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Abschließend betrachtet
Als er sich umdreht und bückt, um mir einen Marsriegel aus dem Regal zu holen, stoßen seine Knochen fast durch die pergamentähnliche Haut. Er begutachtet zwei Riegel und ich starre auf die Ritze seines Hinterns.
»Einen, sagten Sie?«
»Ja«, und ich kann den Blick nicht von dieser roten Spalte abwenden, in der er anfängt, sich zu kratzen. »Nur einen einzigen.«
Er steht auf und legt mir den Riegel hin. Das Haar ist zu Dreadlocks gezwirbelt, die sich wie Blutegel an seinen Schädel saugen. Die Registrierkasse kracht und klirrt, als er den Betrag eintippt und übertönt kurz den Moderator eines Oldieradiosenders, dessen Stimme nur noch ein Knistern aus der Vergangenheit ist.
»Macht eins zwanzig.« Auf seiner Nase thront ein Pickel, der bereits Tage darauf wartet, ausgedrückt zu werden.
Ich schiebe meine Hand in die Hosentasche und hole eine Handvoll bronzefarbenes Kleingeld hervor, das ich auf den Tresen werfe.
»Mann«, sagt er und kratzt sich an seinem Hals. Weiße Schuppen schweben auf seine Schultern herab und landen auf den Münzen. »Haben Sies nicht kleiner?«
Ich ignoriere seine Frage, starre nur. Bis er anfängt, abzuzählen. Endlich wird die Stimme des tot scheinenden DJs von Musik abgelöst.
»Elvis ist geil, hm?«, fragt er und ich bin über seine Auffassungsgabe überrascht. »Since my baby left me I found a new place to dwell«, singt er einige Sekunden zu spät. Die rosa Kaugummireste lassen sich kaum von den Hautfetzen, die sich von seinen spröden Lippen abschälen, unterscheiden.
Während er weiter zählt, ziehe ich das Messer aus meiner Tasche.
»You make me so lonely baby.«
Ich wickle die mit den Initialen T. und F. bestickten Stofftaschentücher ab und klemme es mit dem Schaft zwischen meine Beine.
»Well the bell hops tears keep flowin.« Würde der Song nicht gleichzeitig im Radio laufen, hätte ich keine Ahnung, was er von sich gibt.
Weiterhin singend wirft er das abgezählte Geld in die Kasse. Ich schnäuze mich in eines der Taschentücher, es brennt in meinen Nebenhöhlen. Als ich einen Blick hinein werfe, sehe ich rot – viel zu wenig – und erinnere mich an gestern, an die Stufen, deren Kanten so spitz waren, dass sie sich wie Klingen in meinen Leib bohrten.
»Alles okay, Mann?«, fragt er mich. Er beugt sich vor und ich sehe seine verklebten, dichten Wimpern, die seine Augen fast komplett verdecken. Nur durch einen Schlitz erkenne ich das Braun der Iris, das so dunkel ist, dass ich es kaum von der Pupille zu unterscheiden kann. Ich stecke das Taschentuch weg.
»Ja, Mann«, und ziehe das Messer zwischen meinen Beinen hervor. »Jetzt schon.«
Als ich in meinem Wagen sitze fällt mir das Atmen schwer. Ich huste, schleudere tief sitzenden Schleim in meine Faust, fühle die etwas härteren Bröckchen darin wie Essensreste und beginne zu lächeln. Trotz des Stechens in meiner Brust. Trotz des Geschmackes von Blut in meinem Mund.
Bitte, der Richtige, denke ich, während der letzte Satz von Elvis erklingt.
»Just take a walk down lonely street to Heartbreak Hotel.«
***
»Mit Mayo oder Ketchup?«, fragt mich das Mädchen, das wohl zuviel seines eigenen Verkaufsgutes zu sich genommen hat.
»Beides«, antworte ich, während ich den Kragen meiner Jacke aufstelle. Der Wind pfeift um meine Ohren und meine Nase ist eiskalt. Seit einer Stunde klebt eine Gewitterfront an meinen Fersen und scheint mich jetzt endgültig eingeholt zu haben. Ich massiere meine Hüfte, die unter zehn Grad immer anfängt zu schmerzen. Noch immer habe ich mich nicht daran gewöhnen können.
»Bei solchem Wetter wünscht man sich doch einen langweiligen Bürojob, stimmts?«, sage ich. Das Mädchen hört kurz auf, Ketchup auf dem Hotdog zu verteilen und starrt mich an.
»Äh, was?« Seine Stimme zittert, und wäre sie nicht so laut, könnte man sie als schüchtern bezeichnen.
