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Achterbahn fahren
Geballte Fäuste, auf den Boden aufstampfende Füße, heiser geschriene Stimmen. Es ist bereits dunkel geworden. Einzig das Licht der Straßenlaterne sorgt dafür, dass die Schatten der Küchenstühle die Karos der Fliesen überlagern. Keiner der beiden hat den Weg zum Lichtschalter gefunden. Sie ringen mit sich, miteinander, zwei Tiger im Käfig namens Küche. Fremde Worte, nie mehr als eine störende Unterbrechung des eigenen Redeflusses. Oft schreien sie gleichzeitig. Ein Satz, ein Treffer, Selbstachtung versenkt. Gute Zielkenntnis hat tiefe Wunden zur Folge.
„Du bist total überfordert, du packst das doch eh nicht“, schleudert Stefan ihr entgegen. Sie hatte ihm einst ihre Angst anvertraut zu versagen.
„Du bist auch nicht besser als all die prinzipienlosen Wichtigtuer“, tobt Anna. Sie weiß, wie sehr er leidet unter all den Menschen, die keinen Anspruch haben, weder an sich noch an andere.
In den Wunden bohrende Finger. Auf dem Tisch die Flugtickets für die gemeinsame Reise nach Barcelona übermorgen, zerrissen, das hat Anna gemacht. Daneben Stefans Laptop mit der Präsentation für die Tagung in Bern, auf der er grundlegende Veränderungen bewirken will, ebenfalls übermorgen, kurzfristig anberaumt. Anna will keine weltbewegenden Erneuerungen. Anna will Urlaub, mit Stefan, in Barcelona.
„Ich kann jetzt nicht länger mit Dir reden“, flüstert sie erbittert. „Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch einmal will.“
Gepresste Stimme, sich in die Handinnenflächen bohrende Fingernägel, zusammengebissene Lippen. Jegliche Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen, längst hat sich ihr Zorn in Enttäuschung und Abscheu gewandelt. Anna erhebt sich vom Küchentisch und geht ans Fenster, Stefan lehnt noch immer gegen die Gefriertruhe und starrt regungslos auf den Boden. Der Kühlschrank brummt, Anna schluchzt, sonst nichts, minutenlang.
„Warum hast du das getan, warum nur?“ Ihre Frage zerschneidet die Stille, Stefan schweigt. Anna wartet nicht länger auf eine Antwort, die sie während der gesamten Diskussion nicht gehört hat, und verlässt seine Wohnung mit einem lauten Türenknallen, sie ist sich sicher zum letzten Mal. Er gleitet hinab auf die kalten Fliesen und sackt in sich zusammen.
Was für ein erhabenes Gefühl, vor einer leeren, weißen Leinwand zu stehen. Der Maler reibt sich euphorisch die Hände, greift nach einem Pinsel, taucht ihn in die blaue Farbe und kleckst in tiefer Konzentration und nur scheinbar sorglos einige Spritzer auf das Gewebe. Der Fleck verteilt sich nicht, sondern bleibt da, wo er das Leinen berührt. Der Maler wechselt den Pinsel und mit ihm die Farbe. Gelbe Stellen bilden sich auf dem Weiß, weit entfernt vom Blau. Links Gelb, rechts Blau, nichts dazwischen. Beide sind ängstlich darauf bedacht, ohne die Spuren des anderen zu bleiben.
Am nächsten Morgen gilt Annas erster Blick dem Anrufbeantworter. Rote Null statt blinkender Eins. „Idiot. Als ob ich mit dir reden würde“, murmelt sie, nimmt das Telefon, geht mit ihm ins Bad. Im Spiegel ein Gesicht, das die Tränen und die fehlende Ruhe nicht leugnen kann. Geschwollene Lider, tiefe Ringe unter den Augen, gerötete Haut. Zur selben Zeit verlässt Stefan seine Wohnung, stolpert im Flur über die Sporttasche von gestern Abend, ärgert sich über seinen Kater, steigt in den Golf und fährt zu ihr.
