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Aiken
Aiken sitzt am Steg. Vor ihm im Wasser schwimmen Kapelane, oliv schimmernd über einer sonnenbeschienenen Tiefe. Ein Eimer mit einigen der Fische steht zu seinen Füßen und hinter ihm liegen die Holzhäuser des Dorfes, kantiges Konfetti zerstreut in einer felsigen Gebirgsmulde.
„Ich werde Aiken zum Anleger schicken“, hatte Großmutter Mühme in einem Brief an Moose geschrieben. „Er wird dort auf dich warten.“
Moose sind die Gewässer der Insel nicht mehr allzu vertraut, als er mit der „Ammassaat“ den Hafen ansteuert. Er sieht die kleine Gestalt dort sitzen. Vier Jahre ist es her, seit sie einander das letzte Mal begegnet sind. Moose schaltet den Motor ab und verlässt den Kutter. Am Steg bleibt er stehen, legt den Kopf schief und sieht Aiken an. Der hält dem einen Augenblick lang stand, springt auf, greift nach dem Henkel seines Eimers und ruft:
„Du brauchst überhaupt nicht mehr zu kommen!“
Er läuft davon, nicht ohne dass Fische und Wasser aus seinem Eimer schwappen und eine zappelnde Spur bilden.
Moose folgt ihm in einigem Abstand, sammelt die Kapelane auf, legt sie in seine Mütze und ein wenig später wieder zu den anderen, die Aiken auf der Veranda hat stehen lassen. Seine Aufgabe ist klar. Mühme ist in Rente. Die Familien ihrer Schüler hatten sie mit zusätzlichen Lebensmitteln bedacht, in der neuen Lebenslage aber ist sie dankbar für die Unterstützung, die Moose ihr zukommen lässt. Ihr Haus würde diesen Sommer auch ihn beherbergen, um Wintervorräte anzulegen. Er stellt sein Gepäck ab. Nach dieser ersten Begegnung mit dem Kind bleibt er eine Weile unschlüssig auf der Veranda stehen. Er hat nicht erwartet, dass Aiken ihm um den Hals fallen würde. Er atmet aus und klopft an.
An einem frühen Morgen zog Marius Aiken an, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm zum Kai, der einer Baustelle glich. In Anorak und Stiefeln trippelte der Junge neben seinem Vater her. Schiffskräne verluden mannshohe Rohre, die zur Sanierung der Meerwasser-Entsalzungsanlage geliefert worden waren.
Marius brachte das Kind an den Rand der Landzunge und bedeutete ihm, da zu bleiben. Lächelnd und mit ausgebreiteten Armen beobachtete der Junge die durch die Luft schwebenden Bauteile, bis sie gebündelt auf Gestellen abgelegt worden waren. Es roch nach Eis und Öl. Marius, der beauftragt war, die Löschung der Ladung zu koordinieren, lief am Anleger mal hierhin, mal dorthin, rief und gab mit behandschuhter Hand Richtungsanweisungen an die Arbeiter auf den Gestellen. Er blinzelte in die aufgehende Sonne.
Plötzlich riss krachend die Begurtung eines Bündels, ließ die Rohre ohrenbetäubend über den Anleger donnern. Sie schnitten Marius’ Blick und begruben ihn unter sich.
Beim Aufprall, den Schreien, den verzweifelten Rufen verlor Aiken beinahe die Besinnung, achtete in der jäh entstehenden Dynamik niemand mehr auf ihn, wie er rückwärts stolpernd ins Straucheln geraten und dem Ufer entglitten war. Ein eingerollter Ball mit zugekniffenen Augen. Er tauchte ein, tauchte unter und verlor in der träge schwappenden See jede Orientierung.