»Schon gut.«
Nachdem Geld und Hotdog den Besitzer gewechselt haben, drehe ich mich um und gehe auf die Straße zu. Ich muss meinen Blick von der Wurst abwenden, um hinein beißen zu können. Das Ketchup-Mayo-Gemisch erinnert mich an den Elvis-Jungen aus der Tanke. An sein Erbrochenes, das sich um seine Füße versammelt hatte, nachdem ich zweimal mit dem Messer nach ihm gestochen und nur einen tiefen Schnitt in den Unterarm hinterlassen hatte.
»Schönen Tag noch«, ruft mir das Mädchen hinterher und ich hebe meine Hand, ohne mich umzudrehen.
Ich beiße in meine ersehnte Henkersmahlzeit, schiebe den Gedanken an Halbverdautes, den Gedanken an sein Gehirn, das sich wie das Innere einer reifen Melone auf der Theke verteilte, beiseite, denke lieber an meine Organe, die gleich platzen werden. An meinen Schädel, den der Kühlergrill mit Hilfe des Straßenbelages wie eine Walnuss knackt. An die Majonäse, die der Fahrer irrtümlicherweise für mein Hirn hält. An meine Hand, von einem Reifen platt gedrückt, die sich noch einen letzten Augenblick ans Leben klammert.
Ich schlucke das widerliche Gemisch und trete kauend auf die Straße, überhöre absichtlich das »Hey« eines Passanten, der mit seiner pomadisierten Frisur wohl noch nie seine Grenzen erforscht hat.
Glaub nicht, dass ich das rote Männchen nicht sehe, Junge.
An dieser Kreuzung ereignen sich im Durchschnitt acht Unfälle pro Woche. Und das sind nur die, die ich mitbekomme. Meistens Zusammenstöße, ein alter Mann, der seinen Sitz falsch eingestellt hat und das Bremspedal nicht richtig durchtreten kann. Ein Fahranfänger, der viel zu oft seinen Schulterblick wiederholt und dabei vergisst, welcher Richtung er bevorzugt seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Manchmal wird ein Teenager von seinem Rad gefahren, bekommt ein Passant ein Hämatom von einem Außenspiegel.
Ich weiß das.
Nicht wenige der Nächte der letzten Monate verbrachte ich auf der einmal weißen, jetzt nur noch grauen Bank, die neben einem Geldautomaten steht, der ab und zu eine Kontokarte nur so zum Spaß einzuziehen scheint. Betrachtete den Himmel oder den Wohnblock gegenüber, in dessen ersten Stock sich ein junges Mädchen oft vorm Fenster auszieht. Verschwommen in den vielen Schatten wirkt es fast hübsch.
Warum? Weil ich nicht schlafe. Anfangs, weil ich nicht wollte, jetzt, weil ich nicht kann. Mit neunzehn war ich davon überzeugt, dass ich im Schlaf nur meine Zeit vergeuden würde. Mir vier Stunden täglich genug wären. Mit fünfundzwanzig reichten vier Stunden alle zwei Tage und heute, nur acht Jahre später, muss ich froh sein, während eines Frühstücks hin und wieder für wenige Minuten auf meinem Esstisch einzuschlafen, nur um wenig später wieder hochzuschrecken. Dann dauerte mein Schlaf lange.
Ich weiß jetzt, wie falsch ich lag. Hätte ich doch nur meine Zeit verschwendet.
Ich höre das Hupen, schlucke den widerlichen Brei, bei dem ich mir einbilde, dass er sogar wie Erbrochenes schmeckt, mit einem Grinsen und warte auf die Umarmung der Schmerzen, aus der mich der Tod befreien würde, um diese zu lange andauernde Langeweile abzulösen. Aus meinem Augenwinkel sehe ich ein Auto auf mich zukommen, höre, wie es mich anhupt. Sehe auf meine Uhr, damit wenigstens die Zeugen sich einreden können, dass dies alles ein Unfall ist. Tragisch, mehr als tragisch.
Dann nichts.
Kein Aufprall, keine Schmerzen, kein Tunnel aus meinen Erinnerungen geformt, in den ich von sanften Stimmen gelockt werde.
Der Wagen schlittert so knapp an mir vorbei, dass der Windstoß meine Haare flattern lässt, der Spiegel mir meinen Hotdog aus der Hand reißt. Die Front des Audis begräbt eine Frau unter sich, die vor wenigen Sekunden noch auf dem Bürgersteig stand und ungeduldig auf die Fußgängerampel starrte. Ein Teil ihres blonden Haarschopfs klebt an dem linken Vorderreifen. Es erinnert mich daran ein Reh zu überfahren, Fellreste sowie Fleischstücke aus dem Kühlergrill entfernt und den Kadaver in den Straßengraben wirft.
