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Abseits
Ja, es war Liebe auf den ersten Blick.
Karin traf ich in einem Reisebus während einer Studienfahrt nach Prag.
Reihe 19 rechts am Fenster hast Du gesessen und gelangweilt die vielen Menschen auf dem Bahnhofsplatz beobachtet; die Beine übereinander geschlagen und Dein bordeauxrotes Franzosenkäppchen trugst Du noch einige Jahre, auch nachdem Du Deine fuchsrote Löwenmähne arg gekürzt hattest.
Drei Wochen später bist Du in meine Wohnung gezogen, die ich bis dahin mit vier Kommilitonen teilte, als Rainer sein Studienfach wechselte und das kleine Zimmer zum Garten hin frei wurde. Es war eine zielgerichtete Liebe; wir verfolgten gewissenhaft unser Studium, planten eine gemeinsame, möglichst realistische Zukunft innerhalb einer christlichen Wertevorstellung. Der Glaube versetzt Berge – was der Mensch denkt, wird er erleben – der Gedanke an einen Misserfolg war abwegig, Scheitern hatte nicht einmal mehr Platz in unserem Vokabular.
Nach erfolgreicher Promotion besetzte ich eine Anstellung in der Pharma-Industrie, stieg rasch innerhalb der Forschungsgruppe bis in die leitende Position auf.
Karin verzichtete auf ihre letzten zwei Semester, als Steven zur Welt kam. Nebenher bauten wir dank der finanziellen Großzügigkeit unserer Eltern ein sichtbar geräumiges Eigenheim an die Ufer eines Wochenendparadieses im Süden Deutschlands. Umzug, Hochzeit und meine Versetzung von Hamburg nach Basel fielen in das gleiche Jahr; Steven entwickelte sich prächtig und zwei Jahre später bezog Ann-Kathrin ihr himmelblaues, mit Sternen übersätes Schaukelbett.
Meine Haare flohen aus der Stirn, über den früher sportlichen Hüftknochen bildeten sich wabblige Fettpolster; Karin hatte genügend Tagesfreizeit neben der Aufzucht unserer Kinder für sportliche Aktivitäten. Sie engagierte sich in den lokalen Vereinen, die sich der Hilfe Alter und Kranker widmeten und entsprechend groß auf ihre Fahnen geschrieben hatten.
Ich weiß noch genau, wie ich da zur Tür herein kam. Es war Samstagmorgen, die Sonne warf ihre frühlingshafte Wärme durch die hohen Scheiben, zersplitterte ihr Licht an den mit Silberfäden durchwirkten Vorhängen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, schon gestern Abend zu kommen, aber eine Besprechung bis spät in die Nacht hatte mich aufgehalten. Eine kurze SMS sollte Dich in Kenntnis setzen, aber Du hattest nicht geantwortet – ich ging davon aus, daß Du bereits schliefst.
Die Küche war penibel aufgeräumt, kein Frühstücksgeschirr stand in der grauen Spüle, nicht einmal ein benutztes Pad in der bogenförmig geschwungenen Kaffeemaschine. Irritiert, aber noch ohne Argwohn, zog ich meine hellbraunen Lederschuhe aus, ließ sie achtlos mitten in dem geräumigen Wohnbereich stehen, stieg in Socken über die geschwungene Stahltreppe in den ersten Stock hinauf.
Öffnete die Badezimmertür, auf die Ann-Kathrin in kindlicher Naivität einen viel zu dicken Delphin gemalt hatte. Auch hier roch es nicht nach Benutzung, das Glas der Dusche verunzierten einige wenige Kalkflecken, die Seife war trocken, das Handtuch ebenfalls.
