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Abysstos Erbe

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17.04.2007
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Abysstos Erbe

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Schwarz, alles schwarz um mich herum. Die Hände tastend ausgestreckt, fühlte ich die Leere, obwohl ich nichts sah.
Ein dunkler Nebel strich über meine Haut, was ich nur am Rande des Bewusstseins registrierte. Zart war er, nicht mehr als ein Windhauch. Er schien zu flüstern, ein undeutliches Gemurmel, ich hörte kein Wort heraus. Er zog mich weiter vorwärts, einem unbestimmten Ziel entgegen, warnte mich aber gleichzeitig davor. Irgendwo war etwas in der Dunkelheit verborgen, was sich versteckte. Musste es finden.
Der Nebel kroch an mir höher, verstärkte seinen Griff. Wollte mich fernhalten von meinem Ziel. Kannst du dort etwas sehen, fragte er oder ich mich. Egal, eine Stimme. Der Widerstand nahm zu, ich blieb stehen. Der Nebel war stärker geworden, fester, fühlte sich warm und weich an, wie eine Bettdecke, nur lebendiger.
Vor mir tauchte eine Kiste auf. Eine Art Obstkiste aus hellen Brettern zusammengenagelt. Doch statt Obst enthielt sie Perlen, rot wie frisches Blut.
Eine Hand streckte ich nach ihr aus, doch der Nebel hielt mich fest, kroch mir vor die Augen. Legte sich über Nase und Mund und drückte zu. Ich schrak zurück, wollte der Umklammerung entfliehen. Keine Luft, keine Luft. Konnte nicht atmen. Ich warf mich hin und her, zappelte wie ein Fisch im Netz, strampelte hilflos wie ein Baby. Wollte fliehen, wollte kämpfen, wollte leben.
So erwachte ich, aber dunkel blieb es. Auch die Fessel blieb und nahm mir die Luft. Meine Hände stießen nach oben, wanden sich wie Schlangen. Dann traf Licht meine schmerzenden Augen.
Kaum hatte ich wieder einen Atemzug genossen, beruhigte sich mein panisches Herz. Die Fessel schmolz zu meiner Bettdecke zusammen. Alles nur ein Traum gewesen, sagte ich mir. Es gab hier keinen Nebel, der mich ersticken wollte, und auch keine Blutperlen.
Ich war allein in meinem Schlafzimmer.
Prüfend tastete meine Hand über das Laken neben mir und zog sich angewidert zurück. Es war schweißnass und klebrig. Nicht das, was ich jetzt oder irgendwann fühlen wollte.
Kurz entschlossen stand ich auf, dabei fiel mein Blick aus dem Fenster. Wo ich kaum etwas erkennen konnte, da die Scheibe voller weißer Flecken war. Ich hätte mir einbilden können, am Grauen Star zu leiden. Es musste Jahre gekostet haben, die Scheibe so verkommen zu lassen. Den Schuh wollte ich mir aber nicht anziehen, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, die Scheibe absichtlich nicht geputzt zu haben.
Wenn ich genauer darüber nachdachte, konnte ich mich an überhaupt nichts erinnern. Seltsam. Da war eine große Leere in meinem Kopf, wie die aus dem Traum. Eine Gedächtnislücke, nein, ein Gedächtnisloch. Eine Gedächtnisleere.
Ich verließ das Zimmer. Auf dem Flur erhaschte ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Beim Anblick des verschlafenen Gesichts regte sich nichts in mir. Als würde ich einem Fremden das erste Mal begegnen. Erster Eindruck: verbissen, verbittert, unsympathisch. Vielleicht war ich übermüdet. Das verging bald wieder. Dann würde mir auch mein Gesicht wieder bekannter vorkommen.
Das Bad fand ich auf Anhieb, die Erinnerung daran überhaupt nicht.
Die Tür befand sich an einer Querseite des länglichen Badezimmers. Gegenüber sah ich ein weiteres, blindes Fenster, rechts daneben die Toilette. Links an der Wand befand sich eine Badewanne in zartgrün, daneben, also in meiner Nähe, ein hoher Schrank in weiß. Vor der Mitte der rechten Wand stand einsam ein Waschbecken mit Spiegel. Beim Betreten der Fliesen entdeckte ich rechts neben meinen Füßen ein Bündel sauberer Klamotten, die ich tags zuvor dort bereitgelegt hatte. Wahrscheinlich. Genau wusste ich es nicht.
Langsam begann ich mich zu entkleiden. Meinen Schlafanzug ließ ich achtlos auf den Boden fallen. Dann griff ich zum Wasserhahn und stockte.
Statt eines gewöhnlichen Wasserhahns entdeckte ich einen zum Aufdrehen, mit Rädchen. Wie der Hahn einer Hauptwasserleitung sah er aus. Oder wie die Dinger in öffentlichen Sanitärhäusern unter den Waschbecken, nur etwas größer. Kein normaler Mensch hatte so einen Wasserhahn.
Ich wollte aber nicht darüber nachdenken, sondern drehte auf.
Vielleicht hätte ein kleiner Spritzer genügt, um mich vollkommen aufzuwecken, doch das eigentliche Resultat war zuviel des Guten.
Ich wich zurück, als ein kräftiger Schauer mir entgege regnete. Der Wasserstrahl schoss mit der Kraft von Faustschlägen ins Becken. Tropfen flogen in alle Richtungen davon und verwandelten den Raum in eine humide Zone. Ich sprang vor und drehte wieder in die andere Richtung.
Eine Drehung, noch eine, noch eine. Es tat sich nichts.
Außer, dass ich plötzlich das Rädchen in der Hand hielt. Verwundert starrte ich es einen Moment lang an, bis das eisig kalte Wasser mich erschaudern ließ. Es war kalt, so unglaublich kalt. Mir wuchs eine Gänsehaut.
Dann sprang ich zur Tür, verfolgt von dem Wasser - und schlug der Länge nach hin, das Rädchen flog mir aus der Hand. Gegenüber im Flur knallte es gegen die Wand und blieb auf dem Boden liegen. Wutentbrannt schüttelte ich die Füße, um sie aus dem Schlafanzug zu befreien. Hätte ich ihn nur woanders hingelegt. Irgendwohin, nur nicht in den Weg.
Da merkte ich, dass es wieder still war. Der Wasserfluss hatte aufgehört, der entstellte Wasserhahn gab mir keine Erklärung. Ich verstand es nicht, verstand gar nichts. Hilflos schüttelte ich den Kopf.
Nur warum mein Bad jetzt triefte, wusste ich genau. Warum die Fliesen glitschig waren, Bäche von der Tapete liefen und ich mich nicht mehr waschen brauchte.
Das Bündel Klamotten hingegen war trocken geblieben. Merkwürdigerweise. Oder zum Glück. Ich brauchte nicht erst versuchen, es zu verstehen.