Die Menschen kreischen, übergeben sich im Angesicht eines deformierten Gesichts, von dem aufgrund des Blutes sowieso nicht viel zu erkennen ist.
Und was ist mit mir? Ich habe Glück.
Ich habe immer Glück.
***
»Der Junge hieß Wilhelm Auer.«
»Aha«, sage ich und setze die Whiskeyflasche wieder an meine Lippen. Ich habe mir fest vorgenommen, sie nach ihrer Methode zu fragen. Aber der Alkohol vernebelt meine Sinne, sowie der Abklang des Adrenalinschubs meinem Körper schlapp werden lässt.
»Nimmt dich das gar nicht mit?«
»Nein.« Nach vierzehn nicht mehr.
»Sollte es aber.«
»Ich habe nicht darum gebeten, am Leben zu bleiben.«
»Und er oder sie hat mit Sicherheit nicht darum gebeten, dich am Leben zu halten.«
Ich sehe von meiner Flasche auf und versuche Tanjas Augen unter den dicken Wimpern auszumachen. »Dich sollte es mitnehmen.«
»Was?«
»Es ist deine Schuld, nicht meine.«
»Du musst schon selbst die Verantwortung tragen, wenn du in der Gegend rum läufst und Leute umbringst.« Ihre regenwurmähnlichen Lippen bewegen sich kaum. Sie glänzen vom Speichel im Halbfinstern. Die kleine Lampe, deren Schirm nikotinvergilbt und mit dunklen Flecken übersäht ist, erzeugt mehr Schatten als Licht.
»Es ist deine Schuld.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab dir noch nie befohlen, jemanden umzubringen.«
»Aber du nennst mir immer den falschen Schutzengel.« Ich werfe den Kopf zurück und trinke solange, bis mein Hals zu brennen beginnt.
»Ich will dir nur helfen. Ich habe mich geirrt, okay? Töte mich doch.« Sie leckt sich die Lippen und lächelt.
»Vielleicht sollte ich das.« Wir lachen beide nur, weil wir es müssen. Die Späße haben bereits an dem Tag aufgehört lustig zu sein, an dem ich das erste Mal mit dem Blut eines anderen Menschen nachhause kam.
»Alles wird gut.« Ihr Lächeln verschwindet und sie beugt sich vor, um meine Hand zu halten. »Tuts weh?«, fragt sie, der Pony verdeckt ihre Augen und ich sehe nur ihre weißen Zähne, die dünnen rosa Lippen, die immer feucht sind, die Nase, voller Aknenarben, den etwas zu dunklen Flaum, der ihre Wangen bedeckt.
»Nein. Mir wurde kein Haar gekrümmt.«
Und ihr Lächeln wirkt zu erleichtert.
***
Man hat mir erzählt, wenn man viel trinkt, wird man müde, vergisst man.
Ich trinke viel, bin hellwach und alles, was ich vergessen habe, ist, wie es sich anfühlt zu schlafen.
Heute ist Samstag, ich konnte mich aus unserer Wohnung davonstehlen, ohne dass Tanja etwas mitbekam, und neben mir sitzen fast ausschließlich Teenager. Jungs, so dünn, dass sie den Worten Gläser stemmen eine neue Bedeutung geben.
Mein Kopf schmerzt; die Stimmen, die Musik, alles schlägt wie ein Ozean über mir zusammen. Der Barkeeper nickt mir zu, er kennt mich, allerdings nur mein Gesicht. Er weiß, dass es mir schlecht geht, dass ich zwar kurz vorm Tod stehe, trotzdem noch zu weit von ihm entfernt bin. Aber meinen Namen weiß er nicht.
»Alles klar?«, sagt er und mustert mich mit diesem verschlafenen Blick, den er sich wohl aufgrund der Rauchwolke, die ständig im Raum steht, angewöhnt hat.
»Wie immer.«
Er beugt sich etwas vor. »Noch nicht aufgefallen?«, fragt er mich.
Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Das Mädchen da hinten starrt dich die ganze Zeit an.«
Ich drehe mich und sehe kein Mädchen, sondern eine Frau. Und sie starrt tatsächlich.
»Soll ich hingehen?«, fordere ich ihn heraus, denke daran, dass es bereits zwei Monate her ist, dass ich eine Frau hatte.
Seine Augen verlieren den müden Ausdruck, vergrößern sich. »Versuchs.« Und er lacht.