Er klingelt, sie rast zur Tür, hofft, dass es er ist, und er ist es. Er lehnt im Türrahmen, die Jeansjacke lässig über die Schulter gelegt, nach seinem herben Rasierwasser duftend, die Haare mit Gel in Form gebracht. Sie schaut ihn an, er schaut sie an, er reuig, sie verzweifelt. Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. Sie sieht ihn, sie riecht ihn, sie hört ihn „Können wir reden“ sagen, sie ergreift seine Hand, zieht ihn in die Wohnung, schlägt mit ihrem rechten Fuß die Tür zu, sie stolpern in Richtung Schlafzimmer und reißen sich trunken die Kleider vom Leib. Gierig nehmen sie Besitz voneinander, es ist unklar, was noch Anna, was schon Stefan ist, was keines von beiden sondern etwas Neues, Vereintes, Drittes. Sie genießt ihren Körper, sie genießt seinen, er genießt ihren, er genießt seinen, die Grenzen sind fließend. Lisa ruft an, eine Freundin von Anna, sie spricht auf den Anrufbeantworter, sagt: „Sorry, dass ich gestern nicht mehr zurückrufen konnte, ich komm grad erst heim. Liebes, wir wissen doch, dass er ein Arsch ist, der hat dich gar nicht verdient. Pass auf: Wir ziehen heute Abend zusammen los, das wird dich ablenken, ja? Ruf mich an!“ Spüren, schmecken, hören, nicht Lisas Stimme, nur einander. Schreie beinahe so laut wie am Abend zuvor.
Was für ein erhabenes Gefühl, vor einer weißen, leeren Leinwand zu stehen. Der Maler reibt sich euphorisch die Hände, greift nach einem Pinsel, taucht ihn in die blaue Farbe und kleckst in tiefer Konzentration und nur scheinbar sorglos einige Spritzer auf das Gewebe. Das Blau verteilt sich auf dem Weiß, als wäre es auf der Suche nach anderen Farben. Wie Kraken breitet der Fleck sich aus und wird immer dünner. Der Maler wechselt den Pinsel und mit ihm die Farbe. Gelbe Gebilde bilden sich auf dem Weiß, nicht lange entfernt vom Blau. Das Gelb fließt den blauen Armen hemmungslos entgegen, als hätten beide nur das Ziel, zu Grün zu verschmelzen, unter Missachtung aller Grenzen. Kein Blau, kein Gelb, ganz allein Grün. Der grüne Kreis in der Mitte wächst und wächst, bis er der einzige noch vorhandene ist.
Tage später, Party bei Lisa, die ersten Weinflaschen bereits leer, das Buffet abgeräumt. Anna steht zusammen mit ihren Arbeitskollegen im Wohnzimmer, die neue Kampagne, das überarbeitete Konzept, Stöhnen über die Überstunden. Stefan versteht nur Wortfetzen. Er lehnt in der Ecke, eine Flasche Bier in der Hand, schaut zu wie Bibbi, Lisas Katze, sich an seine Beine schmiegt. Neben Anna der gut aussehende Abteilungsleiter. Er kann seine Augen nicht von ihr lassen, auch seine Hände nicht. Sie lässt sich in den Arm nehmen, ein neues Glas Wein von ihm holen, eine Haarsträhne zurück in die Spange stecken, ihr Lachen klingt einige Töne zu hoch. Anna gestikuliert, hat Stefan im Augenwinkel, dreht sich zur Seite, so dass er sieht wie der Schönling ihr bewundernd über den Arm streicht, ihr etwas ins Ohr flüstert und sie sich zuprosten. Stefan tut weiterhin nichts. Er steht in der Ecke, trinkt sein Bier, als die Flasche leer ist stellt er sie auf den Boden, holt seine Jacke, winkt Lisa zu und geht. Wütend registriert Anna, dass er das Haus verlässt, drückt dem Kollegen das Glas in die Hand, läuft ihm hinterher. Die Begegnung findet im Garten statt. Sie hält ihn am Arm fest, fragt: „Was soll das?“ „Sag du es mir“, so Stefan. Sie schauen sich an, für wenige Sekunden, und suchen nach Zugang zueinander. Ihr Blinzeln verrät das Déjà Vue, einen Blick lang, in seinen Augen spiegelt sich die Ahnung des Abgrunds, noch scheint alles möglich, dann ist es vorbei, sie verlieren sich und werden auseinander getrieben. Sie stehen 40 Zentimeter voneinander entfernt und könnten sich doch nicht berühren, selbst wenn einer von ihnen es versuchen würde. Er überschreitet die Grenze als erster, kämpft nicht länger dagegen an, sagt: „Du Schlampe.“ Sein Gesicht zeigt immer noch die Verletzung, Anna sieht es nicht mehr, ist auf Abwehr programmiert. Sie gibt ihm eine Ohrfeige, kontert: „Du kannst ja nur nicht ertragen, dass du mal nicht im Mittelpunkt stehst.“ Ihre zitternden Hände, ihr verzweifelter Blick signalisieren den Wunsch nach Umarmung, nach Anerkennung von ihm und nicht von anderen, er spürt es nicht. Es vergehen Minuten mit Worten, die sie später bereuen werden. Stefan lässt Anna stehen und fährt nach Hause, Anna geht zurück zur Party und tanzt mit dem Abteilungsleiter zu „Lady in Red“. Zuhause bei Stefan, ein leeres Blatt Papier auf dem Tisch, daneben ein Stift, Stunden später in einem geschlossenen Umschlag der Abschiedsbrief an Anna.
