Abschiedslos
Erst nach dem dritten Klingeln setzte sie sich in Bewegung. Durch planlos übereinander gestapelte Umzugkartons bahnte sie sich ihren Weg zur Tür, wobei sie Acht geben musste, nicht über Weinflaschen, Plastiktüten und Kleidungsstücke zu stolpern, die verstreut auf dem Boden herumlagen.
Sie öffnete die Tür einen Spalt und lugte hindurch. Es dauerte einen Augenblick, bis sie das Gesicht des Mannes mit einer Geschichte in Verbindung brachte. Eine Geschichte, in der sie vorkam, die aber mit ihrem vorigen Leben zu tun hatte. Darin war sie Journalistin und der Mann vor ihr ein Redaktionskollege gewesen. Jochen.
Wie in Trance entriegelte sie die Vorhängekette.
„Hallo, Bettina“, sagte ihr Gegenüber verlegen. Weiter kam er nicht.
„Was willst du hier?“, schrie sie ihn förmlich an. Sie riss die Tür weiter auf und trat einen Schritt auf ihn zu.
Ihre Wangen hatten sich gerötet, und die Adern an ihrem Hals traten hervor. Ungläubig begegnete Jochen ihrem Blick, suchte ihr Gesicht auf einen Hinweis ab, der ihm Aufschluss über den Grund ihres Gefühlsausbruchs geben könnte. Er fand ihn nicht.
Bettina baute sich dicht vor ihm auf und verschränkte die Arme. Ihre Augen funkelten vor Zorn.
„Warum spionierst du mich aus?“, schleuderte sie ihm entgegen. „Sollst du herausfinden, ob ich einen Neuen habe?“ Kalte Wut stieg in ihr auf. Sie hatte sich lange genug zum Narren halten lassen. Er war ein Lügner, hatte ihr von Anfang an etwas vorgespielt. Nein, er hatte mir ihr gespielt, hatte wie ein Marionettenspieler ihre Gefühle in Bewegung gebracht, tanzen lassen, immer schneller, immer aufgeregter, immer unkontrollierter, bis sie schließlich mit schlaffen Gliedern am Boden lag, zu seinen Füßen, ihm wehrlos ausgeliefert. Nein!, hallte es ihr durch sämtliche Poren. Lass dich nicht ein zweites Mal wie ein kleines Kind hinters Licht führen. Schlimm genug, dass Max sie hatte fallen lassen, sie wortlos zurück und im Stich gelassen hatte, genau in dem Augenblick, als sie sich ihm endlich ganz öffnete. Schlimm genug, dass sie ihm nach wie vor hinterhertrauerte, ja, in ihren Gedanken sogar hinterherlief.
Bettina versteifte sich am ganzen Körper. Oh nein, dachte sie trotzig und ballte die Hände zu Fäusten. Diese Schmierenkomödie würde sie nicht mitspielen. Ganz gleich, was die beiden ausgeheckt hatten, sie würde ihnen nicht auf den Leim gehen.
„Was zahlt er dir denn dafür?“, herrschte sie Jochen an. Der stand ihr stumm und mit fragendem Ausdruck gegenüber, was Bettina nur noch mehr in Rage versetzte. Sollte er ruhig weiter den Ahnungslosen mimen. Sie jedenfalls hatte ihn entlarvt, hatte alle beide durchschaut, sah Max in diesem Augenblick förmlich vor sich, wie er sich feixend die Hände rieb, voller Freude über seinen vermeintlich genialen Schachzug, mit der er seine liebe, kleine Bettina matt setzen wollte. Aber diesen Gefallen würde sie ihm nicht erweisen. Dafür war zu viel geschehen, zu viele Tränen, zu viel Wut.
Jochens Worte schienen sich aus einer fernen Galaxie ihren Weg zu ihr zu bahnen. „Bettina, was hast du denn? Von wem sprichst du?“
„Hör auf mit dem Theater!“, unterbrach sie ihn scharf. Ihre Nasenflügel bebten. „Ich weiß, dass Max dich geschickt hat!“, stieß sie endlich hervor.
Als müsse er sich vor ihr in Sicherheit bringen, trat Jochen einen Schritt zurück. Sein anfänglicher Unglaube wich entsetzter Fassungslosigkeit.
„Max?“, wiederholte er, als wolle er sich vergewissern, auch wirklich begriffen zu haben, worauf sie hinauswollte.
„Natürlich Max, wer denn sonst?“, zischte sie. „Du brauchst dich gar nicht so dumm zu stellen.“
„Bettina, Max ist seit fast acht Monaten tot“, sagte er leise, aber eindringlich. „Er ist bei einem Dreh in Nordirak mit dem Hubschrauber abgestürzt“, fügte er schließlich hinzu. Unwillkürlich fühlte er sich in die Rolle eines Lehrers versetzt, der einem begriffstutzigen Kind das kleine Einmaleins erklären musste. Dennoch machte er weiter, denn er hatte sich fest vorgenommen, es zumindest noch einmal zu versuchen. „Niemand hat den Unfall überlebt. Man hat die Insassen nur noch mittels DNA-Proben identifizieren können.“ Er schluckte. „Es sollte sein letzter Auslandsauftrag sein, bevor er dich ... Ich meine, bevor ihr beide vorhattet ... Es tut mir so Leid, Bettina.“
Sein Tonfall beschwor ihr noch einmal den Moment hervor, als die beiden grauen Männer vor genau dieser Tür gestanden und ihr die „Nachricht“ mit einstudiertem Gehabe überbracht hatten. Jene Nachricht, die sie damals nicht geglaubt hatte und mit der sie sich auch heute nicht abspeisen lassen wollte. Erst recht nicht, wenn man einen so miesen, kleinen Taschenspielertrick mit ihr ...
Plötzlich spürte sie, wie Jochens warme Finger sich um ihre zu Fäusten geballten Hände legten. „Bettina, du gehst kaputt, wenn du es nicht akzeptierst. Du darfst dir nicht länger etwas vormachen.“
Ein Ringen der Gefühle setzte in ihr ein. Schließlich befreite sie sich mit einem Ruck von seiner Berührung. Resigniert ließ sie den Blick zu Boden sinken.
„Max hat dich geschickt“, wiederholte sie automatisch. Verbissen kämpfte sie gegen die Tränen an, die in ihr aufstiegen. „Sag ihm, es geht mir gut“, fügte sie heftig schluckend hinzu. Dann schlug sie die Wohnungstür zu und hängte die Kette wieder ein.