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Akt mit Brücke: Maria

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20.03.2005
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Akt mit Brücke: Maria

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte wirklich erzählen soll. Ich weiß auch gar nicht, ob das, was ich zu erzählen habe, Ihnen gefallen oder Sie wenigstens berühren wird. Vielleicht werden Sie manches als abstoßend oder grausam empfinden. Vielleicht werden Sie denken "Warum muss er uns damit behelligen?" Ich bitte Sie um Nachsicht. Ich habe all dies viel zu lange mit mir herumgetragen. Es hat, wenn ich schlief, auf meiner Brust gelegen wie eine Katze. Nicht schwer genug, um einen wirklich zu ersticken, aber doch zu schwer, um frei atmen zu können. Ich weiß nicht, ob Sie jemals mit einer Katze auf der Brust geschlafen haben. Nein? Ich kann Ihnen sagen, wie das ist. Sie spüren die Last und vermögen doch nicht, das schlafende Tier zu verjagen. Sie könnten, das sagt Ihnen jedenfalls die Vernunft, ihr einen kleinen Schubs geben. Sie würde Sie sicher nicht kratzen, vermutlich nicht einmal aufjaulen. Sie würde sich wahrscheinlich als Fußende trollen, sich dort einrollen und gleich wieder leise schnurrend weiterschlafen. Aber Sie können es nicht. Es ist keine Angst, es ist keine alberne Rücksicht. Sie können es einfach nicht. So ging es mir lange Jahre. Und wenn ich das alles jetzt aufschreibe, dann ist das vielleicht der Versuch, die Katze, die sich dort einst als kleines niedliches Kätzchen niedergelassen hat und die über die Zeit zu einem fetten, behäbigen Kater geworden ist, von meiner Brust zu scheuchen.
Wenn Sie bei der Lektüre eine Person oder Begebenheit wiedererkennen sollten, möchte ich Sie inständig um Diskretion bitten. Die Person, die im Zentrum meines Berichts steht, hätte diese Diskretion verdient. Mich plagt ohnehin das schlechte Gewissen, dass ich dies alles preisgebe. Und mein eigener Beitrag zu der Geschichte, den ich als durchaus vernachlässigenswert betrachte, gehört nicht zu den Dingen, auf die ich in meinem Leben stolz bin. Aber das darf nicht mein Maßstab sein. Nein, ich darf nicht aus Eitelkeit oder aus Sorge, dass man schlecht über mich denken könnte, über das Schweigen was ich mit Maria erlebt habe.