Ich trinke noch einmal, nur, weil es gut aussieht. Stehe auf und gehe in ihre Richtung. Es ist zu dunkel, um ihr Gesicht erkennen zu können. Sie ist groß und dünn, fast zu dünn. In einer Hand hält sie eine Flasche Bier, die andere stützt sie an einer Jukebox ab, die nur noch dafür da ist, Licht zu spenden und um darauf leere Gläser abzustellen.
»Hi«, sage ich und bemerke, dass ich meinen Blick etwas heben muss, um ihr in die braunen Augen zu sehen.
Mit jeder Minute der wenigen Stunden, die ich mit Yvonne verbringe, in denen ich sie ansehe, ich den Konturen ihres mageren Gesichtes folge, wird sie weniger hässlich. Sie redet nicht viel, als wäre ihr die raue, fast kratzige Stimme unangenehm.
Jetzt liegt ihr Haar kranzförmig um ihren Kopf verteilt. Ihr Mund ist etwas geöffnet. Der Rest ihres Make-ups klebt zusammen mit etwas Speichel auf meinem Kopfkissen.
Es ist vier Uhr morgens und das einzige Licht, das den Raum erhellt, wird durch den Mond erzeugt.
»Ich kann nicht«, flüstere ich. Sehe auf ihre unreine Haut, die im Düstern wundervoll glänzt. »Es ist nicht richtig.«
Tanjas Lachen wird zu einem Husten.
»Psst! Was ist?«, flüstere ich, kann meinen Blick jedoch nicht von Yvonne abwenden, die so hilflos vor mir liegt.
»Du bekommst ganz schön spät ein schlechtes Gewissen. Aber«, sie hustet in ihre Faust, »ich bin stolz auf dich.«
»Weil ich es für falsch halte, sie zu töten?«
»Nein, weil du sie allein gefunden hast.«
Ich sehe auf und in dieses Gesicht, von dem soviel vom Haar verdeckt wird, dass man keine Gefühle darin deuten kann.
»Wenn sie wieder die Falsche ist? Es war«, ich schlucke, »nur Zufall, dass ich sie getroffen habe.«
Tanja zuckt mit den Schultern. »Es geht um deinen Schutzengel, nicht meinen. Wieso sollte es nur mir vergönnt sein, ihn zu finden?«
»Aber … ich fühle es nicht. Glaube ich.«
»Du glaubst es nur?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber ihre Augen …«
Tanja streicht sich den Pony ein wenig aus der Stirn und zuckt mit den Schultern. »Es gibt nur eine Möglichkeit, es heraus zu finden.« Sie nimmt meine rechte Hand, öffnet mühelos die geballte Faust und legt das Messer hinein. »Tu es.«
Vorsichtig steigt sie aufs Bett, dreht Yvonne auf den Rücken und legt ihren Kopf in den Nacken. Ich sehe, wie sich die Augen unter Yvonnes Lider immer schneller bewegen, höre sie stöhnen, jetzt undeutlich, vor wenigen Stunden noch meinen Namen.
»Ich kann einfach nicht«, und meine Stimme wird höher und leiser, erinnerte mich an einen sich entfernenden Zug.
»Erinnerst du dich an gestern?«, fragt mich Tanja.
»Ja.«
»Erinnerst du dich an letzte Woche?«
Ich nicke.
»Erinnerst du dich an den Tag, an dem du zum ersten Mal versucht hast, dich umzubringen?«
»Ja.«
»Du erinnerst dich, weil für dich alles eins ist. Gestern ist heute, letzte Woche ist diese Stunde, letztes Jahr diese Minute. Du kannst keinen Tag beenden und wenn du sie jetzt nicht umbringst, wirst du das niemals mehr können.«
»Ist sie die Richtige?«
»Ich weiß es nicht«, sagt sie, »aber einen Versuch ist es wert«, und bevor Yvonne die Augen aufschlagen kann, setze ich das Messer an ihre Kehle.
***
Ich saß auf einer Parkbank und rauchte bereits die sechste Zigarette. Jedes Mal setzte ich an, sie auf meinem nackten Arm auszudrücken, um es mir dann doch anders zu überlegen. Die Nacht war kalt, Wolken hingen tief über der Stadt und schickten hin und wieder Regenschauer herab.
Ich hatte Ärzte besucht, dutzende, hatte Schlafmittel geschluckt, immer stärkeres, doch keines führte zu dem gewünschten Ergebnis. Ich war wach, immer. Hatte vierundzwanzig Stunden täglich Zeit, über alles nachzudenken. Und das Denken führte zu Langeweile.