Er riss die Augen auf. Seine Luft in den Lungen war fast verbraucht. Aiken strampelte, gab jedoch rasch nach und schwebte mit ausgebreiteten Armen unterhalb der Wasseroberfläche. Eine Stake erschien vor seinen Augen, als sein Bewusstsein schon zu schwinden begann. Reflexartig durchstieß er in einer letzten Anstrengung den eisigen Griff des Wassers, klammerte und wurde emporgezogen. Emporgezogen in eine milde Windstille, in der er zu liegen kam, bis Moose ihn aufhob und nach Hause brachte.
Kristian nutzte das Boot für den Eigenbedarf, indem er dann Angeln fuhr, wenn er der ewig gleichen Konserven überdrüssig geworden war. Vertäut in der Nähe des Stegs war es im Morgengrauen kaum zu erkennen. Erst, als die ersten Wellen Tageslicht hereinschwappten, erschien sein Schatten. Manchmal ließ sich der Pastor von einem Schlepper ein Stück fjordeinwärts ziehen, angelte und ruderte ausdauernd zurück.
Dieser Morgen war ein anderer, und er hatte dem Ganzen kaum Aufmerksamkeit geschenkt, bis der entsetzliche Lärm, Schreie und das Quietschen, das Rattern der Maschinen die Stille sprengten. Als er das Boot fast erreicht hatte, löste sich an der Anlegestelle ein kleiner Schatten, versank lautlos und beinahe augenblicklich. Im nächsten Moment hatte Kristian die Stake ergriffen, mit der er sich sonst von der Felsküste abstieß, und sie in die finstere See gehalten. Zunächst war sie leicht, doch dann meldete ein kaum merkliches Gewicht, dass sie Glück hatten. Aiken krampfte und kniff die Augen wieder zu, nachdem er sicher abgelegt worden war.
Mit der Stake in der Hand betrachtete Kristian den Anleger, denn dort stand Moose, wandte den Kopf von links nach rechts, von rechts nach links, nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Als es Abend wurde, entzündete Kristian eine Kerze und an ihr eine Zigarette. Eine Zeit lang schaute er auf die tänzelnde Flamme auf dem Tisch, seine linke Hand spielte mit einem Kronkorken. Es war seine Art der Besinnung. Er hatte sich vorgenommen, weniger zu rauchen, brauchte nach dem Unfallmorgen am Kai aber eine Zigarette. Gerade wollte er das Licht löschen, als ein Schrei erklang. Kristian öffnete die Tür und schaute hinaus. Er stammte von Moose, der auf dem zerklüfteten Untergrund gestürzt war und nun versuchte, sich wieder aufzurichten. Kristian eilte zu ihm und ließ ihn sich hochziehen. Selbst im Dämmer bemerkte der Pastor Mooses glasigen Blick, den alkoholschweren Atem und die Flasche in seiner Hand.
Seit seinem Dienstantritt vor mehr als zehn Jahren war er mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Der Beschäftigungsmangel auf der Insel trieb bisweilen wilde Blüten aus der Sehnsucht ihrer Bewohner. Für einige war Alkohol die Ursache. Lautes Gelächter und Schlägereien. Immer dann, wenn die Verquickungen der Beteiligten untereinander allzu brutal offen gelegt waren.
Nun setzte er Moose auf einen Stein, woraufhin dieser seufzend in sich zusammensackte.
„s’ all’s verlor’n“, sagte er.
„Das Kind lebt“, erwiderte Kristian.
„Mari’s s’ mein Bruder g’wesen.“
Kristian ließ ihn weinen.
„Ich weiß. Wie haben ihn heute verloren.“
„Wenn i’s s’neller g’wesen wär.“
„Nein. Die Verletzungen waren schwer.“
Schluchzen und Schweigen setzten ein. Moose ließ die Schultern hängen und wiegte sich in einem unhörbaren Takt. Kristian wartete eine Weile, fasste ihn dann unter den Achseln, stemmte ihn hoch und ließ ihn sich einhaken. So kamen sie langsam voran.
„Was wird jetzt aus dem Jungen?“, fragte er nach einer Weile.
