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Aesterna
Sich im Schutz der Nacht zu bewegen war nicht leicht, nur einfacher. In einen schweren Mantel gekleidet, den Kopf unter einer Kapuze, das Gesicht zusätzlich mit einem groben Tuch verhüllt, schlich sie durch die engen Gassen und einsamen Straßen. Der bedeckte Himmel, hinter dem sich der gefährlich volle Mond verborgen blieb, schien ihr gewogen zu sein. Der Mond selbst aber, der seinen Silberglanz nicht auf die friedlich daliegende Siedlung werfen durfte, zog beleidigt seine Bahn, auf der Flucht vor dem Morgen.
Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihren Behausung vor dem nächsten Neumond wieder zu verlassen, doch es war notwendig geworden. Mingolinde und Groffin, ihre Freunde, seit Jahren ihre einzigen Freunde, waren in Not und bedurften ihrer Hilfe. Eine Taube hatten sie geschickt, eine Botschaft an ihrem Fuß: ‘Die Jäger haben den Zugang von Norden gefunden, und sie werden auch uns aufspüren, soll heißen: Lebewohl.’
Aesterna beschleunigte ihre Schritte, bis sie am Dorfplatz angelangt war. Die große Linde hob sich schwarz vor dem kaum helleren Himmel ab. Sie hielt inne. Selten kam sie hierher. Wäre es nicht der kürzeste Weg gewesen, hätte sie die Stelle vermieden. Wie lange war es her, daß der Baum, noch keinen halben Meter groß, hier eingraben worden war? Seither hatte sich die Siedlung beständig vergrößert, sie wußte, daß manche sie schon Stadt nannten: Künecswaere. Es hieß, daß vor einigen hundert Jahren der König einmal seine Marken und Grafschaften durchreist haben und dabei auch hierhergekommen sein soll. Die Geschichten erzählten, daß er beim Anblick der alten Klosterruine in betrübtes Erstaunen verfallen sei. Aesterna seufzte und huschte über den Platz, unauffällig und lautlos wie eine Katze, bedacht darauf, niemandem zu begegnen.
Noch immer wußte sie, wie er, Gerwulf, ausgesehen hatte. Der letzte, dem sie sich gezeigt hatte. Ein junger Bursche, aufgeweckt und neugierig. Mit einem runden, freundlichen Gesicht. Groß und schön war er gewesen, kräftig und liebenswert, sie hätte ihn gerne geliebt. Wie hatte er gebettelt, sie sehen zu dürfen, wie gerne hätte sie all sein Glühen erwidert. Sie dachte daran zurück und fühlte sich schuldig. Seit er sich unweit ihres Wasserfalls erhängt hatte, war sie nicht mehr an jener Stelle gewesen, wo sie sich begegnet waren. Sie hatte sich die Haare ausgerissen und einen Schwur geleistet. Seither sah ihr ehemals glattes Haar immer ein wenig zerrupft aus, mochte sie es kämmen, wie sie wollte.
Manchmal träumte sie noch von ihm, und seinen gräßlich hervorgequollenen, toten Augen am Baum.
Neben dem Tempel der Lejarge rang sie nach Luft. Sie spürte die Strapazen der letzten Stunde deutlich in ihren Gliedern und hätte eine Pause gebraucht, doch dafür war keine Zeit. Kurz überprüfte sie den Inhalt ihres Bündels: einige Kräuter hatte sie darin verstaut; getrocknet und in Tuch eingewickelt, verströmten sie nur schwachen Geruch. Daneben befand sich Zunder, ein Feuerstein und mehrere behelfsmäßige Fackeln. Am Gurt trug sie neben dem aufgerollten Seil einen Langdolch. Doch seit einigen Jahren hatte sie ihn nicht mehr benutzt und hoffte, daß es nicht zu einem Kampf kommen würde.
Mit keuchendem Atem zwang sie sich, den Weg endlich wieder aufzunehmen. Ihre Schritte waren leichter als die Stiefel der Jäger, ihre Freundschaft stärker als deren Mordlust, sie mußte schneller sein. Es war nicht mehr weit, ein Eingang zu den unterirdischen Höhlen befand sich an der Stelle, wo vor langer Zeit einmal der Orden jenes Kloster errichtet hatte. Alle anderen würden die Jäger schon gefunden haben.