Nur wenige Spaziergänger streiften durch den Park. Gingen schnellen Schrittes an mir vorbei, erwiderten mein Starren mit derselben Gleichgültigkeit, mit der ich das Leben betrachtete. Ich sah sie nur an, weil ich davon überzeugt war, dass es die letzte Gelegenheit sein würde. Dass mein wenige Stunden zurückliegender Alkoholkonsum der letzte sein würde, die paar Euro die letzten, die von meinem Konto abgehoben worden war.
Ein letztes Mal näherte sich die Zigarette meiner Haut, das letzte Mal kniff ich.
Ich stand auf und verließ den Park. Während ich auf dem Gehweg entlang schritt, versucht, die wenigen Menschen, die mir begegneten, anzurempeln, vergrub ich meine Hände tief in den Taschen. Spielte mit dem sorgfältig zusammengelegten und in Folie gepackten Brief, den ich dafür nötig hielt, es durchzuführen. Der Abschiedsbrief, der ganz einfach üblich war.
Ja, ich hatte es mir gründlich überlegt. Zwei Jahre spielte ich bereits mit dem Gedanken, heute würde ich über meinen eigenen Schatten springen. Nicht nur im übertragenen Sinne.
Ich passierte Bars, die gerade erst öffneten, Bushaltestellen, in denen die Menschen wie Vieh aneinander gedrängt warteten. Ein Junge folgte mir mit den Augen, während er an seinen Fingernägeln kaute. Ich lächelte ihm zu. Er erwiderte dieses Lächeln nicht.
Ich verließ den Gehweg und überquerte blindlings eine Straße. Hörte, wie einige Autofahrer mich anhupten, das Fenster herabließen, nur um mich anzuschreien.
Ich hob meinen Blick und suchte den Himmel nach der Beleuchtung der Stadtbrücke ab.
***
»Es war ein verdammter Fehler«, sage ich auf dem Rückweg und zu mehr als einem Flüstern ist meine Stimme nicht mehr in der Lage, nachdem ich Yvonne in das blutige Laken eingewickelt und so leise wie möglich die Treppe hinab geschleppt habe. Als ich sie, leblos und schwer, auf beiden Armen über die Schwelle nach draußen trug, fühlte ich, wie ich zum ersten Mal traurig wurde. Nicht, weil ich morde, sondern weil ich auf diese Mittel zurückgreifen muss, um mich selbst töten zu können.
Und selbst sie sind keine Sicherheit. Ich werde erst wissen, ob sie die Richtige war, mein ganz persönlicher Schutzengel, wenn ich nicht mehr in der Lage bin zu wissen. Wenn alles, was von mir übrig geblieben ist, Tanjas Erinnerungen an mich sind.
Wir fuhren in meinem Wagen, welcher unter dem Gewicht der Leiche im Kofferraum zu leiden schien, sich jeden Kilometer voranschleppen musste.
Als ich die Heckklappe des Autos am Flussufer öffnete, hatte ich das Gefühl, dass mir bereits eine Welle des Verwesungsgestankes entgegenschlug. Um meine Selbstbeherrschung ringend hob ich die Leiche aus dem Kofferraum und ging auf das Wasser zu.
Tanja hielt es keinen Augenblick für nötig, mir behilflich zu sein. Sie saß im Wagen und sah mir durch das Fenster zu. Ihr Blick schickte mich zur Eile an, berührte mich an den Schultern, stieß mich in den Rücken stärker, als ihre Hände es gekonnt hätten. Eine kaum merkliche Rauchwolke stieg von ihrem Mundwinkel auf.
Ich wickelte die Leiche aus dem Laken und versteckte sie teilweise unter Wasser, teilweise im Schilf, das dicht an den Ufern wuchs. Als ich damit fertig war, warf ich das Betttuch in meinen Kofferraum und sah die schwarzen und braunen Flecken, die ihr Gesicht undeutlich darauf verewigt hatte. Ich schlug die Klappe zu und setzte mich ans Steuer.
»Sie werden mich erwischen.«
»Blödsinn. Es war doch nur irgendeine Schlampe.« Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern, von der sie das Papier löste. Tabakreste lagen auf ihren Knien.
»Aber mein Sperma…«
Tanja kniff mich in den Arm. »Beruhig dich. Du müsstest dich schon stellen, dass sie auf dich kommen würden.«
»Der Barkeeper, er hat mich mit ihr gesehen.«
»Kennt er dich?«
»Er weiß nicht meinen Namen, doch ...«
Sie ließ mich los und schnallte sich an, als wäre alles erledigt. Ich startete den Motor und fuhr an.
