und zu verteidigen, sie nicht durch Anstöße von außen zu verwirren; es galt jedes andere Konzept als das eigene zu verwerfen... Was den Bruder betraf, so zweifelte er in diesem Moment, da er ihn so unbequem auf der Bühne stehen sah, erstmals daran, ob dessen Weg tatsächlich der einfachere, ob nicht vielmehr sein eigener, dieser Dichter- und Einsiedlerweg ein weitaus bequemerer, weicherer und wärmerer, ja womöglich sogar der feigere war! Es war nur ein Gedankenspiel, ein nicht unernst gemeintes zwar, aber dennoch eines, dessen Ergebnis bereits ganz zu Beginn feststand; es war womöglich auch ein wenig Dichterpathos dabei, als er sich diese Frage, diese so grundsätzliche, ganz grundlegende Seinsfrage stellte und bildlich die Hände über dem Kopf zusammenschlug, als ruchbar wurde, dass sein Weg ein feiger sein könnte... Kurzum: er war fest überzeugt von der unumstößlichen Richtigkeit, von der unergründlich tiefen Notwendigkeit seines Weges. Tapferkeit und Feigheit, so schien es ihm, waren hier keine Kategorien; es waren moralische Begriffe, äußerlich und nachträglich angebrachte Verzierungen, unter deren Girlanden und Lampions sich nichts als das nackt Notwendige und unausweichlich Schicksalhafte verbarg; Menschen seien Automaten, pflegte Daniel zu sagen, denen nur vorherbestimmte Gedankenbewegungen möglich seien – gewiss, auch das war bequem, auch damit zog man sich gemütlich aus der Affäre; auch das konnte man Feigheit oder auch Faulheit nennen. Aber man würde mit dem Denken nie zu einem Ende kommen, würde sich lähmen und im Kreise gehen, wenn man diese Rätsel eingehend betrachten und oder gar auflösen wollte. Und so hatte sich Daniel angewohnt –oder besser: er war es gewohnt – den Kreis solcher Gedanken an einem gewissen Punkt stets zu verlassen; so entging er einem dialektischen Nihilismus, blieb schöpferisch und bewahrte sich seine Art von fast naiver Gläubigkeit.
Der Name des Bruders wurde aufgerufen, er glitt ungeschickt in den theatralischen Lichtstrahl des Scheinwerfers, empfing mit zweimal fehlgreifender Hand sein außerordentlich gutes Zeugnis, empfing eifrig nickend auch das Lob der Direktorin, und war froh, als er sich wieder in die Reihe seiner Kameraden stellen durfte. Und schließlich war auch dieser Kurs, der Lateinkurs, abgefertigt, abgetan und mit vierseitigem Papier versehen; es folgte der nächste Programmpunkt.
In diesem Bericht ist es Abschnitt Nummer Sechs.
6

