- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Abschied
Abschied
Freitags um elf Uhr dreißig klingelte mein Telefon.
„Guten Tag, hier Schwester Ruth, Kantonsspital Chur, sind Sie Frau Ursula Waelti?“, hörte ich am andern Ende und wusste schon, was nun kommen würde.
„Frau Waelti, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater vor wenigen Minuten gestorben ist. Es war für uns alle hier sehr überraschend gekommen, wir dachten, es würde noch ein paar Tage dauern. Aber man weiß es halt nie genau. Auf jeden Fall mein aufrichtiges Beileid Ihnen und Ihrer Familie. Kommen Sie heute im Laufe des Tages doch mal vorbei, es gibt da noch ein paar Formalitäten zu erledigen. Bis später also.“
So erfuhr ich vom Tod meines Vaters. Geschieht dir recht, du alter Drecksack, dachte ich bei mir, und war irgendwie erleichtert, andrerseits graute mir aber auch vor dem, was nun alles auf mich zukommen würde. Die Bestattung musste organisiert werden, danach dann der ganze Papierkram, die Behördengänge, die Erbschaftsangelegenheiten, seine Wohnung räumen und und und...
Wir drei Kinder hatten uns untereinander abgesprochen, wer welche Zuständigkeiten übernehmen würde. So übernahm ich die ganze Organisation rund um die Bestattung und die Hinterlassenschaft, da ich berufliche Erfahrung aus einer Anwaltskanzlei mitbrachte und zudem in der Nähe wohnte.
Gegen vierzehn Uhr ging ich ins Spital. Er hatte im dritten Stock gelegen, das Zimmer mit einem anderen Moribunden geteilt, der unaufhörlich so entsetzlich laut vor sich hinröchelte, dass man sofort dachte, nicht nur seine letzte Stunde, sondern seine letzte Minute habe geschlagen. Dem war aber nicht so. Es ist erstaunlich, mit welch zäher Energie viele Todgeweihte sich am Leben festklammern. So kann das Tage und Wochen dauern, bis sie endlich den Löffel abgeben. Jedes Mal, wenn ich meinen an Krebs erkrankten Vater im Spital besucht hatte, war ich schockiert über seinen Bettnachbarn. Seit Tagen lag der nun auf dem Rücken, scheinbar bewusstlos, gab lediglich dies grässliche laute Rasseln beim Atmen von sich, das jede Unterhaltung nicht nur störte, sondern verunmöglichte. Auch dieser Mann im Endstadium des Krebses, auch er nur noch am Leben dank all den lebenserhaltenden Maßnahmen, diesen Plastikschläuchen, die den geschundenen Körper mit nötigem Sauerstoff und künstlicher Nahrung versorgten und nicht zuletzt dank der unermüdlichen, aufopfernden Pflege des Personals rund um die Uhr.
Ich persönlich hatte nicht den Eindruck, es hier mit einem Menschen tun zu haben, sondern eher mit einer seltsamen, Geräusche produzierenden Maschine, die nicht abzustellen mich ständig Kraft und Überwindung kostete. Darum widert mich die Diskussion um das Thema Euthanasie so an mit ihren Gegnern, all diesen Moral und Ethik Vertretern mit ihrem salbungsvollen Gelaber von der Würde des Menschen, dem Recht auf Leben, die in Wahrheit keine Ahnung vom Leben haben, denn das neben meinem Vater war mit Sicherheit kein würdevolles Leben. Jedes Tier in einer vergleichbaren Situation würden diese Leute voller Mitgefühl, ohne einen Moment zu zögern, von seinem unnötigen Leiden erlösen. Was für eine Heuchelei.
Ich begab mich ins Stationszimmer und erkundigte mich nach meinem Vater.
Eine Schwester führte mich zu ihm. Sie hatten ihn mittlerweile in einen anderen, von oben bis unten weiss gekachelten Raum gebracht. Da lag er nun also, in diesem grässlichen Spitalnachthemd, vermutlich so, wie er gestorben war, jedoch befreit von all den Schläuchen, Kanülen, Klammern und Pflastern.
Man steht ja in der Regel nicht so oft vor einem Toten, vor dem eigenen Vater schon gar nicht, darum wohnt diesem Moment eine spezielle Magie inne. Beim Anblick meines Vaters fragte ich mich als erstes unwillkürlich, ob er denn tatsächlich tot sei. Hätte ich vor drei Stunden nicht erfahren, dass er gestorben ist, würde ich ihn nun hier stehend, fragte ich mich ernsthaft, als das erkennen, was er jetzt ist, nämlich als mausetot, oder würde ich ihn, ahnungslos, vielleicht im Schlaf wähnen, und mich wie bei den letzten Besuchen neben ihn setzen um schweigend einige Minuten mit ihm zu verbringen?
Ich starrte diesen leblosen, nun machtlosen Körper an, irgendwie angewidert, aber dann auch wieder fasziniert, ging langsam um ihn herum, vom Fußende mich seinem Haupt nähernd.
Die Augen waren zu, eine Schwester hatte sie ihm vermutlich mit geübter Hand geschlossen. Der Anblick von toten Augen ist nichts Schönes. Sein Mund war etwas geöffnet und irgendwie nach rechts verzerrt. Vielleicht hatte es doch noch so etwas wie einen Todeskampf gegeben. Der Tod, sagt man, ist kein einfaches Geschäft. Dem stimme ich zu.