Moose machte eine ausladende Bewegung mit dem freien Arm und blickte in den Himmel. Für einen Moment verharrte er so und richtete dann einen leeren Blick auf Kristian.
Mühmes starker Kaffee ließ ihn klarer werden. In der vergangenen Nacht hatte er tastend das Haus durchquert, bis er mit Kristians Hilfe das Kajütenzimmer erreichte.
„Es tut mir sehr leid“, sagte Mühme sanft.
„Er war der Einzige, der noch übrig war. Von unserer Familie, meine ich.“ sagte Moose. „Jetzt bin ich ganz allein.“
„Es muss besonders weh tun“, erwog Mühme. Sie wusste, dass Reden für Moose noch nicht das Wichtigste war.
„Wirst du dich um Aiken kümmern?“, fragte sie stattdessen. Moose blickte überrascht auf.
„Ich?“
„Wer denn sonst? Er hat jetzt nur noch dich und mich.“
„Es geht ihm hier doch gut, oder nicht?“ Moose runzelte die Stirn. Das Stechen und Brummen in seinem Kopf schwoll wieder an.
„Ja. Aber ich bin 68. Ein paar mehr Gleichaltrige täten ihm bestimmt sehr gut.“
„Du hast Erfahrung.“
„Erfahrung ersetzt keine Lebendigkeit.“ Mühme lächelte ihn an.
„Was hatte er denn mit mir zu tun? Die paar Besuche.“
„Du bist immer noch sein Onkel.“
Ein Lächeln erschien auf Mooses Gesicht.
„Ja. Aber was ist ein Onkel, denn du nicht richtig kennen gelernt hast?“
Mühme hatte die Hände gefaltet und in den Schoß gelegt. Einen Moment lang sah sie aus dem Fenster, dann sagte sie langsam:
„‘Jetzt’ ist manchmal ein sehr passender Zeitpunkt.“
Moose rührte in seiner Tasse. Das dünnschalige Porzellan klingelte unter dem Kaffeelöffel. Nach einer Weile räusperte er sich und sagte:
„Irgendetwas kann ich bestimmt für euch tun.“
Mühme verstand.
Die Türangeln quietschten und Aiken erschien im Pyjama. Benommen blickte er an den beiden vorbei, bis Mühme ihn aufhob und an seinen Platz setzte. Er machte keine Anstalten, etwas zu essen oder zu trinken. Abwesend duldete er den Löffel, den Mühme ihm von Zeit zu Zeit in den Mund schob. Die kleinen, zu Fäusten geballten Hände öffnete er nicht.
Moose starrte auf das Wachstuch auf dem Tisch.
Am darauf folgenden Morgen startete er seinen Kutter in Richtung Neufundland und Labrador. In aller Frühe hatte er seine Sachen gepackt, Kaffee für Mühme aufgesetzt und war verschwunden.
„Es kann nicht sein, dass du nicht Schwimmen kannst“, hatte Mühme energisch befunden, als Aiken fünf Jahre alt war. Auf dem Festland gab es einige Seen , die sich zwar kaum erwärmten, dafür aber Niedrigwasser boten. Mit der Fähre setzten sie über und wanderten, bis das Wasser vor ihnen lag wie ein Spiegel. Die Großmutter blies ein paar Schwimmflügel auf, während Aiken skeptisch um sich blickte. In Shorts und Schwimmhilfen machte er ein paar Schritte an Mühmes Hand, blieb aber im knöcheltiefen Wasser stehen. Die Fläche glänzte blau und war bis an den Rand mit Wolken gefüllt.
„Sieh, ist das nicht schön? Es ist nicht gefährlich.“
Aiken zögerte. Zu seinen Füßen konnte er den Grund des Sees erkennen, ein
Wolkenloch, in dem er mit beiden Beinen steckte. Seine Haut brannte und kribbelte, ihm wurde schwindelig. Das Wasser um seine Knöchel schien ihn weiter in die Tiefe zu ziehen, und Aiken wand seine Hand ihn Mühmes, um sich daraus zu befreien. Sie gab nicht nach, drängte ihn jedoch auch nicht, weiter zu gehen. Wenn man es regelmäßig wiederholte, so dachte sie, würde Aiken bald daran gewöhnt sein.