Nach kurzem Zögern begann ich, mich anzuziehen. Dabei fiel mein Blick in den Spiegel und ich erstarrte. Das da war nicht das, was ich bis eben noch da gesehen hatte. Das war nicht ich. Hinter dem Schleier aus Wassertropfen starrte mich ein fremder Mann an. Seine fettigen, dunklen Haare hingen ihm strähnig in die Augen. Sein Stoppelbart und ein schmutzig-brauner Matel ließen ihn wie einen Penner aussehen. Er grinste mich lüstern an, während seine Augen genüsslich abwärts wanderten.
Ich spürte, wie mir Hitze ins Gesicht stieg. Schnell griff ich mir meine Sachen und trat auf den Flur, die Tür schloss ich hinter mir. Mein Herz hämmerte und ich musste tief durchatmen, um nicht die Nerven zu verlieren. Das Bündel Klamotten ließ ich achtlos zu Boden fallen, die Hände brauchte ich, um mich an der Wand abzustützen.
Kaum hatte ich den Schrecken überwunden, sagte mir mein Verstand, dass das nicht sein konnte. Das musste es sein: Ich hatte mir das nur eingebildet. Schließlich war ich übermüdet, da konnte es schon mal passieren, dass man Sachen sah, die nicht da waren.
Jedoch antwortete eine Stimme in mir, dass das absolut keine Einbildung gewesen war. Auch wenn es nicht sein konnte, es war wirklich geschehen. In Gedanken widersprach ich heftig und beschloss, meine Zweifel zu zerstreuen.
Deswegen betrat ich noch einmal das Bad, als ich mich angezogen hatte. Dort warf ich einen Blick in den Spiegel. Der Anlick war schon etwas vertrauter, doch das war eindeutig ich. Siehst du, sagte ich zu der Stimme, da war doch kein fremder Mann.
Ein Schatten legte sich über den Raum. Mit einem Schrecken vermeinte ich, die Umrisse großer Flügel zu erkennen. Die auf mich niederfielen, mit gespreizten Krallen.
Ein Schrei überkam meine Lippen. Ich ließ mich zu Boden fallen. Wie ein Kaninchen kam ich mir vor, auf das sich ein Falke niederstürzte. Angstvoll wagte ich zaghaft nur einen Blick nach oben, wo ich lediglich die Decke sah. Auf Knien kroch ich hinaus, die Hände schützend über den Kopf gehoben. Wie ein Hündchen winselnd erreichte ich den Flur.
Wo ich mich sogleich aufrichtete und in das normal erleuchtete Bad zurücksah. Die Angst war wie ein Schleier von mir abgefallen. Ich schüttelte den Kopf und konnte mich nur über mein Verhalten wundern. Nicht nur, dass die Sache absolut hirnrissig war: Sogleich schoss mir auch eine logische Erklärung in den Sinn. Der Raum hatte sich verdunkelt, weil eine Wolke an der Sonne vorbeigezogen war. Es gab hier weder ein übergroßes Federvieh, noch genug Platz dafür.
Ich seufzte nur und beschloss dann, die Sache zu vergessen und frühstücken zu gehen.
In dem Raum, den ich betrat, sah ich mich um, als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet. Oder in einer fremden Küche.
Langsam ließ ich den Blick über die Schränke schweifen. Deren helle Holztüren mit den metallenen Griffen sahen für mich alle gleich aus. Ich wusste nicht, welche davon den Kühlschrank verbarg, oder wo ich Essen oder Geschirr fand.
Neugierig öffnete ich einen der oberen Schränke. Dort schaute mich ein hoher Tellerstapel von oben herab an. Hoch und bedrohlich türmte er sich vor mir auf, fast wie ein Türsteher.
Noch während ich ihn ansah, lehnte er sich nach vorne.
Scharf zog ich die Luft ein und sprang reflexartig beiseite. Neben meinen Beinen zerprang ein Teller auf dem Boden, die Scherben piekten mich in die Haut. Nach einem kurzen Blick nach oben riss ich die Hände vors Gesicht. Mit Wucht prallte der nächste Teller von mir ab und ich taumelte zurück. Im nächsten Augenblick stürzte ich aus der Tür und warf sie hinter mir zu.
Im Flur stützte ich mich schwer atmend an der Wand ab, als der Schrecken endlich mein Bewusstsein erreichte. Erst jetzt realisierte ich, was geschehen war. Das hieß allerdings nicht, dass ich es verstand, doch das war heute nichts Neues.
Obwohl mich langsam das Gefühl beschlich, dass all dies nicht zufällig geschah. Es war alles zu seltsam, zu gezwungen. Teller fielen nicht von alleine aus Schränken, egal wie nah sie an der Kante standen. Wasserhähne gingen nicht aus, wenn man ihnen das Rädchen abdrehte und kein Spiegel der Welt zeigte etwas anderes als das Spiegelbild desjenigen, der davor stand.
Nein, hierfür gab es keine rationale Erklärung. Hier stimmte etwas Tiefgreifendes nicht. Angefangen von meiner Amnesie, bis hin zu meiner Wohnung war hier alles, einfach ausgedrückt, verkehrt.
Plötzlich klingelte das Telefon im Wohnimmer. Ohne nachzudenken, was dabei schiefgehen könnte, sprintete ich dem Hörer entgegen.
"Hallo?"
Eine Männerstimme antwortete, die einen Hauch von etwas Vertrautem an sich hatte. In etwa so vertraut, wie ein Déjà-vu, von dem man genau weiß, dass man es nie zuvor gesehen hatte.
"Hallo Frau Habicht? Hier ist Herr Brandt. Haben Sie ihre Tabletten genommen?"
Beim Klang des Namens regte sich nichts in mir, so wie vorhin, als ich mein Spiegelbild sah. Er war mir fremd und konnte genausogut jedem anderen Menschen gehören. Aber was hatte die Stimme noch gesagt?
"Welche Tabletten?"
Durch das Telefon war ein Seufzer zu vernehmen. Der Mann hörte diese Frage nicht zum ersten Mal.
"Die Tabletten gegen Ihre Halluzinationen, Frau Habicht. Haben Sie sie genommen?"
"Welche Tabletten?", fragte ich sinnloserweise wieder, denn ich hatte keine gesehen. Meine Simme klang ungläubig, fast schon patzig. Ich hatte keine Lust, mich mit noch mehr Rätsel herumzuschlagen.
"Ich weiß nichts von irgendwelchen Tabletten. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Wer sind Sie überhaupt?"
Der Mann überlegte nicht lange, sondern sprach sofort weiter.
"Hören Sie zu: Ich komme jetzt zu Ihnen, ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen. Bleiben Sie, wo Sie sind. Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich beeile mich."
Dann legte er auf und ich ebenfalls. Sein Gesagtes machte irgendwo Sinn.
Ich hatte nur Halluzinationen. Natürlich konnte all das, was geschehen war, nicht sein, ich hatte es mir nur eingebildet. Alles war so real gewesen, doch so waren Halluzinationen. Der Traum vorhin war mir auch verdammt wirklich erschienen, bis ich aufgewacht war.
Jetzt musste ich diese Tabletten finden, die mir möglicherweise helfen würden. Hoffentlich fand all das dann ein Ende und der Tag wurde wieder gewöhnlich. Vielleicht fand ich sogar meine Erinnerungen wieder.