»Jemanden in den eigenen vier Wänden zu töten, ist etwas völlig anderes. Es wirkt so persönlich.« Das Radio ist an, doch lautlos. Nur Tanjas Atem durchbricht die Stille des Motorengeräusches. Alle Fenster sind geschlossen und ich fühle mich wie von der realen Welt abgeschirmt. »Das werde ich nie mehr machen.«
»Vielleicht musst du das ja gar nicht«, sagt Tanja und ich fühle ihre Hand auf meinem Arm. Ich umklammere das Lenkrad fester.
***
Zielstrebig steuerte ich auf die Brücke zu. Ich war entschlossen, heute den letzten Schritt zu tun – über die Brüstung, über dreißig Meter auf einen Fluss zu, der bereits unzähligen Selbstmördern die ewige Ruhe gegönnt hatte. Ich wollte mich unter sie reihen, mit meinem letzten Atemzug nur Wasser in meine Lungen pumpen.
Ich stand vor dem Geländer und rauchte. Fühlte die kalte Nacht, die mich umarmte, mir eine Gänsehaut erzeugte. Ich hatte die Ärmel meiner Lederjacke hochgekrempelt und lehnte an der Balustrade.
Als ich den letzten Zug nahm, schwebte die glühende Zigarette erneut über meinem Arm. Diesmal drückte ich zu.
Der Schmerz war nicht so groß, wie ich erwartet hatte. Weniger ein Brennen als ein Zwicken. Mit dieser letzten Erfahrung stieg ich über die Brüstung und schon hörte ich die ersten Schreie der Fußgänger, deren Aufmerksamkeit ich plötzlich erlangt hatte.
Ich hörte: »Spinnt der?« und »Ist der völlig verrückt geworden?«
Ich hörte: »Großer Gott, der Typ ist irre!« öfter als »Nicht springen, Mann!«
***
Wir sitzen auf derselben Parkbank, auf der ich einst meinen Selbstmord plante.
»Willst du?«, fragt sie mich und bietet mir eine Zigarette an.
»Ja.« Meine erste Kippe seit einem Jahr. Während ich sie anzünde, beobachte ich Tanja, die in den Himmel starrt.
»Erinnerst du dich?«, fragt sie.
»Ja.«
»Aber du weißt ja gar nicht, wovon ich rede.«
»Trotzdem.«
Sie nimmt wieder einen Zug. »Als wir uns kennen lernten, meine ich.«
Ich nicke. »Das wusste ich.«
»Es war«, sie lacht kurz und laut, »eine Nacht wie diese. Klingt blöd, nicht wahr?«
»Ziemlich sogar.«
»Es ist fast ein Jahr her. Du warst betrunken«, sagt sie und ihre Stimme wird leiser.
»Ja.«
»Wie kannst du dich dann noch daran erinnern?«
»Ich weiß es nicht.« Ich erinnere mich an alles. Jede wache Sekunde meines Lebens ist auf Zelluloid gebannt und läuft immer wieder qualvoll vor meinem inneren Auge ab.
»Ich hörte ein Geräusch. Hielt es zuerst für das irgendeiner Katze. Wenn du auch nur ein Fenster offen lässt, sind die Viecher drin. Ich habe meine Wohnung verlassen und bin die Treppe zum Laden hinab gestiegen. Weißt du, was ich in den Händen gehalten habe?«
»Einen Revolver«, sagen wir beide gleichzeitig.
»Ich fand dich«, jetzt lacht sie erneut, »ich fand dich in der Apotheke und deine Taschen waren voller Betäubungsmittel.«
»Ich habe nach starken Schlaftabletten gesucht, K.-o.-Tropfen und solches Zeug.«
»Das weiß ich doch«, und sie legt eine Hand auf meine Wange und dreht mein Gesicht dem ihren zu. »Es hat wirklich nicht lange gedauert, dass du mich gebeten hast, bei dir einzuziehen.«
»Du hast mich gebeten«, antworte ich.
»Natürlich«, und in ihrem Lächeln, das zu viele Zähne zeigt, spiegelt sich der Sarkasmus.
Als sie sich vorbeugt, sich mir nähert, ihre feuchten Lippen den meinen, sage ich schnell: »Wir müssen mich umbringen.«
Sie seufzt, steht auf und tritt ihre Zigarette aus. »Du bist nicht sehr einfühlsam.«
***
Meine Hände gehorchten mir nicht. Verbissen klammerten sie sich an die Brüstung, obwohl der Rest meines Körpers fallen wollte.