Die Sommer über versuchten sie es. Einmal in der Woche standen sie am Badesee und froren, das Kind wie ein Stock auf dem kargen Untergrund. Manchmal schwamm Mühme hinaus, um ihm die Scheu zu nehmen.
„Wovor hast du Angst?“
Aiken konnte es nicht sagen. Angst füllte ihn bis über den Rand.
Mühme erinnerte sich daran, wie Aiken versucht hatte, die Angst zu überwinden. Der Bauch der alten Frau war ein ein mit niedrigen Bäumen bestandenes Gebiet unweit von Nuuk, in das sie ihn mitgenommen hatte, als sie mit Lehraufgaben an der Uni betraut gewesen war. Mit nackten Füßen hatte Aiken zugelassen, abzusinken in ein noch immer kaltes Wasser, sich mit dem Grund zu verbinden und wieder daraus empor zu stemmen. Ein von Flechten überkrustetes Walskelett war sein Versteck dieser Tage gewesen, obwohl er sichtbar in dem Rippenkäfig gesessen hatte, mit blauschwarzem Schopf und aufgeschürften Knien. Ein lebendiges Herz.
Dahinter erstreckte sich das Moor, in dem die Permafrostböden tauten und absanken, Mulden und kleinere Seen aus stehendem Wasser bildeten, in denen außer einem gelegentlichen Sonnentau keine Vegetation entstand. Es faszinierte ihn, was sein Vater ihm erklärt hatte: Setzte man einen Fisch aus dem Meer in eines dieser Wasserlöcher, musste er sterben. Dass das Eintauchen in sein Element ihn, den Fisch, auch töten konnte, war ihm nicht bewusst gewesen.
Außerhalb der Torfmoore wucherten Steinbrech, Hahnenfuß und Weidenröschen gesprenkelte Teppiche in die Niederungen des Sommers, aber der Junge zog die Landschaft aus Tümpeln und trockenen Kuppen vor, in der das Wasser keinerlei Regung bereithielt. Die Birken, die sich in die Kuppen krallten, wuchsen als Strauß mit jeweils mehreren krummen Stämmen, glatter Rinde und zerzaustem Grün. Es waren die ersten Bäume, die Aiken je sah.
„Kletter rein“, sagte Kristian. Seit Marius’ Beerdigung hatte er ein Auge auf den Jungen. Nun biss dieser sich auf die Zunge und wagte nicht zu widersprechen. Das Ruderboot war schmal. Zitternd streckte Aiken ein Bein nach dem Bootsinneren aus, stieg rücklings ein und setzte sich. Er roch feuchtes Holz und säuerlichen Fisch. Kristian legte sich in die Riemen. Er würde warten, bis Aiken sich irgendwann traute, die Augen aufzumachen.
„Warum willst du, dass ich mitfahre?“, fragte Aiken.
„Wir können reden. Und ich kann dir zeigen, wie man fischt.“
„Warum soll ich das lernen?“
„Weil alle hier Fischen können“, lächelte Kristian und breitete die Arme aus. Die Ruderpinnen knarzten. „Außerdem bist du Insulaner. Und musst was essen“, fügte er scherzhaft hinzu.
Aiken verstand nicht. Es würde Wochen dauern, bis er die Augen öffnete. Dann saß er steif im Boot, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Kristian ließ ihn eine Angelrute halten, doch sobald ein Fisch biss und zog, begann Aiken zu schreien, schrie und ließ die Rute los, die der Pastor dann von der Wasseroberfläche fischte.
Vier Jahre nach dem Unglück hat Mühme bereits Kaffee vorbereitet, um Moose willkommen zu heißen. Beide sitzen in der kleinen Küche und trinken zunächst, bevor Moose zu reden beginnt.