Seine Aufforderung missachtend, ging ich ins Bad. Dort riss ich den großen, weißen Schrank auf, der sich merkwürdigerweise nicht wehrte. Wie ein normaler Schrank eben.
In einem Fach fand ich eine kleine Packung, die noch geschlossen war. Ich riss sie auf und fand hellblaue Pillen in einem Blister vor. Sofort drückte ich eine heraus und warf sie mir in den Mund. Doch da kam nichts an. Vielleicht hatte ich sie fallen gelassen. Auch wenn ich das nicht bemerkt hatte, aber das konnte passieren. Schließlich litt ich an Halluzinationen.
Auf dem feuchten Boden fand ich sie nicht. Vielleicht war sie fortgerollt. Nicht so schlimm, ich nahm einfach eine neue.
Die sich jedoch auch auf dem Weg zu ihrer Einnahme in Luft auflöste. Dieses Mal hatte ich aufgepasst, die Pille war sicher nicht heruntergefallen. Okay, das ließ sich sicher irgendwie erklären. Möglicherweise war sie es doch, aber ich halluzinierte und sah sie dann nicht mehr. Wenn sie noch in meiner Hand wäre, könnte ich sie fühlen.
Ich versuchte etwas anderes. Eine Pille nach der anderen drückte ich heraus in meine hohle Hand und beförderte sie in meinen Rachen. Doch alle verschwanden auf dem Weg, ohne Knall und Rauchwolke, als würde sie einfach aufhören zu existieren.
Das war unmöglich, hier war alles unmöglich. Nichts stimmte mehr.
War irgendwo eine Gasleitung geplatzt?
Ich stutzte, als ich merkte, wie zusammenhangslos dieser Satz war.
Doch schon im nächsten Moment strömten Erinnerungen an die Oberfläche meines Gedächtnisses, Visionen aus einer anderen Welt, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte.
Damals in Abyssto war auch eine Gasleitung geplatzt. Das ausströmende Gas schien direkt aus der Hölle gekommen zu sein, denn es verursachte Halluzinationen und brachte die Menschen dazu...
Dann riss der Strang der Gedanken ab, als es an der Tür klingelte.
Ich sprang auf und hechtete den Flur entlang, bevor wieder etwas Merkwürdiges geschah. Als versuchte ich, meinen Halluzinationen - wenn sie denn noch da waren - zu entkommen.
In der Tür stand ein Mann in den Vierzigern, mit kurzen Haaren und kantigem Gesicht. Er trug eine schwarze Jacke und in der linken Hand eine Tasche. Das musste dieser ominöse 'Herr Brandt' sein.
"Guten Tag, Frau Habicht. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte."
Der Mann trat ohne Aufforderung ein, als wären wir gute Bekannte. Was ich nicht genau sagen konnte. Dann stellte er die Tasche ab und griff nach meinem Handgelenk. Er legte zwei Finger auf den Puls und sah mir aufmerksam in die Augen.
"Wie geht es Ihnen heute?"
Er war wohl mein behandelnder Hausarzt. Leider gab es keine Garantie dafür, dass er es war, oder dafür, dass er überhaupt existierte.
"Ich kann mich an gar nichts erinnern", erklärte ich. "An rein gar nichts vor dem Aufwachen heute Morgen."
Er zog die Stirn vor Enttäuschung kraus, flüsterte zu sich selbst etwas wie: "So etwas habe ich noch nie erlebt", bevor er sich wieder mir zuwandte.
"Vielleicht kann ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Sie heißen Miranda Habicht und leben jetzt seit zwei Jahren in dieser Wohnung. Seitdem sind Sie auch bei mir in Behandlung. Bei Ihnen wurde eine eher harmlose Form von Schizophrenie festgestellt: Sie hören Stimmen und sehen gelegentlich kleine, weiße Punkte umherfliegen. Deswegen haben Sie Tabletten von mir bekommen, von denen Sie morgens und abends je eine einnehmen sollen. Vorher ist es aber noch nie vorgekommen, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben. Können Sie sich jetzt erinnern?" Das musste ich erst einmal verdauen. Es erschien mir unwirklich, dass ich eine Vergangenheit besaß. Mir war so, als gäbe es mich erst seit heute. Ein seltsamer Gedanke.
"Nein", antwortete ich auf seine Frage und schüttelte den Kopf. "Überhaupt nicht."
"Das kriegen wir schon wieder hin", meinte er optimistisch. Haben Sie Ihre Tabletten schon gefunden?"
"Sie sind im Bad", sagte ich und ging voraus, den Flur entlang. Er folgte mir mit der Tasche.
Die Tür zum Badezimmer war geschlossen. Das Rädchen vom Wasserhahn lag noch auf dem Boden, ich hob es auf.
Als ich vorsichtig die Tür einen Spalt öffnete, spritzte mir kaltes Wasser entgegen. Viel Wasser. Ganz geöffnet war es schon ein Schwall.
"Was ist denn hier los?", brüllte der Arzt, um den Lärm des Wassers zu übertönen.
Ich stürzte mit dem Rädchen zum Wasserhahn und drückte es mit aller Kraft an seinen Platz zurück. Mit der selben Kraft wehrte es sich dagegen, ich schaffte es nicht. Bis der Arzt ebenfalls zugriff und wir gemeinsam das Rädchen festdrehten. Der Moment der Zusammenarbeit wehrte aber nicht lange. Schon drehte sich der Arzt triefend und mit zornerfülltem Gesicht zu mir um.
"Was sollte denn das? Warum haben Sie das gemacht?"
"Was gemacht?", antwortete ich patzig. "Vorhin lief das Wasser nicht mehr, als ich das Rädchen abgeschraubt hatte. Ist es etwa meine Schuld, wenn es wieder anfängt?"
Vielleicht hatte ich etwas zu gereizt geantwortet, deswegen griff ich in den Schrank und reichte ihm mit einem entschuldigenden Lächeln ein Handtuch. Ein weiteres nahm ich für mich. Er seufzte und trocknete sich das Gesicht. Ich konnte nicht sagen wie der Seufzer aufzufassen war, aber in dem Augenblick erinnerte ich mich an den Grund, weswegen wir überhaupt ins Bad gekommen waren.
"Die Tabletten sind dort", sagte ich und reichte ihm die Packung aus dem Schrank.
Er drehte sie mit runtergezogenen Brauen in den Händen. Dann öffnete er sie und zog einen halbleeren Blister heraus.
"Stimmt etwas nicht?", konnte ich mir nicht verkneifen. "Sind das etwa die falschen?"
"Hatten Sie nicht gesagt, sie hätten sie nicht gefunden?"
Ich nickte. "Hatte ich vorher auch nicht. Bis Sie mir davon erzählt hatten."
"Und warum fehlt die Hälfte?", fragte er düster.
Die Packung fiel zu Boden und er kam einen Schritt auf mich zu. Mit einer Hand packte er mich im Gesicht und drückte die Wangen zusammen, sodass ich den Mund öffnen musste. Ehe ich mich entschließen konnte mich zu wehren, langte er mit dem Finger hinein und förderte eine kleine, blaue Pille zu Tage.