Ich sagte schon, dass ich nicht stolz bin, auf das, was ich damals tat. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie es angefangen hat. Ich hätte mit meiner Situation ja zufrieden sein können. Meine Frau liebte mich und, dessen bin ich mir sicher, sie liebt mich noch heute. Die Kinder sind, soweit ich das beurteilen kann, man ist als Vater ja befangen, wohlgeraten. Aber doch war in mir diese bohrende Unruhe. Eine Unruhe, die in mir schrillte wie ein altmodischer Wecker mit zwei Glocken aus Messing obenauf, die nicht mehr klar klingen, sondern jede Harmonie mit einem metallenem Scheppern immer dann zerreißen, wenn man beginnt, Frieden zu finden. Mit dem Frieden ist es wie mit dem Schlaf. Wenn Sie einen gesunden, regelmäßigen Schlaf haben, dann nehmen Sie ihn gar nicht wahr. Sie schlafen einfach, stehen frisch auf, machen sich einen Kaffee und beginnen den Tag gestärkt. Erst wenn Sie nicht mehr einschlafen können, sich Stunden um Stunden wach umherwälzen, merken Sie, dass etwas fehlt. Schlimmer ist nur, wenn Sie, kaum eingeschlafen, von einem hässlichen Geräusch gleich wieder geweckt werden. Von diesem Wecker vielleicht. So ist es mit dem Frieden. Nur langsamer. Nicht weniger zermürbend, aber langsamer. Es kann einen wahnsinnig machen.
Immer öfter trieb mich diese Unruhe heraus. Anfangs ging ich nur in zweifelhafte Lokale und berauschte mich an dem Gefühl von Verdorbenheit. Sie können dort Menschen treffen, denen die Rohheit ins Gesicht geschrieben steht. Sie können Tätowierungen bestaunen, die Ihnen Bände von Gewalt und Gefangenschaft erzählen; Dirnengesichter, denen das Schicksal die Schläge ihrer Luden, die Abtreibungen und die Demütigungen wie Rangabzeichen ins Gesicht geschrieben hat. Es genügte mir, als unbeteiligter Beobachter den fauligen Geruch dieser Umgebung einzusaugen. Ein, zwei Mal im Monat tauchte ich ein in diese Welt, die so fremd war und doch den Wecker für eine Weile zum Schweigen brachte.
Ich wurde findig im Erdenken neuer Legenden. Eine Dienstreise, Überstunden, eine Panne. Ich hatte mir sogar eine kleine Datei angelegt, in der ich die Daten meiner Ausflüge und die dafür verwendete Erklärung notierte. Mal brauchte ich nur ein paar Stunden aber manchmal auch Tage. Alkohol trank ich bei meinen Streifzügen nie, den hätte man riechen können. Stets hatte ich eine kleine Reisetasche gepackt, in der ich die Kleidung verstaute, deren Geruch ich nicht nach Hause tragen konnte. Nie hat jemand Verdacht geschöpft und wenn Sie mir heute begegneten, bei einem geschäftlichen Termin oder beim Spaziergang mit der Familie im Park, kämen Sie nicht im Traum darauf, mit welcher schlafwandlerischen Sicherheit ich damals begann, mich im Dreck der Großstadt zu bewegen.
Nach einer Weile genügte es nicht mehr, Zuschauer zu sein. Was anfangs ausreichte, mich zu beruhigen und - wenn ich die Kleidung gewechselt hatte - wieder sauber zu fühlen, wurde mit der Zeit fad. Wenn ich in den ersten Monaten das Gefühl hatte, kaum wahrnehmbar zu der Umgebung zu gehören wie die Schlager aus den billigen Lautsprechern, die von den anderen Geräuschen übertönt werden oder die Pokalen von nachrangigen Boxwettkämpfen auf den Regalen, so wurde ich mehr und mehr zum Fremdkörper. Ich spürte die missbilligenden Blicke, die mir zuvor entgangen waren und roch meinen unpassenden Geruch. "Ich rieche nach Reinigung, nach Büro, ja ich rieche sogar nach Schuhwichse." Nicht dass dies schlechte Gerüche wären, ich habe den Geruch von Schuhwichse immer gemocht, aber dort wo ich war, waren sie unpassend. Was als leichtes Unbehagen begann, steigerte sich zu einem juckenden Gefühl der Aussätzigkeit. Vielleicht, wenn die Dinge anders gekommen wären, wäre ich an diesem Abend einfach nach Hause gefahren und nie wieder herabgestiegen.
Dass es anders kam, war das Verdienst einer dicken alten Hure, die sich ohne Umstände neben mich setzte und mit einer Wolke billigen Parfums umhüllte. Sie bleckte die grellrot geschminkten Lippen und offenbarte ihre Zähne, in denen zwei viel zu helle falsche Schneidezähne leuchteten. "N'Abend, Jungchen" hatte sie gesagt und mir die fleischige Hand in den Schritt gelegt. Eine Viertelstunde und einen Zwanziger später war ich ein Teil meiner Umgebung geworden und fühlte mich unendlich ruhig und zufrieden. Ich sagte Ihnen schon, dass ich darauf nicht stolz bin, wie es kam, und ja, es mag ihnen ekelhaft erscheinen, aber ich zwinge Sie ja nicht, das zu lesen. Ich kann Ihnen die Wahrheit nicht berichten, wenn ich dergleichen weglasse.
Sie stellen Sich sicher vor, dass man, wenn man sich erst einmal so tief wie ich in den Morast begeben hat, darin auch versinkt. Aber Sie irren. Ich bin kein einsamer Wanderer in einem Moor gewesen, der versehentlich den Weg verloren hat und in einem wässrigen, zähen Schlamm stecken geblieben ist. Der versucht, sich zu befreien und mit der Zeit merkt, dass jeder Versuch, an die Oberfläche zu kommen ihn nur weiter absacken lässt, bis er sich seinem Schicksal ergibt und mit einem Schmatzen versinkt. Nein. Ich stieg in meine Erlebnisse wie in ein reinigendes Bad. Ein Moorbad, das mag sein, aber in ein Bad dessen erfrischender und belebender Wirkung ich mir gewiss war. Ich finde, das ist ein gutes Bild. Ein Moorbad. Es dünstet herbe Gerüche aus und ist von schleimiger, schwarzgrüner Konsistenz, aber es heilt und befreit. So war es für mich, wenn ich einen vom Alkohol gezeichneten Körper bäuchlings über eine Motorhaube drückte und schnaufend auf den welligen, im fahlen Laternenlicht weiß leuchtenden Hintern einstieß.
Bis mir Maria begegnete.