Sie erreichte die Stelle, wo einst eine beeindruckende Anlage, sogar ein Turm gestanden hatte. Schön war er gewesen und geschäftig die Gemeinschaft. Doch das war lange her, lange bevor die Schiffe aus dem Süden hier gelandet waren, und sich hier die ersten Bauern angesiedelt hatten. Seither war dort nichts mehr errichtet worden. Ob aus Respekt vor denen, die hier einmal etwas Gewaltiges versucht hatten und gescheitert waren, oder aus Aberglaube, Aesterna wußte es nicht: Bis heute stand dort kein Gebäude, Dornenbüsche und Unkraut hatten alles überwuchert.
Auf der Suche nach einem Weg durch das Gestrüpp, riß sie Löcher in ihre Kleidung, kratzte sich die Hände auf. Endlich fand sie die Stelle. Die ehemalige Kellerdecke war dort eingebrochen, und sie spähte in die undurchdringliche Schwärze der Öffnung. Unsicher ließ sie sich hinab, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Dunkel, etwa fünf Schritt tief.
Sie rappelte sich wieder auf, klopfte den Schmutz von ihrem Mantel. Es war Zeit, eine Fackel zu entzünden. Dann machte sie sich auf den Weg zu dem Schacht, der einmal ein Brunnen gewesen war. Sie befestigte das Seil an einem rostigen Ring in der Wand und kletterte vorsichtig hinunter. In etwa zwanzig Ellen Tiefe fand sie den Durchbruch, der sie in ein ausgedehntes unterirdisches System von Höhlen führte. Sie waren größtenteils natürlich entstanden, wiesen aber auch Spuren menschlicher Bearbeitung auf.
Aus einer unbestimmten Richtung hörte sie das Echo von Stiefeln, ab und an Stimmen. Dann folgte ein Brüllen, sie war zu spät. Hastig rannte sie die letzten Schritte, stieß sich an Steinen, erreichte endlich die erleuchtete Halle. In einer Ecke kauerten ihre Freunde. Sie hatten sich hier eine Art Wohnraum eingerichtet, in der Mitte konnte Aesterna die Spuren eines hastig gelöschten Feuers entdecken.
Noch stand sie verborgen, die Jäger in ihrer groben, grauen Kleidung mit dem Rücken zu ihr, ihre Speere auf die beiden gerichtet. Ihre vielen Fackeln erhellten den Raum vollständig. Was war zu tun? Sie konnte es unmöglich mit ihnen allen aufnehmen. Unsicher stand sie im Halbdunkel des schmalen Durchbruchs, der sie noch von der Szene trennte und dachte angestrengt nach. Die Jäger schienen auf etwas zu warten und tuschelten nervös. Dann hörte sie in der Ferne Schritte.
Mingolinde schmiegte sich an Groffin, Angst stand in ihrem Blick. Groffins gelbe Augen schienen gleichgültig. Er starrte wie einer, der aufgegeben hatte. Die Schritte kamen immer näher, endlich betrat ein Zug von fünf Männern die Halle, zwei Jäger, ein hochgewachsener, ganz in Weiß gekleideter Mann in der Mitte, dann zwei weitere Jäger. Die Gruppe schob sich auseinander, bildete eine Flucht für den Angekommenen, einen Priester aus Künecswaere. Aesterna biß sich auf die Lippen, sie wußte nicht, was sie hätte tun sollen. Der Priester, dessen junges, sympathisches Gesicht von einem dunklen, vollen Bart umrahmt war, weckte Hoffnung in ihr. Vielleicht war das Schicksal ihrer Freunde doch noch nicht entschieden.
„Im Namen des Großen“, begann dieser. „Ihr beide seid verdächtig, der Lykanthropie anheimgefallen zu sein. Ist dem so?“
Die Worte hallten und verhallten, Mingolinde klammerte sich noch fester an ihren Freund, Groffin zeigte keine Reaktion.
