Achtung: Lebensgefahr!
Achtung: Lebensgefahr
Wie Rasierklingen war die Kälte in dieser Nacht, die sich ja fast durch sein Fleisch zu schneiden schien.
Hier, so weit über den Dächern der Stadt, war es eine Stille, die er noch nie erlebt hatte.
Eine Stille, die ihn zweifeln ließ, ob das was er vorhatte, wirklich der letzte Ausweg war. Hatte er doch nie mehr gesucht, als das was er jetzt fühlte.
Natürlich wusste er um die Tatsache, dass es durchaus als skuril zu titulieren war, auf ein Dach zu steigen ohne überhaupt zu wissen was man vorhatte.
- Spring doch endlich!-
Ständig wanderte sein Blick gegen den Himmel. Suchend? Fragend?
Er wusste es selber nicht, doch vielleicht, so dachte er, würde er ja ein Zeichen erhalten, das ihm helfen würde jenen neuen Weg zu finden der ihm vorbestimmt war.
Doch die Sterne sahen mit jener Selbstzufriedenheit auf die Welt, die einem unmissverständlich klar machte wo der schönere Ort lag.
Ein weiterer Schritt nach vorne und immer näher rückte jene Absperrung mit der Aufschrift:
,,Achtung Lebensgefahr“.
Kurz schien ein Lächeln über sein Gesicht zu fliegen, da er sein Leben doch viel weniger vor einer Gefahr, als vielmehr vor einer Lösung sah, die andere in ihrer Kurzsichtigkeit durchaus als Selbstmord titulieren mochten.
-Ja! Morde dich nur selbst du Versager-
Er würde gleich einen Mord und somit die größte aller Unmenschlichkeiten begehen, die es gab. Diese Tatsache machte ihn nervös, war es doch die fehlende Menschlichkeit, die ihn zweifeln ließ, ob er wirklich weiter dieser Welt zugehörig sein wollte.
Wie konnte er nun aber jenen Weg als Lösung seiner Probleme sehen, wenn das Fundament dieser Lösung gleichzeitig die Ursache der Probleme war die er so verurteilte.
Wie Unmenschlichkeit mit Unmenschlichkeit bekämpfen?
Ihm war bewusst, dass er sich hätte durchaus vorher darüber Gedanken machen sollen und nicht erst wenn er die Entscheidung bereits getroffen hatte!
Aber hatte er das denn wirklich?
Und selbst wenn, war es wirklich Mord was er vorhatte, oder war es nicht möglich, dass es alternative Ausdrücke gab?
Doch er musste sich eingestehen, dass es wohl einfach unumgänglich war zu sagen:
er würde zum Mörder werden
Zum Mörder seines Körpers, seiner Träume und seiner Hoffnungen. Ein weiter Schritt rückwärts, weg von jenem Abgrund, der doch so verführerisch war und mit Träumen der Erlösung und Befreiung zu locken versuchte.
-Morde und du bist kein Stück besser als die da draußen!-
Aber bezeichnete Mord nicht vielmehr den Umstand, einem Menschen gewaltsam das Leben zu nehmen, welches er nicht verlieren wollte, folglich gerne länger gehabt hätte? Also war Mord quasi eine Art stehlen, bekam aber aufgrund der höheren Gewichtung ein eigenes Wort.
Aber wie sieht es aus wenn man sich seines eigenen Lebens bedient? Kann man sich selbst etwas gewaltsam nehmen?
Andererseits, so dachte er, während sein Blick leicht skeptisch zum Rand des Hochhauses wanderte, war es schon eine Art von Selbstgewalt hier runter zu springen.
Er setzte gerade an, einen weiteren Schritt nach hinten zu gehen bevor er innehielt.
Dies war nämlich die Stelle an der immer eine Frage in seinen Kopf drang, die ihm absolut antwortfrei erschien:
Hatte man denn nicht bereits bei der Entscheidung sein Leben zu beenden, selbiges verloren?
War der Verlust jeglicher Lebensmotivation, nicht bereits der erste und entscheidende Tod?
-Nichts zählt mehr als das Leben du Narr!-
,,Mein Leben? Welches Leben?“ Er wusste nicht warum, doch er begann zu schreien!
Es zog ihn einen Schritt nach vorne anstatt nach hinten und er spürte wie die Nacht ihn umschloss.
Wieder wanderte sein Blick gegen den Himmel und es kam in ihm die Frage auf, was man ihm denn eigentlich gewaltsam nehmen könnte? Oder besser: Was ER sich, angeblich gewaltsam, nehmen könnte.