Als er mich wieder losließ, rieb ich mir den schmerzenden Kiefer und sah ihn beleidigt an. Was für ein Mistkerl. Das war nun wirklich nicht nötig gewesen. Von mir aus konnte er wieder verschwinden. Hilfe von so einem brauchte ich nicht.
"Wollen Sie sich umbringen?", schimpfte er. "Los! Zur Toilette! Stecken Sie sich den Finger in den Hals! Keine Widerrede!"
Nach kurzem Zögern gehorchte ich, wenn auch nur widerwillig. Der Arzt kochte vor Wut, da war es besser, ihn nicht noch mehr zu reizen. Ich gab ein würgendes Geräusch von mir und übergab mich in die Kloschüssel. Das war nicht ganz so unangenehm, wie der Rest der Situation. Die Pillen waren wirklich verschwunden gewesen. Es war mir unerklärlich, wie die eine in meinen Mund gekommen war. Und die anderen, die nun in der Schüssel gelandet waren.
"Was ist nur mit Ihnen los?", fragte der Arzt rhetorisch. "Ich war mir ganz sicher, dass es nicht nötig ist, Sie irgendwo einliefern zu lassen. Bisher lief auch alles ganz gut, aber ich habe mich wohl doch getäuscht."
Ich wischte mir den Mund ab und drehte mich um. Mein Körper zitterte - eine Folge der Anstrengung.
"Sie wollen mich in die Klapse stecken?", fragte ich ungläubig.
Als er mein Gesicht sah, regte sich der Arzt ein wenig ab. Seine Stimme wurde wieder etwas freundlicher. Jedoch nur zum Schein, wie ich den Eindruck hatte. Damit ich mich nicht widersetzte.
"Verstehen Sie doch: Ich will Ihnen nur helfen, und Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe. Rund um die Uhr. Kommen Sie, wir fahren sofort los."
Ich schaute betreten zu Boden, wagte aber keinen Widerstand. Innerlich wünschte ich mir, es würde wieder irgendwas Merkwürdiges passieren, das dieses Mal aber den Arzt traf. "Darf ich mir wenigstens noch etwas Trockenes anziehen?"
"Nicht nötig. Sie bekommen dort Sachen gestellt. Kommen Sie jetzt bitte mit."
Er ging voraus. Auf dem Flur hob er die Tasche wieder auf, die er dort stehen gelassen hatte, als er zum Wasserhahn stürzte. Ich folgte ihm bis zur Haustür, ohne dass etwas geschah. Wie gesagt, bis hier.
Die Haustür ließ sich nicht öffnen. Innerlich triumphierte ich, denn das war das Beste, das hätte passieren können. Wenn man davon absah, dass ich genauso gefährdet war.
Herr Brandt drückte mehrmals die Klinke nieder und zog kräftig daran, ohne dass sie sich rührte.
"Wann haben Sie denn zugeschlossen?", fragte er mich. "Schließen Sie bitte wieder auf."
Hilflos schüttelte ich den Kopf, ganz aufrichtig. "Ich habe nicht zugeschlossen. Wo der Schlüssel ist, weiß ich nicht."
Seine Stimme klang nun wieder erregter.
"Aber vorhin ist die Tür doch offen gewesen."
In seinem Gesicht arbeitete es, als sein Gehirn nach einer logischen Erklärung suchte. Genau dasselbe hatte ich auch durchgemacht, vor einigen Minuten.
"Vermutlich klemmt sie einfach nur."
Wieder zog er ein paar Mal kräftig daran, bevor er sich wieder an mich wandte.
"Geben Sie mir bitte trotzdem den Schlüssel. Vielleicht hat sich die Tür automatisch verschlossen."
Er glaubte selbst nicht an die Erklärung, das spürte ich, aber er brauchte sie, um nicht verrückt zu werden.
"Ich weiß nicht, wo er ist", gab ich ehrlich zu. "Aber ich kann ihn suchen gehen."
Eigentlich ollte ich ihn nicht finden, nur um dem Arzt eins auszuwischen, doch allmählich bekam ich selbst ein wenig Angst. Wenn zwei Menschen die selben Halluzinationen hatten, dann stellte sich die Frage, ob sie sich das wirklich nur einbildeten. Besser war es, ich fand den Schlüssel und wir verschwanden von hier.
Ein Schlüsselbrett entdeckte ich nirgendwo. An eine Handtasche konnte ich mich nicht erinnern.
"Vielleicht irgendwo in der Wohnstube?", vermutete ich achselzuckend und ging langsam den Flur zurück. Da der Arzt auch nicht wusste, was zu tun war, folgte er mir.
Aus den Augenwinkeln sah ich einen Schatten vorbeifliegen, gefolgt von einem hässlichen Scheppern.
Hinter mir stürzte der Arzt blutüberströmt in einem Scherbenhaufen zu Boden und blieb reglos liegen. Der Rahmen des Spiegels fiel herab und blieb auf ihm liegen, als wäre das Ganze nur ein grausames Gemälde.
Für einen Moment hörte selbst die Welt auf zu atmen. Jeder Moment zog sich in sagenhafte Länge, jeden Sekundenbruchteil schien ich mit geschärfter Intensität wahrzunehmen, als gab mir Pause Gelegenheit, jede Kleinigkeit genau zu registrieren.
Als sich die Starre löste, begann ich stoßweise wieder Luft zu holen. Ich kämpfte gegen das eisige Garn an, das mir den Hals zuschnürte und schluckte schmerzhaft. Es war meine Schuld. Ich hatte mir gewünscht, die seltsamen Ereignisse würden auch ihn treffen, doch da war noch niemand ernsthaft verletzt worden.
Zitternd kniete ich neben dem bewusstlosen Arzt nieder und räumte den Spiegelrahmen von ihm herunter. Das Bild gewann mehr an Realität. Ein schreckliches Bild. Das Gesicht des Mannes war zerschnitten und Glasscherben steckten überall darin. Alles meine Schuld. Ich suchte seinen Puls und fand ihn rasend vor. Wenigstens lebte er noch.
Da sah ich seine Tasche neben ihm liegen. Anfangs hatte ich mich noch gefragt, ob dieser Mann Arzt war und ob er überhaupt existierte, nun könnte ich es nachprüfen. Auch wenn es gerade reichlich unpassend war, ich zog die Tasche zu mir heran und öffnete sie.
Zu meinem Erstaunen war sie leer.
Eine bittere Enttäuschung. Der Mann war kein Arzt, denn ihm fehlten die notwendigen Utensilien. Er behandelte mich nicht. Er konnte mir nicht helfen. Niemals hatte ich Stimmen gehört oder Punkte herumfliegen sehen, niemals hatte ich irgendwelche Halluzinationen gehabt. Niemals war ich verrückt gewesen. Alles, was in dieser Wohnung geschah, war real. Und ich musste hier so schnell wie möglich verschwinden, damit ich nicht so endete, wie Herr Brandt. Oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß. Vielleicht war er nur hier, weil etwas, das auch meine Halluzinationen verursacht hatte, ihn hierher getrieben hatte. Um das Ganze realer erscheinen zu lassen. Fast wäre ich darauf hereingefallen.