Sie war mir nie aufgefallen, dabei schien Sie so fehl am Platze, wie ich es einst gewesen war. Zwischen all den stumpfen Gesichtern war die Traurigkeit, die sie umgab, wie ein Leuchten. Mit wem sie gekommen war, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich, wie sie mit ihm einige Worte wechselte, sich den Autoschlüssel geben ließ und sich beiläufig verabschiedete. Als sie auf mich zukam, erkannte ich hinter dem teilnahmslosen Gesicht eine hübsche Frau. Sie war keine Schönheit, aber hatte eine eigenartige Anmut wie eine in gebrochenem Weiß schimmernde Perle. Zwei Meter vor mir blieb sie stehen und sah mich an. Ich hielt mich an meinem Wasserglas fest (dass ich immer Wasser trank, hatte ich schon berichtet?) und muss sie wohl angestarrt haben. Gern hätte ich etwas gesagt, aber es gab nichts Passendes. Alles was von der andern Seite stammte, gehörte hier nicht hin, und alles von dieser Seite schien mir bei ihr grob und ungehörig. Ich weiß auch nicht mehr, worüber wir dann geredet haben. Ich weiß nur noch, dass wir redeten. Und dann gingen wir zu ihrem Auto. Auf der Rücksitzbank setzte sie sich rittlings auf mich und bewegte sich hungrig, ernst und langsam über mir. Ich wollte etwas sagen, vielleicht stöhnen, wer weiß, aber sie legte mir die Hand über den Mund und schloss ihre Augen. Ein leichtes Flimmern lief über ihre Lider und ein Zittern ging durch sie. Ihr Körper kam mir so weich vor wie nichts, das ich je gespürt hatte. "Sehen wir uns wieder?" fragte ich stimmlos, als wir dann rauchend nebeneinander saßen. Sie nickte, ohne mich anzusehen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich versinken würde.

Es gingen Wochen ins Land und unsere Begegnungen waren still und ernst. Ich wußte, dass sie Maria hieß. Sonst kannte ich nur ihren alten Golf und buchstäblichen jeden Zentimeter ihres Körpers. Ich hatte das Interesse an den Absteigen verloren und ging dort nur noch hin, um sie zu treffen. Es gab keine Verabredungen, keine Telefonate - ich hatte nicht einmal eine Nummer. Sie war da oder nicht.