Was für ein erhabenes Gefühl, vor einer weißen, leeren Leinwand zu stehen. Der Maler reibt sich euphorisch die Hände, greift nach einem Pinsel, taucht ihn in die blaue Farbe und kleckst in tiefer Konzentration und nur scheinbar sorglos einige Spritzer auf das Gewebe. Das Blau verteilt sich auf dem Weiß, als wäre es auf der Suche nach anderen Farben. Wie Kraken breitet der Fleck sich aus und wird immer dünner. Der Maler wechselt den Pinsel und mit ihm die Farbe. Gelbe Gebilde bilden sich auf dem Weiß, nicht lange entfernt vom Blau. Das Gelb fließt den blauen Armen hemmungslos entgegen, als hätten beide nur das Ziel, zu Grün zu verschmelzen, unter Missachtung aller Grenzen. Kein Blau, kein Gelb, ganz allein Grün. Der grüne Kreis in der Mitte wächst und wächst, bis er der einzige noch vorhandene ist. Der Maler bricht in hämisches Gelächter aus. Er hatte versehentlich zuviel Flüssigkeit in die Farben gemengt. Er steht vor dem Bild, erhebt die Arme und gebietet bestimmt: Trennt euch. Und sie streben auseinander, die eine nach links, die andere nach rechts, und niemand würde vermuten, dass jemals auch nur ein Tropfen Blau im Gelb, ein Spritzer Gelb im Blau gewesen ist.
Dienstagabend, Kochkurs in der Lehrküche der Volkshochschule. Jeden Dienstagabend seit fünf Wochen, 18:30 Uhr. Stefan registriert erleichtert, dass er vor ihr da ist und sucht sich einen Platz, von dem aus er die Tür im Blick hat. Anna betritt unschlüssig den Raum, entdeckt ihn, streicht sich ihre Haare zurück und zögert. Gespräche mit Lisa, stundenlang, die alle das Ziel hatten, dass sie zuhause bleibt. Aber Anna ist hier. Sie ist hier und nähert sich langsam Stefans Küchenzeile, er hackt bereits konzentriert die Zwiebeln klein und reagiert auch nicht auf ihr Hüsteln.
„Na?“, fragt Anna.
„Na?“, antwortet Stefan und hält seinen Blick starr auf das Küchenbrett gerichtet.
Anna nimmt eine Zwiebel in die Hand, wiegt sie zunächst hin und her und beginnt dann, sie zu schälen.
„Du… Glaubst du, das Leben ist auch so? Wie diese Zwiebel, meine ich.“
Erstaunt schaut er hoch, blickt ihr in die Augen, die um Entschuldigung bitten.