Die Flucht durch die Haustür war verhindert, also blieben nur die Fenster. Im Bad war alles vollkommen nass und in die Küche wagte ich mich nicht.
Ich erhob mich und lief in die Wohnstube, den einzigen Raum, der mich bisher verschont hatte. Legte meine Hand auf den Griff eines Fensters. Das sich nicht öffnen ließ. Hätte ich mir denken können.
Aber das war noch kein Grund, aufzugeben.
Ich wollte Abysstos Schicksal nicht teilen. Dieser Gedanke schoss mir plötzlich in den Sinn, wie vorhin mit der Gasleitung.
Vor meinem geistigen Auge sah ich die Stadt, einige Jahre nach dem ersten Vorfall. Die Menschen hatten die Ereignisse verdrängt, wollten sich nicht erinnern. Wollten nur weiterleben und hoffen, dass es vorbei war.
Doch das Grauen kehrte zurück. Es war von diesem Gas verursacht worden. Aber die Leitung war verschlossen worden und es hatte kein Gas mehr gegeben. Man dachte, das Grauen wäre vorbei. Aber es kehrte zurück, schleichend, rachsüchtig, planend. Keiner konnte ihm entkommen.
Eines der ersten neuen Opfer beging Selbstmord, die anderen wurden entweder sofort getötet oder zu Werkzeugen. In der Stadt brach das Chaos aus als die Menschen zu fliehen versuchten, doch sie kamen nicht weit. Feuer wüteten, Häuser stürzten ein, Menschen töteten sich gegenseitig, die Luft war schwer vom Geruch nach Blut und verbranntem Fleisch. Am Ende rissen Straßen und Häuser ein, und dann ... und dann ...
Die Bilder wichen von mir. Fast hatte ich sie vergessen, als ich wieder den Entschluss fasste, von hier zu verschwinden.
Auf dem Tisch stand eine Vase mit Trockenblumen darin. Ich griff mir das schwere Gefäß und schleuderte es mit voller Wucht gegen die Scheibe. Die Vase zersprang und die Scherben flogen in alle Richtungen. Das Fenster selbst zeigte nur einen münzgroßen, weißen Punkt mit kleinen Sprüngen wie Wurzeln darum, wo die Vase es getroffen hatte. Ich brauchte etwas Schwereres. Oder Stabileres. Meine Augen schweiften suchend umher.
Den Fernseher konnte ich nicht heben.
Das Telefon war zu leicht.
Der Stuhl war eine gute Idee.
Ich packte fest die Lehne einer dieser Sitzgelegenheiten und stieß dessen Beine mit voller Wucht gegen die schon beschädigte Scheibe. Mit lautem Scheppern gab das Glas nach und die Scherben flogen nach draußen. Hoffentlich kamen sie nicht zurück, um sich an mir zu rächen. Wenn ich so darüber nachdachte, konnte das durchaus passieren. Sie wären hier nicht die ersten Gegenstände, die sich selbstständig machten. Die Teller und der Wasserhahn hatten es schon gut vorgemacht.
Mit einem Satz war ich am offenen Fenster, kalte Luft wehte mir entgegen, zerzauste meine Haare. Dort sah ich endlich hinaus und blieb stehen. Durch die milchigen Scheiben hatte ich kaum etwas erkennen können, sodass ich eigentlich gar nicht wusste, in was für einer Wohnung ich war. Nun aber sah ich es.
Der Boden war weit entfernt.
Meine Wohnung befand sich ganz oben in einem Neubaublock, sodass das sichere 'draußen' unerreichbar war.
Es konnte aber ein Trick sein. Ganz sicher war es ein Trick. So wie die Tabletten, die sich spurlos aufgelöst hatten, damit ich sie allesamt unachtsam schluckte. Jemand oder etwas wollte nicht, dass ich entkam, und beschwor diese Illusion großer Höhe herauf. Wenn ich sprang, würde ich sicher wohlbehalten unten landen. Vielleicht sollte ich genau das denken und springen, aber in Wahrheit brach ich mir dann das Genick am Boden. Leider durchschaute ich die Ereignisse nicht gut genug, um eine präzise Vorraussage zu treffen.
Und außerdem hing ich zu sehr am Leben. Ich konnte nicht springen. Aus Angst, dass meine Entscheidung falsch war.
Abyssto - die Bilder kehrten zurück.
Zwei Personen hatten überlebt: ein Mann und eine Gestalt, die ich nicht erkannte. Sie standen auf einem Hügel oberhalb der Stadt, während unten in den Straßen das Chaos tobte.
"Warum machst du das?", schrie der Mann die andere Gestalt an. "Was haben wir dir getan?"
Die Gestalt warf ihm aus funkelnden Augen einen hasserfüllten Blick zu und sah dann wieder auf die Stadt hinunter. Gedämpft hallten Schreie hinauf.
"Ich hasse sie. Ich hasse alle Menschen! Sie sind doch alle gleich! Sie verdienen es nicht, zu existieren!"
Der Mann atmete schwer, denn es lag ein Rauchgeruch in der Luft. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, weil die Sonne heiß und gnadenlos herunterschien. Heiß und doch eiskalt, wie ein gefrorenes Herz.
"Und warum lebe ich dann noch? Ich bin doch auch 'nur' ein Mensch."
Er spie der Gestalt das Wort förmlich entgegen. Die sich nicht rührte, ungeachtet der Worte.
"Aus einem einfachen Grund: Es war dein Blut, das mich wieder zum Leben erweckt hat. Nur deswegen lebst du überhaupt noch."
Was kompletter Unsinn war. Hätte er sich nicht sturzbesoffen den Kopf an dem Grabstein aufgeschlagen, müsste Abyssto jetzt nicht untergehen.
"Es steht dir frei, zu gehen", fuhr die Gestalt fort. "Verschwinde und lebe, solange du noch kannst. Oder bleibe hier und warte darauf, dass ich dich töte. Das tue ich dann. Also entscheide dich!"
Dem Mann stiegen Tränen in die Augen. Vor Trauer oder wegen dem Rauch, der langsam dichter wurde. Einen letzten Blick warf er noch hinunter auf seine Heimatstadt, an der so viele Erinnerungen hingen, doch er konnte sie nicht mehr sehen.
Dann drehte er sich um und verließ den Schauplatz. Für immer.
"Trottel", flüsterte die Gestalt, bevor sie sich wieder der Stadt zuwandte und Kontakt mit ihr aufnahm, um ihr den Todesstoß zu versetzen.
Ein Stich im Herzen riss mich zurück und ich sank schwer atmend auf dem Fußboden nieder. Ich spürte Tränen in den Augen und mir war, als könnte ich den Rauch riechen. Doch das war lediglich eine Nachwirkung dieser Vision aus der Vergangenheit. Alles, was ich gesehen hatte, war vor langer Zeit passiert. Und das Wesen war hier, noch genauso hasserfüllt Menschen gegenüber, und trachtete mir nach dem Leben. Ohne einen bestimmten Grund, sondern einfach nur, weil ich war, was ich war.
Aber ich würde auf keinen Fall kampflos untergehen, auch wenn für mich nicht die geringste Überlebenschance bestand, gegen ein Wesen, das eine ganze Stadt auslöschen konnte. Ich brauchte nur noch eine Waffe.