Denn war es wirklich ein Leben das er führte? War es überhaupt ein Leben dessen er sich zu entledigen versuchte?
Wie ein Film schossen ihm die Bilder der letzten Jahre durch den Kopf und bald war er sich sicher, zu leben, bedeutete nicht gleich ein Leben zu haben.
Einen Moment schien es, als würde er selbst vor der Erklärung dieser Aussage, nach der sein Verstand nun schrie, in jeglicher Form resignieren.
Doch schnell war klar, dass die Ursache der Zweifel in der Beschreibung dessen lag, was man gemeinhin als Leben verstand oder zu verstehen glaubte.
Denn definierte sich das Leben lediglich durch die Tatsache, dass einem warmes Blut durch die Adern floss, die Lungen Luft saugten und das Herz seiner Arbeit nachging?
Doch das konnte unmöglich eine Definition dessen sein, was angeblich mehr als alles andere zählte.
Schließlich sprachen doch alle immer davon, dass man seinem Leben einen Sinn verleihen müsste um zur Erfüllung zu gelangen.
Wieso hörte er aber dann unter Berücksichtigung dieser Beschreibung, nie jemanden vom nackten Überleben sprechen, wenn es um deren Sinn des Lebens ging?
Und wie zur Hölle, können aber Definition und Sinn in solch völlig unterschiedliche Richtungen gehen?
Die Antwort war einfach und doch so kompliziert, da dies bedeutete, dass diese rein physische Definition schlichtweg falsch war!
Für ihn war die Lösung leicht, da er doch wusste, dass genau das, was ihm immer gefehlt hatte auch das war, was ihn hier herauftrieb.
Das Leben wird nämlich vielmehr durch jene Elmente definiert, die es erst lebenswert machen!
Somit sind ausschließlich Liebe, Glück und Hoffnung in der Lage, einem Menschen das zu geben, was er nicht in jenem Moment erhält, in dem er das Licht der Welt erblickt.
Denn erst jene Aspekte menschlichen Empfindens, schenken uns wahrlich ein Leben.
Wir müssen hier also auch nicht von einem physischen und einem mentalen Leben als zwei unterschiedlichen Arten sprechen.
Letztendlich traf lediglich die mental-emotionale, oder kurz die in der Seele ruhende Art des Lebens als Beschreibung zu, da das nun auch zu einer Übereinstimmung zwischen Sinn und Definition führte.
Also war eines klar: Er hatte, hingegen allen oberflächlichen Meinungen kein Leben das er verlieren könnte
Alle seine Gedanken waren sich nun in einem Punkt einig. Er wollte keine aus Fleisch und Blut bestehende, seelenlose Hülle sein und so trieb es ihn wieder einen Schritt nach vorne.
-Wie kannst du es wagen das Leben nicht zu achten?-
Seine Muskeln zogen sich zu einem Schaudern zusammen, als ein weiterer kalter Windhauch über ihn hinwegfegte, als wolle er das Unausweichliche ankündigen.
Sein Leben hatte er nun, wie er aus seinen Überlegungen resultierte, also schon verloren bevor er es beendete. Warum zögerte er also noch? War es eine innere Stimme die ihm sagte:
,,Sehe das Leben als Aufgabe! Führe den Kampf bis zum bitteren Ende!“
Fraglich ob dies wirklich seinem persönlichem Wertempfinden entsprang, oder nicht doch eher einer aufgedrängten Meinung.
Sein Leben lang hatte er ähnlich gedacht, sich wie alle anderen selbst belogen und vor der Wahrheit die Augen geschlossen. Ist die Ansicht die man sich einredet doch zu verführerisch, dass in einem sinnlosen Leben allein durch die Qual des „Durchziehens“ bereits wieder ein Sinn entsteht!
So sind die Worte derer groß, die behaupten, dass alle, die sich das Leben nehmen feige wären und sie die Lebensaufgabe doch gefälligst annehmen sollten.
Es schleicht sich, so war er der Überzeugung, eine Ansicht in unsere Gesellschaft, dass das Leben viel weniger ein Geschenk, als vielmehr eine Aufgabe ist.
Wer scheitert ist schwach, wer sich drückt feige und wer es nicht ehrt, ein Narr.
Doch wagte er zu bezweifeln dass man um des Lebens Selbstwillen, wirklich leben sollte.
Ging es nur darum zu sagen: ,,Seht her ich lebe“ ?