„Hat sich ja nicht viel verändert“, sagt er etwas verlegen.
„Der Junge und ich, wir haben uns verändert“, erwidert Mühme mit leuchtenden Augen.
„Natürlich“, beeilt sich Moose zu sagen und blickt unter sich. „Seid ihr zurecht gekommen?“
„Nun, er ist mit im Klassenzimmer gewesen, jeden Tag. Zuerst in einem Laufstall. Er musste immer überall hin mit.“
„‘Du brauchst gar nicht mehr zu kommen’, hat er gesagt“, erwähnt Moose.
„Aiken ist ein Kind. Du kannst ihm nicht verübeln, dass er sich alleingelassen fühlt. Plötzlich warst du weg. Nicht mal die Beerdigung hast du abgewartet.“ Mühme bemüht sich, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.
„Denkst du etwa, mein alter - Junggesellenleben in Rigolet wäre was für ihn gewesen?“, fragt Moose halb scherzhaft. Sie bleibt ernst.
„Denkst du etwa, es wäre das Gleiche geblieben?“
„Oh … nein“, sagt Moose langsam.
„Wäre es schlimm gewesen?“
Eine Weile ist es still, nur die Uhr tickt auf der Anrichte. Dann steht Moose auf und klopft leise an die Tür des Kinderzimmers.
„Aiken? Ich bin’s, Moose.“ Er kommt sich albern vor und möchte umkehren.
Als keine Antwort kommt, öffnet er die Türe einen Spalt breit. Aiken sitzt an einem kleinen Tisch, vor sich die Abbildung eines Kapelans, die er in verschiedenen Farben ausmalt.
„Was machst du?“, bringt Moose hervor.
„Siehst du das denn nicht?“, erwidert das Kind und fügte ohne Umschweife hinzu: „Ich kann selber Fische fangen.“
„Äh … ja, natürlich“, antwortet Moose perplex.
„Und ich muss. Oma kann nicht.“
„Aber nein, das musst du nicht!“ entfährt es Moose erschrocken. „Gehst du jeden Tag Kapelane fischen? Wo hast du sie?“
Er hat sich gefangen, aber Aiken schweigt. Während der Sommermonate treibt es die kleinen Fische in großen Schwärmen an die Küste, manchmal wellenartig, so dass einige an Land gespült werden.
„Ich bin hier, um euch zu helfen“, versicherte Moose. Aiken beißt die Kiefer zusammen.
Die Mitternachtssonne war am Abend zuvor in tiefen Gelb- und Rottönen bis an den Horizont gesunken und ließ die Farben nun im erneuten Aufgehen wieder verblassen. Neben den Kapelanen ist das Fischen der Wandersaiblinge zu dieser Zeit des Jahres eine Möglichkeit, vom Ufer aus vereinzelt Beute zu machen. Im seichten Wasser wenige Meter vom Festland entfernt waberte ein leuchtend orangefarbener Köder unter den Spiegelungen. Die Stelle in der Mündung ist mit Bedacht gewählt, ohne Wathose erreichbar und am frühen Morgen beinahe ein Garant für Fang. Moose trägt die Wathose, Aiken hat sich geweigert. Mürrisch kauert der Junge am Ufer, die Arme um die Knie geschlungen, und sieht zu, wie Moose Streamer präpariert. Eine Kunstfliege imitiert einen kleinen Fisch, eine andere ist bunt und fedrig.
„Gib mir bitte mal die Zehner“, wendet sich Moose an Aiken und schaut ihn überrascht an, als dieser ihm die richtige Schnur herüberreicht. „Du hast schon mal geangelt?“, fragt er erstaunt.
Aiken hebt den Kopf, weicht dem Blick aber aus.
„Mit wem, mit Mühme?“, fährt Moose ungläubig fort, aber er spürt, dass es um jemand Anderen geht.