Vor mir stand der Stuhl.
Das Stechen in meinem Herzen ließ nach, als das Adrenalin durch meine Adern strömte und mir Kraft verlieh. Ich stand auf und wischte mir die Tränen aus den Augen. Ich war bereit zu fliehen, zu kämpfen, zu leben, was sich ergab.
Komm nur, du Mistvieh, was immer du auch bist. Auge um Auge, du oder ich. Du hast mich herausgefordert, also nenne ich Zeit, Ort und Waffe. Hier, jetzt und freie Waffenwahl. Alles ist erlaubt, wir kämpfen bis zum Tod, oder bis einer aufgibt. Komm nur, komm. Ich warte auf dich. Sei nicht feige.
Kaum hatte ich das gedacht, trat jemand in den Raum. Es war der Pseudo-Arzt, das Bild des Grauens. Tiefe Schnitte prangten auf seinem Gesicht, das Blut lief herunter. Ein Schnitt verlief mitten durch sein linkes Auge, ein anderer spaltete die rechte Wange und ließ blutige Zähne durchschimmern. Sein rechtes Ohr fehlte zur Hälfte. In der rechten Hand hielt er hoch erhoben eine große Spiegelscherbe, die gefährlich blitzte.
"Angenommen", sagte er mit einer fremden Stimme und kam näher.
Er war nicht er selbst, sondern wurde von dem bösen Geist beherrscht. Geist? Das Wort passte nicht ganz, traf es aber trotzdem am besten.
Ich griff mir den Stuhl und entschuldigte mich im Stillen bei dem Mann, der zufällig in diese Geschichte geraten war und jetzt dafür mit seinem Blut bezahlte.
Ungeschickt hob er den Arm mit der Scherbe. Ungeschickt, als ob der Geist den Körper nicht gut kontrollierte. Oder als ob der Mann gegen die Kontrolle ankämpfte.
Ich schlug zu und hoffte, dass das die richtige Entscheidung war. Was war, wenn der Arzt in dem Augenblick er selbst wurde und sah, wie ich ihn angriff? Doch nein, er stürzte bloß zu Boden. Die Scherbe schnitt ihm beim Aufprall tief in die Handflächen.
Sollte ich ihn aufstehen lassen, wie es sich bei einem fairen Duell gehörte?
Aber dieses Duell war sowieso nicht fair. Außerdem war nur der Körper gefallen, mein Gegner stand noch.
Ich nutzte die Chance und sprang an ihm vorbei.
Als er hochkam, stieß ich wieder zu.
Und schob ihn mit aller Kraft zurück.
Ehe der Körper Gelegenheit zum Wehren hatte, hing er rückwärts mit dem Oberkörper im Fenster. Und ich schob weiter und weiter, drückte mit vollem Körpereinsatz gegen den Stuhl.
Bis der Druck nachließ und ich die Hülle des fremden Willens nicht mehr sah. Kurz darauf hörte ich von draußen einen dumpfen Aufschlag. War wohl doch ziemlich hoch gewesen. Gut, dass ich nicht gesprungen war.
"Schick mir den nächsten Gegner, Abyssto. Ich bin bereit!", rief ich durch die Wohnung und fuchtelte angriffslustig mit dem Stuhl. Auch wenn mir eigentlich eher nach wegrennen und verkriechen zu mute war, aber Tiere bissen zurück, wenn man sie in die Ecke drängte.
Ich hatte den Geist beim Namen der Stadt genannt. Sein richtiger war mir nicht bekannt. Und es machte keinen Unterschied.
"Schon unterwegs", antwortete eine flüsternde Stimme.
Und da begriff ich. Mein Blick wanderte wissend zum zerbrochenen Fenster.
Mit einem Knall fiel der Stuhl auf den Boden.
Es war mir niemals bestimmt gewesen, diese Wohnung lebend zu verlassen.
Und ich sollte mich auch niemals an irgendetwas erinnern. Von Anfang an bestand nicht die geringste Chance. Alles, was geschehen war, war lediglich Teil eines grausamen Spiels. Was ich getan hatte, machte es nur interessanter.
Ich war nicht mehr als eine Spielfigur auf dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett. Ich hatte eine Figur rausgeworfen, die auf dem Haus gestanden hatte. Der Gegner hatte mit seinem gezinkten Würfel eine Sechs erhalten, und brachte nun noch jemanden aufs Feld.
"Warum hasst du mich so?", fragte ich ungläubig. "Was habe ich dir nur getan?"
Die antwortende Stimme schien von keinem bestimmten Punkt zu kommen, sondern verteilte sich im Raum wie Gas.
"Du weißt es doch schon: Ich hasse dich, weil du ein Mensch bist. Eine widerwärtige Kreatur. Willst du noch weiter kämpfen?"
Vor Wut schrie ich los: "Was soll das? Du bist doch auch ein Mensch gewesen! Du bist auch widerwärtig!"
Die Stimme schwieg für einen kurzen Moment.
"Ja, aber ich habe es wenigstens begriffen."
Wieder kurzes Schweigen.
"Aber ich lasse dir eine Wahl: Entweder du stirbst, oder du überlässt mir deinen Körper. Du kommst hier sowieso nicht lebend raus."
Darum ging es im Leben, Kontrolle zu erlangen. Nur, dass ich sie hier sowieso nicht gehabt hatte, ich hatte nichts zum Überlassen. Und selbst wenn, würde ich es nicht wollen. Niemals wollte ich zu einem Monster werden, wie der Arzt es geworden war.
"Niemals, ich werde dir nicht dienen", antwortete ich mit fester Stimme. "Dann kämpfe ich lieber weiter und sterbe."
Die körperlose Stimme lachte über meinen Trotz.
"Du kannst auch aufgeben."
Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Es gab nur noch ein erreichbares Ziel, aber verschiedene Wege, auf denen ich es erreichen konnte.
Auf dem Flur ging ich langsam in die Hocke und hob eine Scherbe auf. Damit schritt ich weiter, wie ein Verurteilter zum Galgen. Ich fühlte nichts mehr, keine Angst, keine Wut. Wie ein kahler Wald, den eine Krankheit vor langer Zeit dahingerafft hatte und in dem kaum noch Tiere lebten.
Als ich das Schlafzimmer betrat, hörte ich Sirenen aus der Ferne heulen. Ich konnte mir denken, was passiert war.
Nachdem der Arzt aus dem Fenster gestürzt war, hatten Nachbarn seine Leiche gesehen und die Polizei verständigt. Der entstellte Körper und die zerbrochene Scheibe, die zu meiner Wohnung gehörte, ließen für sie nur einen Schluss zu: Dass ich verrückt und gefährlich war. Sie würden vielleicht nicht schießen. Eher würden sie mich in eine Anstalt einliefern und so lange mit Medikamenten voll pumpen, bis ich nicht mehr ich selbst war. Es gab keinen Ausweg mehr. Abyssto musste nicht mehr eingreifen, um mich zu vernichten. Es war nicht nötig, wenn auch trotzdem möglich.
Langsam legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen, die Spiegelscherbe in der Hand. Neben mir wurde die Decke von einem fremden Willen erfasst. Die Decke, die schon vorhin beim Erwachen versucht hatte, mich zu töten...