Anna-Katharina, kleine Anna! Erinnerst du dich noch an den seltsamen Daniel, erinnerst du dich eurer seltsamen, je nach dem Gesichtspunkt komischen oder tragischen Begegnung? Ihr wart euch zunächst vermittelst Bleistiftkritzelei auf den hinteren Tischen des Biologieraumes begegnet, ganz unverbindlich, hattet schriftliche Plaudereien gehabt, die allmählich ausuferten und euch schließlich auf Papier ausweichen ließen, zu dessen Überbringer ihr Daniels Bruder, deinen Klassenkameraden erkort... Daniel erfuhr von deinen pianistischen Ambitionen und wurde vor allem durch dieses Bild der klavierspielenden Anna süßlich aufgeregt, denn eine Frau, die sich eindringlich mit Musik beschäftigte, schien ihm die Erlösung schlechthin zu sein, Erlösung von allen, allen Erdensorgen, schien ihm der heilige Gral, aus dem zu trinken, den sanft zu berühren unsterblich machen würde; du warst angetan von dem Reichtum seiner Seele, von seiner Empfindsamkeit, wurdest angezogen von der Vorstellung, das es dort jemanden gebe, der dich und deine Zweifel aus dem Innersten heraus verstehe – denn im Alter des beginnenden Zweifels standest du ja gerade, auf jener Stufe, von der aus sich die Lebenstreppe zu teilen beginnt und, freilich sehr grob gesprochen, in die Kreisläufe der Gemeinschaft oder aber zur Einsamkeit der Seele führt. Du schwanktest, wie ja auch Daniel in deinem Alter geschwankt hatte, und sein pathetisches, eifriges, süßes Projekt war es, dich an sein Ufer hinüberzuziehen, sein Traum war es, nicht mehr einsam zu sein, an jenem jenseitigen, stillen Ufer zu zweit ein kleines, wohnliches, warmes Heim aufzubauen, dir beim Klavierspiel zuzuhören und selber der Dichterei zu obliegen, fern jedem äußeren Zwang, fern jeder nackten äußerlichen Notwendigkeit, fern gesellschaftlicher Gemeinheit... Er hat dich überfordert, so viel ist gewiss; er hat über dich hinweggesehen und eine zweite, größere, feinere Anna erschaffen, die Künstlerin, die du nicht warst, die Heilige, die du nicht sein konntest, die niemand sein kann. Und eben darum war eure Begegnung eine so seltsam komische, weil hier die handfeste Wirklichkeit mit einer ganz abstrus träumerischen Idealität zusammenprallte; Daniel hatte brieflich eine Fahrradfahrt vorgeschlagen.
Es war ein heißer Tag inmitten eines brennenden Hochsommers, als sie losfuhren, und Daniel hatte nicht bedacht, dass die Strecke, die er gewählt hatte, wohl seiner eigenen Kondition, nicht aber der Annas entsprach, so dass seine Begleiterin bereits auf der Hälfte des Weges einen hochroten Kopf und einen keuchenden Atem hatte; man rastete in Altenberg, unterhalb des großen Domes, den Daniel so oft schon alleine betreten hatte, trank koffeinhaltige Limonade und pflog ein Gespräch, das allmählich durchaus wärmer zu werden versprach, wenngleich es auch nach wie vor in krassem Gegensatz stand zu den Verheißungen, die Daniels süße Träume ihm vorgespiegelt hatten; in diesen Träumen hatte ein Klavier in einem glasklaren, kühlen Fluss gestanden und Anna hatte, gekleidet ganz in blendendes Weiß, stumm gespielt; kurzum, man hatte nicht gesprochen, sondern sich stumm verstanden. Nun redete man davon, dass Anna eigentlich nicht Fahrradfahren dürfe, da die Gefahr groß sei, Verletzungen an den wertvollen Händen zu erleiden.
Da geschah dies, dass ein ungewöhnliches, fatales Geräusch die Aufmerksamkeit nicht nur Daniels und Annas, sondern sämtlicher auf der Terrasse des Cafés Versammelter auf sich zog: es war ein Pfeifen, das hell und durchdringend begann, auf der Tonleiter dann nach und nach herabschritt und schließlich nur noch ein müdes, dunkles Keuchen war; man verstand zunächst nicht, was das gewesen sei; nur allmählich ward klar, dass der Vorderreifen an Daniels Fahrrad aus unerfindlichen Gründen und ganz unvermittelt sämtliche Luft verloren hatte. Es sei die Hitze – ließ ein in die Gesetze der Physik offenbar eingeweihter Gast vernehmen – die den Reifen ausgedehnt und letztlich habe platzen lassen. Daniel lächelte, untersuchte hilflos den schlaffen Reifen und setzte sich wieder zu Anna, indem er betont nachlässig versicherte, dass es nicht das Schlimmste sei und er das Fahrrad durchaus noch nach Hause zu bewegen fähig sei. Anna lächelte gleichermaßen verständig und verständnislos, und sie redeten weiter über die allerlei mechanisch-physischen Gefahren, die Annas wertvollen Händen und damit ihrer Klavierspielerei drohten: gewiss, Daniel hätte lieber die Gefahren seelischer Natur besprochen, denn dies war ein Gebiet, auf dem er bereits allerlei Erfahrungen angesammelt hatte.
Der Rückweg war für Daniel ein qualvolles Unternehmen: es galt, das schier manövrierunfähige Fahrzeug gleichsam durch einen klebrigen Sumpf zu steuern und sich zugleich gegenüber der Begleiterin nichts anmerken zu lassen. „Es geht schon“, wurde er nicht müde zu betonen. Gegen Ende der Fahrt war seine Erschöpfung derart, dass er an einer grünen Ampel anhielt und erst von Anna an die Bedeutung der Farbe Grün erinnert werden musste, dass sie nämlich das legale Überqueren der Straße gestatte. Daniel lachte. Und quälte sich weiter. Kurz war der Abschied vor Annas Haus; man müsse sich noch einmal treffen, lautete die beiderseits betonungslos vorgetragene Phrase. Es folgten in den Wochen darauf einige halbherzige Briefe, bis dass in stiller Übereinkunft das eigenartige Verhältnis aufgekündigt wurde.
Daniel hatte das Erlebnis zu einer Novelle ausarten lassen, die er „Der Dichter und die Pianistin“ betitelt hatte...