Ließ die Tür geöffnet, spürte nicht einmal mehr, daß die Fußbodenheizung noch viel zu warm eingestellt war. Im Schlafzimmer schien die Sonne auf die cremefarbene Satin-Bettwäsche, spiegelte sich in den sechs Türen des Schrankes. Das obere Fenster im Erker war gekippt, die Luft angenehm kühl. Frisch. Hier hattest Du die letzte Nacht nicht gelegen, aber wo waren Steven und Ann-Kathrin? Fast wäre ich in meinen Socken ausgerutscht und die Treppe hinab gestürzt, so eilig wollte ich jetzt in die Kinderzimmer gelangen. Alles war aufgeräumt und sogar die Teppiche in beiden Zimmern schienen gesaugt, so als habe man ein Verlassen regelrecht geplant. Ungläubig schubste ich das Flugzeugmodell an, welches von der Decke hing und auf dessen Flügel statt der militärischen Embleme das Peace-Zeichen prangte. Wie wenig ich von seiner Entwicklung mitbekam. Steven. Und ein unangenehmes Zittern kroch meine Beine hinauf, plötzlich mußte ich tief einatmen und stieß die Luft seufzend wieder aus. Bücher über Jugendbanden, wilde Lokomotiven und unbeugsame Indianderbuben standen der Größe nach geordnet im Regal; an den Wänden zusammenhangslos geheftete Poster rasanter Fahrzeuge, über dem Bett eine rote Flagge mit gelber Raute. Langsam schlenderte ich in das Zimmer meiner Tochter, versuchte mir ihr Gesicht vorzustellen und unterdrückte ein Schluchzen. Was auch immer geschehen sein mochte oder geschehen war, nie mußte ich gegen aufkommende Tränen kämpfen. Selbst nicht, als sie vor fünf Jahren meinen Vater zu Grabe trugen. Ich schämte mich sogar für die augenscheinliche Schwäche meiner Mutter, die laut klagend um das Mitleid der Trauergäste gebuhlt hatte.
Plötzlich folgte ich einem nie gekannten Impuls und setzte mich erst auf den weichen, grobmaschigen Teppich, legte mich dann auf den Rücken mit weit gestreckten Beinen und Armen. Nie bin ich so gelegen, um meine Tochter über mir zu halten, nie so gelegen und ihren Kopf auf meiner Brust gespürt, ihr vorlesend. Was war ich für ein Vater. Was sie über mich dachten, von mir hielten, wie sie mich wohl sahen? Eine heftige Welle schwappte meine Kehle hinauf, bildete einen Kloß tief hinter der Zunge, die Augenränder brannten und Nässe verschleierte meinen Blick. Das Glas der Lampe über mir irisierte und ich schloss meine Augen vor Scham. Ich hatte es verdient.
Abrupt setzte ich mich auf, starrte in die Spiegel eines gelben Schrankes, meine Haare hingen in Strähnen über die Stirn, mir gegenüber saß ein alter, müder Mann, der mich mit geröteten Lidern anstarrte. Wieso befiel mich ausgerechnet jetzt eine so komplizierte Frage nach dem Sinn, wieso konnte ich nicht einen klaren Gedanken fassen, meine Mutter oder Schwiegereltern anrufen, wieso nicht Martina, Deine Freundin oder Werner, deren Mann. Werner war ein Arschloch, der Dir immer nur auf Deine Brüste starrte.
Erschrocken hielt ich inne. Was waren das für niedere Gedanken, die ich immer vehement ins Reich der einfachen Gehaltsempfänger geschoben hatte. Arztromane, Intrigenspiele auf den Fluren der Krankenanstalten in den Soap-Operas der Privatsender. Alles Spielchen der Erfolgslosen. Nein, ich war nicht an ein Kastendenken gebunden, aber dass mich Gefühle wie Eifersucht oder Angst ... ich richtete mich auf, zog meine Manschetten zurecht und stackste, die Hacken auf den Boden schlagend, in die Küche.
Hier, auf dieser Anrichte, die in den großen Wohnraum hinein ragte, umsäumt von sechs mit Leder bezogenen Barhockern, deponierten wir immer eine Nachricht, sollten Telefon, Handy oder Email nicht ausreichen. Aber hier lag keine schriftliche Notiz.
Selbst auf dem schwarzweiß gestreiften Esstisch mit seinen Edelstahlfüßen fand sich lediglich eine Vase mit abgestandenem Wasser und acht weißen Nelken, deren Köpfe verblüht nach unten hingen. Eigentlich hätten mir die Blumen zuerst auffallen müssen, aber daran erkannte ich auch, wie selbstverständlich ich mich in Räumen bewegte, deren Eigenleben mich nicht die Spur interessiert hatten. Du lebst hier, hast oder hattest hier gelebt mit unseren Kindern. Ich wußte nicht genau, was in den Nussbaumschränken gestapelt stand oder lag. Geschirr? Vasen? Tischdecken oder Poesiealben? Serviettenringe, Kuchengabeln, Teelichter, Schüsseln, Weihnachtsdekoration. Im CD-Ständer zeigten mir zahllose Kunststoffrücken Titel, Namen, Farben – aber ich konnte nicht sagen, wo meine Lieblings-CD ihren Platz hatte. Das rechte Polsterkissen des gelben Sofas war verschmutzt von einem Nahrungsrest, offensichtlich völlig vertrocknet. Ist mir nie aufgefallen.