(geschrieben: 6.5.2007 - 11.5.2007)

 

Hallo Lea!

Danke für deine Kritik. Das mit den Sätzen ist wohl ein weitreichendes Problem von mir, ich schau mal, was ich da machen kann.

Allgemein dachte ich, dass Spannung entsteht, wenn dem Leser Informationen vorenthalten werden, die er noch erfahren möchte. Z. B. weiß er hier nicht, worin die Gefahr besteht. Der Schuss ging wohl nach hinten los, weil man anfangs nicht erfährt, dass eine überhaupt eine Gefahr besteht. Aber liege ich denn mit meiner Theorie so falsch?

Du schreibst auch gar nichts über den weiteren Verlauf. Habe ich dich so gelangweilt, dass du abgebrochen hast? Hm...
Jedenfalls Danke, dass du dir trotzdem die Mühe gemacht hast.

Grüße von Jellyfish

 

So, hab die Sätze durch den Fleischwolf gedreht, die rhetorischen Fragen entfernt und die Badszene gekürzt. Hoffe, dass es so besser ist.

Grüße von Jellyfish

 

Die Sätze sind wieder etwas länger geworden, dito der ganze Text. Hat mir vorher einfach nicht gefallen.

Hallo Jekyll, hab es endlich geschafft!
Nun zu deinen Bemerkungen:

Lesezeit: 15-23min
jo...nein eigentlich nicht... ist das ernst gemeint?

Was denn? Mehr, weniger, dicht dran, weit weg, knapp vorbei oder was?


