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Adlerschwingen
In meinem ganzen, verflixten kurzen Leben habe ich mich noch nie so erschreckt wie gestern.
Da saß ich völlig entnervt von diesem schnabellosen Zweibeiner, der mir täglich widerliche Körner und tote Mäuse durch das Gitter schiebt, auf meiner Stange und dachte an zuhause.
An mein früheres, so freies Leben, in das ich wohl nie wieder zurückkehren würde.
Flog in Gedanken über Bergspitzen und Wälder mit rauschenden Tannenwipfeln.
Sah fette Hasen zum Frühstück und junge Füchse zum Abend.
Dachte an Gleitflüge im Aufwind und Sommerregen im Horst, hoch oben auf dem unerreichbaren Felssims.
Und während vor meinen Augen dieses wundervolle Abendrot über den Rocky’s auftauchte, sagte plötzlich eine Stimme:
" Meine Federn sind ganz rau! Hast du sie wieder nicht anständig geputzt?"
Ich sag euch, ich bin bald vom Ast gefallen!
Zuerst hab ich ja ganz aufmerksam die Ecken meiner Volière beäugt, aber da war noch nicht mal die kleinste Ameise!
"Ey, guck mal an dir runter, ich red mit dir" fauchte mich da plötzlich diese Stimme an, und meine rechte Schwinge zuckte....
"Glaubst du eigentlich, mit so einem Gefieder kannst du das Publikum beeindrucken?"
Die Schwinge zog sich beleidigt zurück.
"Ich seh ja schon aus wie ein Wellensittich. Hat Hector auch schon gesagt. Du kennst doch Hector? Den Kampfhahn von nebenan?"
„Ohjajajaja, Hector von nebenan!“ kam ein Echo von links.
Ich konnte nur noch nicken.
Saß da jemand in meinen Schwingen?
Doch als ich dieselbige ausbreitete, kam nur:
"Ahhhh, ja Luft! Lass mal so! Und einzieh'n, und ausbreiten, und einzieh'n...
Ja, geht doch!"
Vorsichtig äugte ich nach links.
„Ohjajajaja, geht doch…!“ tönte es von da.
Leute, mir stand der Nackenflaum senkrecht!
"Ehm," räusperte ich mich. " Was ist hier eigentlich los?"
"Gut, dass du drauf kommst" sagte die Schwingenstimme sehr bestimmt.
„Ohjajajajaja, draufkommst…“
"Ein bisschen mehr Bewegung täte dir mal ganz gut. Sag mal, kriegst du eigentlich gar nichts mit? In drei Wochen hast du den ersten Freiflug!"
„Ohjejejeje, kriegst gar nichts mit, nichts mit!“
Meine linke Schwinge zuckte unkontrolliert vor sich hin.
."Freiflug? Wer hat dir das gesagt?" fragte ich säuerlich. " Hector?"
"Stell dich nicht so an." sagte meine Schwinge streng.
Dann fuhr sie etwas milder fort.
" Ich erzähl dir jetzt mal was: In drei Wochen geht's ab in die Freiheit! Wir hauen ab!"
„Ohjajajaja, hau’n ab!“
"Abhauen?" fragte ich dümmlich.
"Ja, du hast richtig gehört. Lass gehen und putz endlich mal meine Federn. Wie seh ich denn aus, wenn wir endlich wieder über den Rocky's kreisen und nach fetten Hasen Ausschau halten?"
„Ohjajaja, nach fetten Ha…“
„Und du da links hältst jetzt endlich mal deine Klappe und sortierst deine Federn richtig. Das Muster stimmt nicht!“
Nach diesem Brüller war Stille in der Volière.
„Und wenn ich gar nicht weg will?“ überlegte ich laut. „Immerhin hab ich’s hier schön bequem, krieg mein Futter pünktlich gebracht und hab meinen eigenen Putzmann.“
„Ohjajaja, eigenen Putzmann.“ Die linke Schwinge schien die Seiten gewechselt zu haben.
„Oh, lieber Gott, hilf mir!“ stöhnte die Rechte. „Warum bin ich mit diesen Ignoranten gestraft?“
Und leicht gereizt tippte er mit seinen spitzen Außenfedern die Linke an.
„Du bist auf meiner Seite, vergessen? Wir wollen hier raus, wollen wir, ja?“
„Und du“ wandte er sich an mich. „Du breitest uns mal eben ganz aus. Auf ganze Fahrgestellbreite…..Ja, genau so.“
Da saß ich nun wie Pik 7 auf meiner Aststange und hatte meine Schwingen komplett auseinandergefaltet.
Resigniert schloss ich meine Augen.
Und plötzlich sah ich es wieder.
Die Tannenwälder, die schneebedeckten Berggipfel vor strahlend blauem Himmel, den rot glühenden Sonnenuntergang und diese wunderbare, wilde Landschaft der Rocky’s.
Ein frischer Wind streichelte meinen Bauch und ich fühlte mich wieder frei.
Und genau in diesem Moment kam der Zweibeiner herein und stellte ein Tellerchen mit zwei elend mageren Mäusen in meinen Käfig.