Er reicht Aiken eine präparierte Rute und zeigt ihm, wie man die Schnur wirft und danach den Köder richtig führt. Man darf mit dem Wurf nicht gleich ins tiefere Wasser vordringen, um die Fische nicht zu vertreiben. In den Sommermonaten gibt es diese Fanggründe, in denen die Saiblinge nach Insekten an der Wasseroberfläche schnappen und jagen, bevor sie im Herbst flussaufwärts ziehen.
„Wie findest du’s?“ versucht es Moose nach einiger Zeit nochmal und knufft Aiken in die Seite. Der versteift sich. „Ganz okay.“
Moose weiß, dass Aiken Wasser meidet und ist erleichtert, als der Junge aushält, bis sie dreizehn Saiblinge gefangen haben.
„Nicht mal am Ufer richtig toll?“, neckt er.
„Nein“, antwortet Aiken und zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht beim nächsten Mal.“
„Ja, vielleicht.“
„Es ist nicht seine Aufgabe“, denkt Moose, als sie ins Dorf zurückkehren, aber er weiß, dass es nicht nur um Fisch geht.
Als sie die alte Kirche passieren, die als Jugendraum eingerichtet ist, öffnet sich deren Tür und Kristian erscheint. Die beiden Männer stehen sich schweigend eine Weile gegenüber, die Eimer mit Saiblingen zwischen ihnen.
„Sieh’ an. Dass du nochmal kommst“, lässt Kristian die Stille schließlich platzen. „Damit hat ja keiner hier gerechnet.“
„Das nächste Mal melde ich mich bei dir an“, erwidert Moose zähneknirschend.
„Das wäre gar nicht so verkehrt gewesen“, entgegnet Kristian und lächelt Aiken dabei zu. „Du willst eine Weile bleiben?“, wandte er sich wieder an Moose.
„Ja. Für den Sommer. Wir werden Vorräte anlegen. Bald geht’s nach Sisimiut“, sagt Moose knapp. „Und wir fangen Fische.“ Er zeigt auf die Eimer. Kristian macht ein überraschtes Gesicht.
„Ich dachte, auf dem Wasser wäre nichts zu machen?“
„Es sind Wandersaiblinge vom Ufer. Hat eine gute Zeit gedauert, bis wir sie gefangen hatten“, ergänzt Moose freimütig.
Von den Versuchen des Jungen, allein vorzusorgen, erzählt er nichts.
Sie sind auf dem Weg nach Sisimiut, um Vorräte einzukaufen. Mit dem selbst gefangenen Fisch kommt man nicht sehr weit. Auf Mooses Kutter fühlt Aiken sich sicherer als in dem Ruderboot, in dem er manchmal mitgenommen wird.
Ruhig gleiten sie durch das Eismeer, als plötzlich in unmittelbarer Nähe ein Narwal die Wasseroberfläche durchstößt. Es ist ein Bulle, dessen Zahn sich schäumend in den Himmel schraubt. Wenn das Tier auch nicht sonderlich mächtig ist, weiß Moose, dass es, wenn es sich im Schleppnetz verfängt, ernsten Schaden anrichten kann.
„Runter“, schreit Moose. „Aiken, runter! Und bleib liegen!“
Aiken stürzt an die Reling, umklammert sie, bis seine Fingerknöchel taub sind, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Entsetzt über den jähen Seegang und das sich Neigen des Kutters. Eimer und Taue rutschen über Deck. Nur wenige Meter trennen die „Ammassaat“ von dem sich aufbäumenden Leib, so dass der Junge den knotigen Rückenkamm erkennen kann. Ein Geflecht aus Narben durchzieht das glänzende Tier.
Es sinkt so schnell, wie es aufgestiegen ist, um wenig später seinen Bauch wie eine Insel zu präsentieren, die scheinbar friedlich neben dem Kutter treibt. Eine speckige, einsame Küste. Das Tier scheint gegen die Gewohnheiten seiner Art allein zu sein.