„Ja, das denke ich“, entgegnet er schließlich. „Wir Menschen übrigens auch.“ Seine Gesichtszüge entspannen sich. Sie lächelt. Das Gespräch entwickelt sich, als hätten beide seit Jahren gierig darauf gewartet, die Gedanken schon immer in sich getragen. Was ist Wirklichkeit? Wer hat Einfluss auf unser Verhalten, was prägt uns? Haben wir eine Chance, aus unserer Haut zu kommen? Ihre Gedanken ziehen sich an, tauchen ineinander, fügen sich zusammen wie zwei Puzzleteile, die ihre Abgrenzung aufgeben sobald sie sich gefunden haben. Nicht Annas Worte, nicht Stefans, nur ein gemeinsames Bild, das entsteht und sich immer schärfer konturiert. Jeder Satz ein Impuls, noch tiefer zu gehen, hungrig auf der Suche nach Begegnung, Erkenntnis, Substanz. Austausch ohne Ende, fließende Energien, kontinuierliche Kicks allein durch Worte. Am Ende des Abends haben Anna und Stefan weder Kürbissuppe als Vorspeise, noch Gemüselasagne als Hauptgericht oder Schokoladenparfait als Nachspeise. Sie haben zwei geschälte Zwiebeln und einander. Sie sitzen sich müde auf Hockern gegenüber, die Hände miteinander verschränkt, und sind dem Verständnis der Welt ein Stück näher gekommen. Sie sind identisch.
„In der bipolaren manisch-depressiven Beziehung wechseln sich depressive und manische Episoden ab. Während der depressiven Phase leiden beide Partner unter ihrer Beziehung, oft ist das Bedürfnis, die Beziehung zu beenden, vorherrschend. Obwohl sie unzufrieden sind, sind sie entweder nicht in der Lage, sich von ihrem Partner zu trennen, oder die Trennung ist nicht von langer Dauer.
In der manischen Phase der Beziehung sind die Partner überschwänglicher und erregter Stimmung, sie fühlen sich zueinander hingezogen und sind leicht stimulierbar. Kennzeichnend ist, dass die nahezu zwanghafte Beziehung während beider Phasen der zentrale Punkt im Leben der Partner ist, ihr Umfeld spielt eine untergeordnete Rolle. Diese auch als Schübe bezeichneten Phasen werden nur bedingt durch äußere Impulse ausgelöst, in beiden Phasen haben die Partner keine Kontrolle über ihre Beziehung.
Die Beziehung lässt sich als stoffungebundene Sucht bezeichnen, die in der manischen Phase ausgelösten bio-chemischen Prozesse ähneln dem eines Rauschzustandes. Die Form der Beziehung ist oft extrem und teilweise sozial nicht akzeptabel, beide Partner empfinden häufig eine große Sehnsucht nach Extremsituationen.“
Sie quetschen sich in den engen Wagon und ziehen die Haltebügel über ihre Köpfe nach vorne. Anna hat ihre Brille abgelegt und klammert sich an der Metallstange vor ihr fest. Die Angst, kurz vor dem Losfahren, die ist immer da, auch nach so vielen Malen noch. Die Bahn setzt sich in Bewegung, Anna ergreift aufgeregt Stefans Hand, er legt schützend seinen Arm um sie. Sie werden langsam auf den Geleisen nach oben gezogen. Weg von den Menschen, vorbei an den Bäumen, Richtung Himmel. Ihr Herzschlag wird immer schneller, vor Vorfreude, vor Furcht, die Hände schweißnass. Oben angekommen hält der Zug für einige Sekunden. Unter ihnen Nichts, Leere, 30 Meter, dann der Asphalt. Anna möchte lieber sterben, als in den Abgrund zu fahren, Stefan beißt sich aufgeregt auf die Lippen. Die Bahn rollt, die rasante Abwärtsfahrt beginnt. Anna kreischt ängstlich, jauchzt fröhlich, im Wechsel, kaum zu unterscheiden. Stefan reißt mutig die Arme in die Höhe und schreit begeistert. Bevor sie es realisiert haben, sind sie auf der nächsten Erhöhung, rasen mit ungebremster Geschwindigkeit ins Looping. Ihr Haar weht im Wind, sie hält erschrocken den Atem an, als sie auf dem Kopf stehen, in die nächste Schraube gehen. Seine Augen sind schon längst geschlossen. Sekunden später, es kommt ihr wie Stunden vor, rollen sie in Richtung Ausgangspunkt. Anna strahlt ihn berauscht an. „Noch mal?“, fragt Stefan sie ekstatisch. „Noch mal“, antwortet sie verzückt und greift erneut nach seiner Hand.