Okay...
wieso schreit sie?
Hat sie kein kaltes Wasser erwartet?....Der Vergleich mit der Klippe wirkt irgendwie aufgesetzt (nach meiner Meinung)

So viel nicht, nein. Oder spritzt es bei dir zu Hause auch so raus?
Aber na gut, vielleicht ist das doch etwas übertrieben.

Alles nass, ich, Garnitur, Boden, Tapete.
Der Esel nennt sich immer zuerst.... hahaha (FUNNY!!!)

Dann ist "Alles" wohl der Esel.... hahaha (selber FUNNY!!!)

auf einem fremden Planeten gelandet. Oder in einer fremden Küche
Ja... hehe, fast das selbe.

Ich lese da nichts Negatives raus, also lasse ich das mal so.

"Mund auf", befahl er.
Ich gehorchte.
wow... ein Film für Erwachsene....(Anspielung auf´n Porno...das kam nicht rüber... naja)

Nicht zu vergessen: Im Spiegel steckt ein Perverser und die Scheiben sind voller weißer Flecken. Die Scherben sind als Anspielung auf SM zu sehen. Hab ja wirklich total die Kategorie verfehlt.
(Mal ernsthaft: Hätte sich ein "Sag mal ahhhhh" besser gemacht?)

Den Fernseher konnte ich nicht heben.
Das Telefon war zu leicht.
Der Stuhl war eine gute Idee.
Das fand ich gut.

-5
-12
-30
-5
-200
+1

Gut, hab das Lob auch notiert.


Ein paar sprachliche Fehler und Kommafehler (die ich nicht rausgesucht habe), sind meines Wissens auch noch drinnen. Wenn du schaust, findest du sie.

Find ich gut, dass du mich das alleine machen lässt. Das Raussuchen wäre auch sinnlos, wenn ich den Text sowieso komplett überarbeite.

Ich kenne die alte Fassung nicht und deswegen kann ich aber auch nichts zur Verbesserung der Geschichte sagen.

Die habe ich auch noch liegen. Kannst haben, wenn du willst.

Du kannst mir ja (wenn du möchtest), bei Gelegenheit erklären, was genau die ganze Story zu bedeuten hat.

Hast ja die PN gekriegt.


Viele Grüße von Jellyfish

 

Würde ich, wie auch das "trotzdem", weglassen. Doppelt gemoppelt bzw. ist es nicht "trotzdem", sondern deshalb so.

Als sich die Starre wieder löste, begann ich stoßweise wieder Luft zu holen.
Bitte einmal "wieder" weg.

Niemals bin ich verrückt gewesen. Alles, was in dieser Wohnung geschah, war real.
Bitte bleib in der selben Zeit, sonst war ich doch noch verrückt gewesen ;-)

Eines der ersten neuen Opfer beging Selbstmord, die anderen wurden entweder sofort getötet zu Werkzeugen.
Da fehlt das Oder.

Fast hatte ich sie wieder vergessen, als ich wieder den Entschluss fasste, von hier zu verschwinden.
Bitte einmal "wieder" weg.

gar icht
;-)

Zwei Personen hatten überlebt: ein Mann und eine Gestalt,
Aber wenn alle sonst tot warn, woher weiß sie das alles und wieso ist die Menschheit nicht ausgestorben?

ein anderer spaltete die rechte Wange und ließ weiße Zähne durchschimmern
In dieser Realität sind wohl auch weiße möglich, aber blutige Zähne fänd ich besser.

dass er Arzt nicht in dem Augenblick er selbst wurde und mich ihn angreifen sah.
Einmal D vergessen. Sorry, der Satz ist schrecklich! Auch die Zeit stimmt nicht überein.

Ehe der Körper Gelegenheit zum Wundern hatte, hing er rückwärts mit dem Oberkörper im Fenster. Und ih schob weiter und weiter, drückte mit vollem Körpereinsatz gegen den Stuhl.
Ein seelenloser Körper kann sich nicht wundern. Bei ich C vergessen. Leuchtet mir nicht ein, wie sie ihn mit dem Stuhl aus dem Fenster schiebt. Ich würde seine Beine packen.

die zerbrochene Scheibe zu meiner Wohnung
Hört sich für mich grammatikalisch falsch an.

Der Vergleich mit dem Spiel ist gut, aber für mich zu ausführlich -4 mal Spiel hintereinander.

Falls nun der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich diese Geschichte nicht mag, muss ich heftig widersprechen! Besonders das Ende ist sehr gelungen. Hut ab vor Deiner Fantasie!
Bis bald auf eine neue Geschichte. VlG Damaris :-)

 

Lieber Jellyfish,
hab ichs mit dem Zitieren endlich kapiert und gleich übertrieben, so dass mir der Anfang meiner Antwort gelöscht wurde :-?
Macht nichts, handelt sich um Flüchtigkeitschreibfehler, verschiedene Zeitverirrungen und teils, meiner Meinung nach, doppelt Gemoppeltes, wie oben zitiert.
Wenn Du noch mal drüber gehst, wäre das die erste Horrorgeschichte, die mir gefällt. (Sonst mag ich so was nicht.)
VlG Damaris :-)

 

Hallo Damaris! Ich danke dir.

Manchmal kann ich mir nur an den Kopf fassen, wegen den dummen Fehlern, die sich da einschleichen.

Aber wenn alle sonst tot warn, woher weiß sie das alles und wieso ist die Menschheit nicht ausgestorben?
Es haben ja nur zwei aus Abyssto überlebt, und wo Miranda wohnt, erfährt man ja nicht, aber auf jeden Fall ganz woanders. (Außer natürlich, sie unterliegt bereits der Kontrolle des Geistes und bildet sich die Geschichte in ihrer Wohnung nur ein. Möglich wäre es ja. ;))
Und das mit der Menschheit hatte ich mir auch schon gedacht. Vielleicht wurde sie ja ausgerottet - im vorigen Universum. Nee, schon gut. Es reicht doch, wenn Abyssto ausgerottet wurde.

Leuchtet mir nicht ein, wie sie ihn mit dem Stuhl aus dem Fenster schiebt.
Ich kann das nicht besser beschreiben, sry.
Ich würde seine Beine packen.
Ist der nicht etwas zu schwer?

Hab ansonsten korrigiert, was du gesagt hast und was ich sonst noch gefunden habe.
Schön, dass dir die Geschichte gefällt. Da hat sich die zweite Komplettüberarbeitung ja gelohnt. :D

Danke nochmal für die Mühe und viele Grüße von Jellyfish

 

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