»Springen Sie nicht«, sagte ein Mann, der ungefähr mein Alter hatte. »Es gibt soviel, wofür es sich zu leben lohnt.« Er dachte wohl, dies wäre eine Nacht für Helden und redete schon seit Minuten pausenlos auf mich ein. »Sie waren wahrscheinlich noch niemals in Paris.«
»Ich war in Paris, und kann Frankreich nicht ausstehen«, antwortete ich und löste eine Hand.
»Wie wäre es mit New York? Oder Rom?«
»Kein Interesse.« Und ich ließ los.
Das Fallen war kurz. Die ersehnte Dunkelheit ebenfalls.
Und als ich Stunden später aus meiner Ohnmacht erwachte, war ich davon überzeugt, tot zu sein.
»Herr Jahn?«, hörte ich und ich versuchte in dem grellen Neonlicht etwas zu erkennen. »Herr Jahn? Wie fühlen Sie sich?«
»Neonlicht?«, fragte ich.
»Wie bitte?« Ich erkannte einen Mann vor mir, der auf seiner Nasenspitze eine randlose Brille balancierte. Um seinen Hals trug er ein Stethoskop.
»Sind Sie Arzt?«
»Ähm, ja, ich bin Doktor Wimmer, Ihr Arzt.«
»Scheiße.«
Anscheinend war es tatsächlich eine Nacht für Helden gewesen.
***
»Sterbe ich, wenn ich die schlucke?«, frage ich Tanja, während ich die zwanzig Tabletten von der einen in die andere Hand rieseln lasse.
»Ohne Frage.«
»Wenn nicht?«
»Dann müssen wir weiter suchen«, sagt sie und drückt mir eine Whiskeyflasche in die Hand. »Willst du nicht anfangen?«
Ich schlucke immer zwei auf einmal. Mittlerweile macht es mir nichts mehr aus, als Kind hatte ich damit mehr Probleme. Nachdem keine Tablette mehr übrig ist, fühlt sich mein Hals rau an und ich nehme noch ein paar Schlucke.
»Wie lange wird es dauern?«
»Hm«, sie zuckt mit den Schultern, »werden wir sehen.«
Es ist sieben Uhr morgens und ich bin davon überzeugt, dass ich wieder nicht die Richtige erledigt habe. Ich hänge das Handtuch zurück an den Haken, verlasse das Badezimmer und klopfe an Tanjas Tür.
»Ich will wissen, wie du sie auswählst«, sage ich und klopfe lauter. Aus dem Innern dringen Geräusche, Schritten ähnlich. Sie hat mir verboten, sie zu stören – wann auch immer. Da sie aber nicht antwortet, öffne ich die Zimmertür. Sie kniet auf dem Boden, die Hände auf ihren Oberschenkel, die Augen geschlossen.
»Ich will wissen …«
»Psst.«
Ich lasse mich nieder und vermische die Karten, die sie wie einen Fächer vor sich ausgebreitet hat.
»Hey.« Sie klingt nicht sonderlich verärgert. »Was soll das denn?«
»Wie funktioniert es?«
Sie sieht mich verwirrt an. »Braune Augen«, sagt sie. Und dann: »Das kannst du nicht verstehen.«
»Woher weißt du das? Wieso müssen es braune Augen sein?«
Sie schüttelt den Kopf und beginnt, ihre Karten aufzusammeln. »Eingebung. Verstehst du nicht?« Die ganze Zeit über schüttelt sie den Kopf. »Das ist, als würde man einen Zauberer nach seinen Tricks fragen.«
»Einen Zauberer?« Überall stehen Flaschen, meist gefüllt mit Alkohol, ein gerahmtes Foto von mir steht auf dem Nachttisch auf einem regionalen Telefonbuch, zwischen dessen Seiten einige Haftnotizen kleben.
»Ich mag es nicht, wenn du in meinem Zimmer bist.«
Sie sieht mir nicht in die Augen.
»Wieso?«
»Weil es mir ganz einfach nicht gefällt.«
Ich unterbreche ihre Hände beim Kartenmischen. »Ich will dabei sein.«
Sie hebt den Blick und lächelt. »Was?«
»Mach schon.«
»Es … ich habe es noch nie gemacht, wenn jemand dabei ist.«
»Versuch es«, und ich verschränke meine Arme vor der Brust.
»Ich weiß nicht.« Sie beginnt, die Karten vor sich auszubreiten, mehr oder weniger zielstrebig, alle mit dem Gesicht nach unten. »Aber ich bin mir sicher, dass es nicht funktioniert.«
Ihre Stirn beginnt zu glänzen, die Hände zu zittern.
»Nun?«, frage ich.
Sie flüstert etwas.