Ich betrachtete lange sein Gesicht, die Stirn mit den vielen tiefen Falten, die lange kantige Nase, sie schien mir jetzt noch länger, den zahnlosen Mund mit dem fliehenden Kiefer, die buschigen Augenbrauen und die im Alter von neunundsiebzig Jahren immer noch vollen, ergrauten Haare. Ich legte vorsichtig meinen Handrücken auf seine Stirn, auf eine eventuelle Reaktion seinerseits wartend, absurd, aber man weiß ja nie, doch nichts passierte, dann berührte ich seine Wangen, die mir irgendwie angespannt vorkamen. Die Haut fühlte sich wächsern an, auch etwas kühl. Die Hände hatten sie ihm noch nicht auf der Brust gefaltet, das kam wohl später, wenn sie den Leichnam für die Aufbahrung herrichteten. Jetzt lagen sie noch an seiner Seite. Knochig und alt sahen sie aus. Ich musste an eine Krähe denken.
Nachdem ich meinen Vater langsam umkreist hatte, nahm ich einen Stuhl, den einzigen in diesem weißen, fensterlosen Raum, der mir wie eine Abstellkammer vorkam, was er nun ja tatsächlich auch war und setzte mich am Fußende nieder.
Das ist nun also der Moment, wo Vater und Tochter sich zum allerletzten Mal gegenüberstehen, dachte ich mir. Nie mehr wirst du die Gelegenheit haben, deinen Vater zu sehen, nie mehr.
„Von mir hast du dich nicht mehr verabschieden können, darum verabschiede ich mich nun von dir.
Zu Lebzeiten war es ja nicht möglich gewesen, mit dir ins Gespräch zu kommen, wie soll das jetzt, wo du tot bist, gehen? Ich habe ohnehin nur Fragen, viele Fragen, die ich dir stellen möchte, auf die ich gerne eine Antwort hätte.
Zu Lebzeiten konntest du lediglich befehlen, aber antworten, wirklich antworten konntest du nie. So wirst du mir auch in Erinnerung bleiben, genau so, wie ich dich nun hier sehe, als ein Vater, der eigentlich immer abwesend war, sprachlos, unnahbar und im Grunde unheimlich... „
Ich verließ dann den Raum, warf im Hinausgehen noch einen allerletzten Blick auf meinen Vater und begab mich zum Stationszimmer, wo ich ein Formular zu unterschreiben hatte. Man gab mir auch die Nummer von einem Bestattungsunternehmer, den ich zwecks Abwicklung aller nun anstehenden Aufgaben kontaktieren solle.
Die Bestattung, es sollte auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters eine Feuerbestattung sein, wurde auf den kommenden Montag festgelegt, auf genau neun Uhr fünfundvierzig, da sei noch ein Platz frei, hieß es. Im allerengsten Familienkreis, kein Pfarrer, kein Gottesdienst, keine Musik, keine Blumen, keine Feierlichkeiten, die schlichteste Version also. Der Bestattungsunternehmer war sichtlich verwirrt, als es um die Planung dieser letzten Angelegenheit ging. Aber wozu denn das ganze Theater, wozu unnötig Unsummen von Geld ausgeben für ein, wie man sagt, würdevolles Begräbnis? Ich hatte mich für die ultralight Fassung entschieden.
Kosten inklusiv Urne, graviertem Urnenstein und Platzgebühren für die nächsten fünfzehn Jahre genau tauseneinhundertsiebenundfünzig Schweizerfranken.
Mein Mann wollte nicht kommen, ich wusste das schon, er blieb lieber zuhause mit unseren zwei kleinen Kindern.
„Mit deinem Vater wollte ich nie etwas zu tun haben, es wäre eine Heuchelei meinerseits, wenn ich da hinginge. Grüss deine Brüder von mir!“ , sagte er beim Abschied an der Türe.
„Okay, pass auf die Kleinen auf, gell? Ich bin dann gegen elf Uhr wieder zurück“, sagte ich und küsste ihn auf den Mund.
Ich war fünf Minuten vorher dort, das Ganze fand in einer Art Kapelle statt. Der Leichnam in einem Sarg am Ende des Raums, davor mehrere Stuhlreihen, schätzungsweise fünfzig Stühle. Wir benötigten lediglich vier.
Meine Mutter und meine zwei Brüder traten gleichzeitig ein. Ich küsste meine Mutter auf die Wangen, dann umarmte ich meine zwei Brüder.
Wir setzten uns auf die Holzstühle, zu viert allein in diesem viel zu großen Raum, vor uns der Sarg mit dem Toten.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort so verharrten, doch einmal schaute ich nach links und sah, dass meiner Mutter Tränen über die Wangen liefen. Mein um ein Jahr jüngerer Bruder fasste sich dann irgendwann einmal ein Herz und stand auf, um diese bedrückende Situation zu beenden.
In diesem Moment, für mich völlig unerwartet, kam meine Mutter auf mich zu, schaute mir fest in die Augen und sagte in vorwurfsvollem Ton, der mich erschaudern ließ: „ Nun, Ursi, hast du dem Vater jetzt endlich verziehen?“