Jetzt allerdings saß Anna am Klavier und begleitete eine Sängerin, von der die Moderatoren angekündigt hatten, dass sie Gesang zu studieren gedenke und einst in den großen Opernhäusern der Welt zu bewundern sein werde. In Anbetracht des halsbrecherischen Vortrages war das erstere höchst notwendig und das letztere äußerst unwahrscheinlich. Doch nicht auf die dickleibige Sängerin war Daniels Augenmerk gerichtet, sondern auf die kleine, schlanke Anna, die ihre Arbeit in gewohnter Perfektion verrichtete, nicht einmal des Notenblattes bedurfte, sondern in aller Ruhe der Sängerin zuschaute. Spöttisch zuschaute, wie Daniel meinte und interpretierte... Hier fühlte er wieder innige Nähe und seelische Verwandtschaft mit Anna: „Nicht wahr?“ dachte er. „All diese Menschen verstehen von der Kunst gar nichts. Nur wir zwei, wir wissen was hier geschieht, wissen um die Lächerlichkeit des Ganzen...“ Dies war freilich nur seine ganz persönliche Deutung von Annas Mimik, eine Deutung auf schwankem Boden, wie man zugeben muss, denn wieder bestand die Gefahr, dass der Dichter zu sehr dichtete, anstatt die Wirklichkeit, wie sie nun einmal war, anzuerkennen; denn dann hätte er die ehrliche, unzweideutige Freundlichkeit sehen müssen, mit der sich Anna und die Sängerin am Ende des Vortrages umarmten. Ach, Daniel war ein einsamer Mensch, und hatte all die fixen, lügnerischen Gedanken eines Einsamen!
Nun war Halbzeit, die Zuschauer drängten den Ausgängen entgegen, um sich im Foyer an den bereitgestellten Erfrischungen gütlich zu tun. Daniel trennte sich flink und geschmeidig von seinem Sitznachbar, wandte sich dem Notausgang zu und stand schließlich in ungleich frischerer Luft.

7

Die Sonne hatte eben unterzugehen begonnen und nur wenige Schleierwolken waren auf einen ansonsten makellos blauen Himmel gezeichnet. Er machte sich zu Fuß auf den beinahe zweistündigen Heimweg, der ihn durch ländliches Gebiet führte, an ausgedehnten Wiesen und kleinen Bächen vorüber. Er war erfüllt von einer eigenartigen Empfindung, die sich aus sanfter Traurigkeit und leisem Glück zusammensetzte, es war eine warme Melancholie, ein angenehm weinerliches Selbstmitleid und zugleich ein hingebungsvolles Einverstandensein mit dem eigenen Schicksal, diesem ewig einsamen, immer verdächtigen, nie selbstverständlichen, nie bestätigten und sanktionierten, nie ganz bewussten und deutlichen, auf das er aber immer, mal ganz heimlich, mal ganz offen in gewisser Weise – stolz war.
Er war anders angelegt; er war nicht wie jene vitalen, unverwüstlichen Schauspielerinnen; er würde sich niemals auf eine Bühne stellen und niemals in ein Orchester einfügen können; nie würde er ein Studium planmäßig durchlaufen, nie einen Beruf haben, nie etwas Solides auf die Beine stellen. Alle Bemühungen, einer wie jene zu werden, waren sinnlos und einer wie jene zu werden, das war nicht sein Schicksal. Sein Schicksal war es, er selbst zu sein, er selbst mit all seinen Fragwürdigkeiten, und sich niemals aus dem Weg gehen zu können. Es war ein gutes, ein würdiges Schicksal. Jedes Schicksal war gut und würdig, auch das der vitalen Schauspielerinnen, auch das des stattlichen Maschienenbaustudenten, auch das des großstirnigen Bruders.
Daniel liebte in dieser Stunde sein Schicksal, dieses gute und würdige. Und der stille, weiße Mond, der bald am Himmel stand, schien ihm stumm und freundlich zuzustimmen.

[Beitrag editiert von: chrysanth am 01.12.2001 um 21:20]

 

Hi chrysanth.

Deine Geschichte ist LANG! Ich hab sie nicht ganz gelesen, dazu waren mir zu wenig Absätze drin. An den Stellen, die ich gelesen hab ist aber auch nicht viel passiert.

Sich darauf zu beschränken, die Gefühlswelt des Protagonisten zu beschreiben, ist okay, auch wenn wenig passiert. Aber dann muß in diesen Gefühlen eben etwas liegen, dass den potentiellen Leser zum Leser macht.

Das hab ich so'n bißchen vermisst. Vielleicht besinnst du dich auf das Gefühl, das du hattest, und versuchst nochmal, es rüberzubringen, mit einer weniger detailierten Beschreibung der Abifeier.

Das klingt jetzt alles so negativ, so isses gar nicht gemeint... Nimm's locker ;-)

 

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