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Abschied
Der Anruf riß mich aus der Arbeit. „Herr Mengler, ihrem Vater geht es sehr schlecht. Wir befürchten, daß er die Nacht nicht überleben wird“. „Ich werde sofort kommen!“. Es ist Stunden her, seit ich das gesagt habe. Ich sitze immer noch an meinem Schreibtisch, zwischen den Papieren. Es war nicht überraschend, daß der Anruf kommt. Vater ist schon lange krank. Seit Wochen liegt er im Krankenhaus und uns allen war klar, daß er diesmal nicht wieder nach Hause kommen wird. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Anruf kommt. Er hat mich überrascht.
Ich betrachte die Uhr, die auf meinem Schreibtisch steht. Der Sekundenzeiger schiebt sicht unaufhaltsam vorwärts. Tick Tack. Zwei Sekunden vorbei. Tick Tack. Wieder zwei Sekunden vorbei. Wie viel Zeit hat Vater noch? Wie viel Zeit habe ich noch? Ich schließe die Akte, die vor mir liegt. Zeit für was?
Was sagt man einem Menschen in seinen letzten Stunden? Was soll ich Vater sagen? „Mach’s gut!“ oder „Tschüß“? Es werden Worte sein, die Vater auf seine letzte Reise mitnimmt. Soll er ein „Tschüß“ mitnehmen? Oder sind ein paar aufmunternde Worte angebrachter: „Wird schon nicht so schlimm sein, was Dich da erwartet, wo Du jetzt hingehst“? Soll ich ihm die Hand zum Abschied schütteln? Ich kann die Geräusche des Sekundenzeigers nicht länger ertragen, ich nehme meine Jacke und laufe los.
Vater liegt genauso da, wie in den letzten Wochen. Sein Zimmer riecht immer noch nach frischer Bettwäsche und einem Hauch von Sterilität. Alles ist wie bei meinen vorigen Besuchen, nur diesmal dreht sich sein Kopf nicht zur Tür, als ich reinkomme. Seine Augen blicken starr an die Decke. Vor seinem Bett sitzt eine Frau. Es dauert eine Weile, bis ich Schwester Barbara erkenne. Ich habe sie nicht oft gesehen. Schwester Barbara liest meinem Vater aus der Bibel vor. „Ich ermahne euch aber, Brüder, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn: Seid alle einmütig und duldet keine Spaltungen unter euch.“ Vater liegt nur da, ich bin mir nicht sicher, wie viel er mitbekommt. Hält ihn der Tod schon so fest umklammert, daß er ihm jede Wahrnehmung abschnürt? Oder ist sein Kopf noch so wach, wie er Vaters ganzes Leben wach war? Ich sehe es seinem Körper nicht an.
„Ich danke Gott, dass ich niemand von euch getauft habe, außer Krispus und Gaius.“ Krispus und Gaius. Taufe. Vater war nie religiös. Er hat sich über Religion immer lustig gemacht, er hat sie verachtet. Und jetzt liegt er hier und muß sich Bibelzitate anhören. In seinen letzten Stunden liegt er hier, er kann nicht weg und da ist jemand, der ihn mit Bibelzitaten malträtiert. Vielleicht schreit es in ihm „Hör auf damit! Ich will diesen Unsinn nicht hören. Ich liege im Sterben und ihr habt nichts besseres zu tun, als mich mit Bibelzitaten zu quälen?!“.
Viel zu ruppig reiße ich Schwester Barbara das Buch weg. „Er konnte mit Religion nie viel anfangen“ quittiere ich ihren fragenden Blick. Sanft nimmt sie das Buch aus meiner Hand. „Wir haben in den letzten Wochen viel über Gott gesprochen. Wenn die Zeit da war, habe ich ihrem Vater viel aus der Bibel vorgelesen. Dieser Vers hier liegt ihm besonders am Herzen.“
Schwester Barbara schlägt das Buch wieder auf und liest den Absatz fertig. Vorsichtig steht sie auf und streicht Vater zärtlich über den Arm, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. „Sie wollen jetzt bestimmt mit ihm alleine sein.“ „Nein“, möchte ich schreien, stattdessen nicke ich stumm.
Ich setze mich, schaue auf Vaters eingefallenen Körper. Er ist noch dünner geworden als bei meinem letzten Besuch vor sechs Wochen. Seine Haut ist fahl. Sie sieht ganz durchsichtig aus. So als könnte man die Knochen darunter sehen. Sein Körper hat nichts mehr mit den kräftigen Mann zu tun, der er sein Leben lang war. Ich kann es mir kaum mehr vorstellen, wie mir dieser Körper gegenüber stand und mich aufforderte, daß Haus zu verlassen. „Geh jetzt und glaub nicht, daß Du wieder kommen kannst.“ Jetzt liegt er hier. Vater liegt hier. Tick tack. Zwei Sekunden. Tick tack, wieder zwei Sekunden. Wieviel mal zwei Sekunden hat er noch? Ich strecke meine Hand aus, ziehe sie gleich darauf zurück. Was, wenn er nicht will, daß ich ihn berühre? Er kann es nicht sagen, er kann es nicht zeigen. Er soll seine letzten Stunden nicht damit verbringen, daß sein Sohn ihn dazu nötigt, seine Hand auf seinem Arm zu spüren. Vielleicht ist ihm meine Anwesenheit schon zu viel. Vielleicht hofft er einfach nur, daß ich gehe, daß Schwester Barbara wieder reinkommt, mit der Bibel in der Hand.
Ich stehe auf und beuge mich über ihn, ich versuche seinen Blick zu finden, der immer noch starr an die Decke gerichtet ist. Ich sehe in die Augen, die ich mein Leben lang nicht verstanden habe. Sein Blick ist leer, aber ich meine etwas in seinen Augen entdecken zu können. Ist es ein unkontrolliertes Zucken der Pupille? Oder ist da was? Sieht er mich an, erkennt er mich? Weicht die Ausdruckslosigkeit seiner Augen für etwas oder bilde ich mir das ein?
Ich fasse nach seiner Hand. Ich muß nach seiner Hand fassen, will sie drücken und muß so sehr aufpassen, daß ich sie nicht zu fest drücke. Sie zerdrücke. Die zerbrechliche Hand meines Vaters. Vater. Ich. Vater und ich. Ich muß nichts sagen, ich weiß, daß ich nichts sagen muß.