„Ich frage euch noch einmal“, setzte der Priester mit einer wohlklingenden Stimme fort. „Seid ihr das, was unter den Bauern gemeinhin...“
„Ja“, unterbrach ihn Groffin und sah ihm herausfordernd in die Augen.
„So seid ihr hiermit zum Tode verurteilt“, sprach der Priester in feierlichem Ton. „Damit ihr nicht länger Unheil über diese Welt bringen könnt und rein seid, wenn der Große eure Seelen mit unerbittlicher Gerechtigkeit in seine ewige Waagschale werfen wird. Legt sie in Ketten.“
Aus einem Sack wurden Ketten und Schellen aus mattem Silber gezogen. Aesterna schloß die Augen, konnte sie nichts mehr tun? Konnte sie nur zusehen, wie den beiden Fesseln angelegt wurden?
„Nein“, sprach sie und tat einen Schritt nach vorn.
Sofort drehten sich einige nach ihr um, und sie sah in das schöne Gesicht des Priesters. Mit einem Wink wies er zwei der Jäger an, sie zu ihm zu bringen, Aesterna ließ die groben Hände gewähren und sich vor den Mann in Weiß zerren.
„Gehörst du auch zu diesen?“ fragte er sie.
„Sie sind meine Freunde.“
„Also bist du eine von diesen.“
„Nein.“
„Dann schlag’ deine Kapuze zurück und zeig’ mir deine Augen!“ befahl der Priester.
„Nein!“ schrie Aesterna und riß sich los. Die Männer, die eine solche Gegenwehr nicht erwartet hatten, wollten mit ihren Speeren auf sie losgehen, doch der Priester gebot ihnen Einhalt. Er wandte sich wieder an Aesterna, dieses Mal mit sanfterem Ton.
„Weshalb sollen diese Tiere nicht ihr gerechtes Los erfahren? Sie haben gestanden. Sie sind schuldig. Und der Große duldet diese Wesen nicht in seiner Welt.“
„Sie haben nichts getan.“
„Sie haben gemordet.“
„Aber das ist Jahre her.“
„Mag sein, aber sie könnten es jederzeit wieder tun.“
„Das werden sie nicht, deshalb entbehren sie der Welt und leben hier.“
„Wo Schuld und Leid ist, muß auch Strafe sein“, entgegnete der Priester mit schneidendem Ton.
„Und wo Reue und Besserung ist, muß auch Vergebung sein“, antwortete Aesterna ohne nachzudenken.
Der Priester schwieg einen Moment. Dann lächelte er:
„Ich habe Euch falsch eingeschätzt, Ihr seid klug. Aber Ihr stellt Euch gegen den Willen des Großen. Das ist Frevelei. Und darf nicht geduldet werden.“
Daraufhin schwiegen sie beide. Endlich sagte der Priester:
„Zeigt mir Euer Gesicht.“
Aesterna dachte nach. Mitleid überkam sie. Es tat ihr leid um den, der da vor ihr stand. Und doch blieb ihr keine andere Wahl, als ihren Schwur zu brechen.
„Wenn das Euer Wille ist, so habe habe ich Mitleid mit Euch“, begann sie mit leiser, aber fester Stimme. „Ich habe Mitleid mit euch allen.“
In ihren Augenwinkeln konnte sie erkennen, wie ihre Freunde ihre Gesichter verbargen. Dann streifte sie die Kapuze herunter, entledigte sich des Tuches und sah in die immer größer werdenden Augen der Umstehenden. Mit matter Stimme bat sie:
„Laßt die beiden in Frieden.“
Sie konnte beobachten, wie die Männer um sie herum ihr verfielen, und es schmerzte sie. Ein ganzes Zeitalter lang würde sie Mitleid mit ihnen empfinden. Ihr Begehren konnte sie nicht erfüllen, ihre Liebe nicht erwidern.
Jene aber, die sie gesehen hatten, würden für den Rest ihres Lebens in ihrer glühenden Empfindung unter Schmerzen verbrennen.