Das Leben als Status für eine Eigenschaft, die alle Menschen gemeinsam haben.
Welche Ironie, dass die selben Leute die vom Leben als etwa so wunderschönes und individuelles sprechen, auch die gleichen sind, die es in eine Art Schema pressen und es zu einem Status verkommen lassen, der wiederum um jeden Preis gehalten werden muss. Wer das nicht tut passt sich nicht an, scheitert!
Scheitert daran verstanden und akzeptiert zu werden und gerät immer weiter in den Kreis aus Zweifel und Ängsten, so dass man folglich problemlos behaupten könnte, dass es die Gesellschaft ist, die uns tiefer in jenen Kreis treibt für welchen sie uns doch so verurteilt und letztendlich von sich ausschließt.
Ein weiterer Schritt in Richtung der Tiefe, und er war sich bewusst, dass man bald eine Entscheidung von ihm verlangen würde, auch wenn er Angst vor ihr hatte.
Jedoch konnte er nicht in einer Welt leben, die uns unbewusst eine Abhängigkeit der Moral vom Leben vermitteln wollte.
Denn wie verlogen und erschreckend ist es nun, dass jene Menschen, die von der Wichtigkeit des Lebens sprechen auch jene sind, die Bomben schmeißen, Kriege führen und Leute an anderen Punkten der Erde verhungern lassen.
Wie passt das? Wie würde ihm das die Gesellschaft zu erklären versuchen?
Einerseits wird der Tod bis zum Ignorieren verurteilt, das uns jegliche Akzeptanz im Sinne des Verstehens verloren geht. Andererseits, ist er dann für jeden real und sogar akzeptabel, wenn es um das Durchsetzen eigener Interessen geht oder bzw. darum, dass man ihn hinnimmt, weil es ja einen nicht selbst betrifft.
Unweigerlich machten seine Beine einen weiteren Schritt nach vorne. Seine Hüfte, welche lediglich durch einen dünnen Pullover spärlich gewärmt wurde, berührte bereits jene Eisenstange des Gerüsts, an der das warnende Schild hing
Wo war die Solidarität und die Liebe geblieben? Menschen bezeichneten nur noch das als akzeptabel und moralisch korrekt, was den eigenen Interessen diente.
Aber dient es wahrlich dem Frieden, Blut zu vergießen? Ist es eher nachzuvollziehen, dass nichts gegen Armut und somit gegen den Hungertod getan wird, nur weil es an einem anderen Ende der Welt passiert? Nein! Da war er sich sicher.
Moralisch inkorrekt wäre es aber trotzdem unter anderem erst dann, wenn sich ein Mensch selbst das Leben nehmen würde, da letztendlich doch alle Menschen die gleichen Probleme haben!
Wie kann es dieser Mensch dann wagen, sich dieser auf so feige Weise zu entledigen?
Hier herrscht, so schlicht es ein mag, einfach die Macht der Gemeinsamkeit.
WIR töten gemeinsam für den Frieden.
UNS geht es finanziell gut.
WIR sind zusammen als Gesellschaft unantastbar.
Doch jener, der sich das Leben nimmt entflieht der Gemeinschaft und wird über seinen Tod hinaus zum Außenseiter.
Er setzte seine Füße auf das Geländer, umklammerte fest die oberste Stange und zog sich hinauf. Der Wind erfasste ihn nun völlig und er spürte kaum noch irgendeinen Teil seines Körpers. Er schloss die Augen und machte sich bereit. Einige Minuten vergingen, bis er die Augen wieder öffnete und in Richtung des Himmels sah.
Für den Bruchteil einer Sekunde war er sich sicher, eine Sternschnuppe erkannt zu haben.
Er nickte, holte tief Luft und schloss erneut die Augen, bevor er sich unter einem kurzen aber lauten Schrei vom Geländer stieß und hinunter in die Tiefe sprang.
Er sprang nicht, weil er sich absolut sicher war und auch nicht weil er sich frei von jeglichen Zweifeln dachte, nein, vielmehr sprang er, weil ihm letzten Endes die Entscheidung, doch noch abgenommen wurde.
Sein abdrücken von der Stange war von solcher Härte, dass sich das Schild an einer Seite löste und nun vom Wind hin und hergerissen wurde. So hang es nun da, ein wenig ernüchtert und gescheitert, aber mit der wagen Hoffnung, vielleicht doch den nächsten von seinem unmoralischen Vorhaben abhalten zu können.