Aiken rührt sich immer noch nicht. Finger für Finger entklaubt Moose der Reling, setzt das Kind in eine Taurolle. Packt es bei den Schultern.“
„Es ist wichtig, dass du an Bord das tust, was ich dir sagt“, sagt er fest.
„Ich hab es nicht mit Absicht gemacht!“
„Ich weiß. Es ist trotzdem gefährlich, einfach stehen zu bleiben.“
Aiken zittert und keucht, streicht sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und ballt die Hände.
„Und was machen wir jetzt?“, fragt er.
„Wir werden ihn nicht erlegen“, antwortetet Moose.
Eine Weile bleibt er bei Aiken sitzen, hält seine Hände. Der Junge lässt es geschehen. Ein weiteres Mal ist Moose erleichtert.
Aiken ist noch nicht oft in Sisimiut gewesen. Der Großmarkt trägt seinen Namen zu Recht. Nie zuvor hat Aiken höher gestapelte Waren, größere Mengen gleicher Etiketten auf Konservendosen und Kartons, mehr Gabelstapler gesehen, die Türme bereits vorbereiteter Lebensmittel in Säcken und Packen verräumen. Mit großen Augen wandert er durch die Warenschluchten, bis er bemerkt, dass Moose stehen geblieben ist und sich mit einem Mann in Arbeitsoverall unterhält.
„Wie gesagt, wir können das jetzt machen“, hörte er ihn zu Moose sagen, „es ist nicht der einzige Fall dieser Tage. Aus den angebrochenen Packen können wir Sachen nehmen, Neue öffnen wir aber nicht.“
Aiken verstand, dass der Markt nicht einfach ein großer Laden war, in dem jeder einkaufen konnte. Zusammen mit Moose begutachtete er, was es gab. Säcke mit Reis, Nudeln und Kartoffeln, haltbar gemachtes Obst und Gemüse vom Kontinent, Fischkonserven mit Heilbutt, Seewolf, Kabeljau sowie Mehl, Gewürze und Saucen. Eingedostes Fleisch, Schokolade und Salzgebäck. Als die fertige Ladung mit Hilfe einiger Männer im Kutter verstaut ist, staunt Aiken, dass Moose das alles bezahlen kann.
„Warum hast du ihn damals eigentlich nicht gleich mitgenommen?“, fragt Kristian.
„Machst du Witze? Weil ich Vollzeit arbeiten musste?“
„Mühme auch.“
Sie sind einander im Dorf begegnet, auf einer Aschebahn nahe der Kirche. Moose ist auf dem Weg zu einem Fußballspiel, zu dem ihn die Einheimischen eingeladen haben. Es ist eine Abwechslung, auf die er sich sehr freut.
„Wenn man keine Kinder hat, ist das nicht so einfach. Das müsstest du doch eigentlich wissen.“
„Das weiß ich.“ Kristian seufzt. „Er ist mit mir Angeln gewesen. Viele Male. Kommt in den Jugendraum, spielt Fußball. Er redet mit mir.“
„Das ist es also“, denkt Moose.
Am Ende des Sommers geht Aiken in der Wathose bis zu den Knien ins Wasser. Mühme betrachtet es mit Befriedigung. Beim Schwimmen hat sie keine nennenswerten Erfolge erzielt, gibt sich und dem Kind jedoch Zeit. Die Kammer in ihrem Haus ist mit Lebensmitteln gefüllt. Sie haben Fische getrocknet, gesalzen, geräuchert, eingefroren.
Am Morgen seines Aufbruchs setzt sich Moose ein wenig nervös zu Aiken auf die Veranda.
„Hat ja ganz gut geklappt“, sagt er und lächelt. „Und jetzt weißt du, wie man Kapelane trocknet.“
Aiken drückt kurz Mooses Hand. „Kommst du mal wieder?“
„Wenn die Polarnacht am schlimmsten ist“, sagt Moose.