Langsam schlich ich an den Wänden entlang, nahm hier einen Gegenstand vom Sideboard, drehte es in den Händen und mir war, als sähe ich das Teil zum ersten Mal. Eine blaue Glasvase. Ein in Stein gemeißeltes Gesicht. Zwei Tonfiguren mit überdimensionalen Rucksäcken, eine abgebrochene Pfeilspitze. Wie ein Schub presste die Sentimentalität ihre Wasser gegen die Rückseite meiner Augen, die Nase verhinderte den Bedarf meiner schnappenden Lunge nach Luft. Mit geöffnetem Mund vollzog ich einen Rundblick, bei dem mir schwindlig wurde.
Du warst hier Zuhause, kanntest jeden Winkel, warst vertraut mit jedem Scharnier der Küchenschränke. Wusstest genau, wie die Fingerabdrücke auf die Dunstabzugshaube aus gebürstetem Edelstahl kamen, hattest den kleinen Abfalleimer für Biomüll sauber ausgewaschen und verkehrt herum auf der Loggia zum Trocknen in ein Blumenregal gelegt.
Aber ich, ich war ein Fremder in meiner Wohnung. Wobei "meiner" wie Hohngelächter in den Hirnwindungen klang. Warum befiel mich ausgerechnet jetzt eine solche – ja, was war es denn? Depression? Midlife-Crisis? Doch nicht mich, den erfolgreichen Geschäftsmann; und doch fand ich keine Ruhe in den Gedanken. Es bohrte, pochte und nagte wie rasch fließendes Wasser an einem Felsen.
Ich sah auf die Uhr, es war 11.32 Uhr, als ich zum schnurlosen Hörer griff – aber es meldeten sich nur die Anrufbeantworter, mit denen ich jetzt nicht kommunizieren wollte. Auch mein Handy wies keine SMS oder einen Anruf aus – als ich die Nummer meiner Frau wählte, war der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar.
Ermattet, niedergeschlagen und hilflos legte ich mich auf den kleinen Läufer vor dem Sofa, drehte den Kopf so, daß mir die Sonne durch das Dachfenster direkt ins Gesicht schien.
Karin schrie, die Hände um die Körper der Kinder geschlungen, schrie, ich solle gefälligst Hilfe holen, solle doch vor in die Kanzel des Piloten und ihn bitten, mit diesem Unfug aufzuhören. Die restlichen Passagiere saßen stumm und beobachteten verwirrt ihr sonderbares Verhalten. Das Flugzeug raste ganz offensichtlich durch die Wolken abwärts, das Heulen der Triebwerke klang verzerrt und in einem immer höheren Ton, als beschleunige es kontinuierlich.
Ich saß neben ihr, unfähig, meinen Gurt zu lösen, der sich immer weiter zuzog und meinen Körper in den Sitz presste. Wortlos und verzweifelt wollte ich ihr helfen, wollte noch sagen, daß ich sie immer geliebt hatte und wie leid es mir täte, aber bewegungsunfähig und stumm mußte ich mit ansehen, wie wir auf unserer bevorstehendes Ende zurasten.
Ein weicher Strich kroch an meinem Arm empor, wieder hinab, wieder empor. Als ich die Augen aufschlug, saß Karin neben mir und streichelte zärtlich meinen Arm.
Na Du, sagte sie leise und daß sie mit mir noch nicht gerechnet habe. Auf die Frage, wo sie denn gewesen sei mit den Kindern, antwortete sie, das Wetter habe sie ausnutzen wollen und war mit den Kindern für ein paar Tage ins Tessin gefahren.
Warum hast Du nicht angerufen? Missgelaunt stieß ich die Worte hervor.
Sei ehrlich – hättest Du wirklich Zeit für uns gehabt? Mit der Spitze ihres Zeigefingers stupste sie meine Nase.
In diesem Moment kamen Steven und Ann-Kathrin zur Tür herein, übermütig und laut.
Ma, warum kommst Du nicht runter und hilfst ausladen – abrupt unterbricht Steven seinen Vorwurf.
Ah, hi Dad. In seinem Blick erkenne ich den Grund meiner vorhin plötzlich aufgetretenen Angst und für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Ich will es nie wieder so weit kommen lassen. Nicht, solange ich es verhindern kann.