»Was?«
»Ich kann nicht!«, schreit sie und schleudert die restlichen Karten auf den Boden. »Ich kann es nicht!«
»Weil ich hier bin?«
»Ich kann es überhaupt nicht!«
Und obwohl ich es schon immer weiß, verstehe ich nicht, wovon sie redet.
»Noch nie!« Kein Wort.
»Ganz langsam«, beginne ich und versuche, sie mit meinen Händen zu beschwichtigen. »Ich verstehe nicht…«
»Ich brauche dich«, sagt sie und nimmt mein Gesicht in ihre Hände, drückt es an ihre flache Brust. »Und du brauchst mich, gib es zu.« Ihre Hände wühlen in meinem Haar und ich muss meine ganze Kraft aufwenden, um mich von ihr loszureißen.
Sie bleibt auf dem Boden knien und lässt ihr Haar ins Gesicht fallen. Ich stehe auf, um auf ihr Bett zuzugehen und nehme das Telefonbuch. Folge einer Notiz nach der anderen.
Ulrich Feldner, 11. Januar 2005.
»Erinnerst du dich?«
Nadine Hennrich, 22. März 2005.
»Als du in meine Apotheke eingebrochen bist?«
Hans Jahrstorfer, 5. Juni 2005.
»Ich wollte an diesem Abend sterben.«
Wilhelm Auer, 1. August 2005.
»Ich hatte die Pistole bereits an meinen Kopf gesetzt. Aber …« Sie steht plötzlich neben mir und reißt mir das Telefonbuch aus der Hand, lässt es achtlos auf den Boden fallen und würdigt die Notizen, die herausfallen, keines Blickes. »Du hast mich gerettet und ich rette dich. Wir sind unsere eigenen Schutzengel.«
»Nein«, sage ich und denke an Yvonne, die jetzt in einem Fluss liegt, den Kopf in den Nacken geworfen, genauso, wie sie es im Bett getan hat, jetzt nur noch von wenigen Sehnen am Körper gehalten.
»Bitte«, und Tanja klammert sich an mich, »brauch mich.«
Ich denke an die zwanzig unwirksamen Tabletten in meinem Magen.
***
Ich sagte: »Tanja, ich brauche Frischluft.«
Ich sagte: »Nein, ich möchte allein sein.«
Sie sagte: »Okay.«
Ich verließ die Wohnung, ignorierte den Regen, der mir über den Rücken lief. Von meinen Haaren, meinen Wimpern tropfte und nach Salz schmeckte. Es sind nur wenige hundert Meter, doch die Hüfte schmerzt wieder, erinnert mich an einen weiteren missglückten Selbstmordversuch, der darin geendet hatte, dass ich bei vollem Bewusstsein auf einer wenig befahrenen Straße lag. Verurteilt war, auf Hilfe zu warten.
Jetzt ist es kurz nach acht, da ich die wenigen Stufen zu dem Polizeipräsidium hinauf steige, in dem bisher nicht viel mehr als das eine oder andere Verkehrsverbrechen gemeldet worden ist, um das letzte Mal meinen Selbstmord zu planen.
Der Raum ist klein und eine Frau in Alltagskleidung, die gerade aus einer Tasse trinkt und nur schwer ihre Augen öffnen kann, sieht zu mir auf.
»So früh?«, fragt sie und wirft einen Blick auf die Uhr. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich lehne mich gegen die Theke, lächele.
»Ja. Ich möchte fünfzehn Morde gestehen.«
Ich finde, die Farbe aus ihrem Gesicht weicht viel zu langsam.
***
Ich sehe aus dem Fenster, spiele mit dem Brief in meinen Hosentaschen, der nicht derselbe ist wie damals, aber diesem identisch, und ignoriere meinen Zellengenossen, der unruhig in dem kleinen Raum auf und ab geht. Betrachte die Narben, die auf meinen beiden Handgelenken fast die Form eines Himmel-und-Hölle-Spiels angenommen haben.
Er ist hier bereits zwei Jahre, doch sein Gesicht ist noch immer das eines Jungen. Er sitzt wegen zwölf Morden, beharrt aber darauf, einundvierzig auf dem Gewissen zu haben.
»Du magst mehr absitzen, aber ich habe gewonnen«, sagte er gestern zu mir, während er an seinen Fingernägeln kaute. »Ich gewinne immer.«
»Hey«, und sehe jetzt in seine braunen Augen. »Einundvierzig? Das soll ich dir glauben?«
Sein Name ist Henry und auch wenn er es nicht weiß: Er ist meine letzte Rasierklinge.
© Tamira Samir