An diesem einen Abend war sie unruhig, ja aufgewühlt. "Komm mit" sagte sie, ohne sich zu mir zu setzen, wie sie es sonst tat. "Ich zeige Dir meine Stelle". Sie öffnete die Beifahrertür von innen und fingerte den Schlüssel in das Zündschloss. An der Brücke über der Schnellstrasse hielt sie an: "Komm". Mitten auf der Brücke sah sie sich um, zog ihr Kleid über den Kopf, ließ es achtlos über den Bordstein rutschen und kletterte über die Brüstung. Es geschah mit einer Selbstverständlichkeit als hätte sie es viele Male getan. Mir wurde schwindlig. Der Überhang mochte vielleicht einen Meter breit sein, etwas mehr vielleicht. "Hör auf Maria" hörte ich mich sagen, als sie in den Verkehr herunterblickte, der unter ihr vorbeirauschte. Sie setzte sich und lächelte mich an. Der Wind zupfte an ihren kurzen Haaren:
"Es ist heute genau ein Jahr her. Jan war drei. Mein Sohn. Ich hatte mich mit seinem Vater gestritten und war weggefahren. Ich konnte mich furchtbar mit ihm streiten." Maria rutschte zurück an das Geländer, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. "Kommst Du an meine Zigaretten ran?" fragte sie und überwand, ohne eine Antwort abzuwarten, behänd das Geländer. Sie kramte das Päckchen aus der Mittelablage und stieg, nackt wie sie war, wieder auf die andere Seite. Sie zog die Knie an und stützte die Ellenbogen darauf, zündete sich eine Zigarette an. Der Schein des Streichholzes ließ ihren Körper gelb aufleuchten. "Komm" sagte sie und patschte mit der flachen Hand auf den Beton neben sich. Ich zögerte. "Komm!" wiederholte sie ungeduldig. Ich stieg über die Brüstung und setzte mich neben sie. Ich fröstelte, obwohl die Nacht lau war. Sie inhalierte tief und blies den Rauch nach unten, wo er sich über ihren Bauch verteilte.
"Wir waren genau hier. Ich hielt den Wagen an. Irgendetwas klapperte im Kofferraum. Ich fand es nicht. Als ich kurz hochsah, war Jan aus dem Auto gestiegen und über die Brüstung geklettert."
Maria drückte die Kippe zwischen ihren Füßen aus und sah mich an. "Ich habe noch geschrieen 'Jan!' aber da war er schon gestolpert."
Sie sah nach unten.
"Er fiel gegen die Windschutzscheibe von einem Laster. Ich hab noch das Gesicht von dem Fahrer gesehen." Sie schwieg und fuhr dann fort. "Zweihundert Meter ist er mitgeschleift worden. Ich durfte ihn erst sehen, als die Bestatter ihn zurechtgemacht hatten." Ich nahm ihre Hand, unfähig, irgendetwas zu sagen.
"Das Auto hatte sogar eine Kindersicherung. Ich hatte einfach vergessen, sie einzulegen." Maria schüttelte den Kopf und schnaufte durch die Nase.
"Wahrscheinlich wäre gar nichts passiert, wenn ich einfach ruhig gesagt hätte ,Hast Du toll gemacht, mein Süßer und jetzt kletter zurück zu Mami.' Jan war ein guter Kletterer, weißt Du?" Sie schüttelte wieder den Kopf. "Ich hätte einfach nicht schreien müssen." Sie schwieg lange in das Brummen und Rauschen des Verkehrs. "Ich hätte einfach nicht schreien müssen." Ich wollte irgendeinen Satz beginnen aber schon bei der ersten Silbe, die noch von dem Knattern der Reifen auf den Betonfugen verschluckt wurde, war mir klar, dass nichts, aber auch gar nichts, passen würde. "Weißt Du," sie schluckte "ich hab echt nicht viel hingekriegt in meinem Leben. Aber Jan, das war richtig gut. Richtig gut." Ich erwartete, dass sie jetzt weinen würde und fühlte mich hilflos. Aber sie nickte nur stumm und drückte an ihrem großen Zeh herum. Sie legte ihre Hand auf meine und lächelte, als wollte sie sagen "Ist gut, Du bist nicht schuld." Sie zog die Hand zurück und stand auf, legte eine Hand an das Geländer, die andere strich über meinen Kopf. Mit einem Schritt war sie an der Kante und ließ sich vornüber fallen.

Ich habe mich nicht einmal von ihr verabschiedet. Ich bin einfach gegangen. Das macht mir am meisten zu schaffen.

 

Hallo Labude,

so gut, wie ich die Geschichte auch finde, es ist einer der Texte, der mal wieder beweist, dass es schwerer ist, ein anspruchsvolles Happy End hinzubekommen, als eine Geschichte einfach in einem Selbstmord aufzulösen. Das finde ich gerade für diese Geschichte sehr schade, denn mE schmälert das Ende sie.
Auch wenn von Beginn an alles darauf hin läuft, ist nciht ganz ersichtlich, warum sich Maria gerade an diesem Tag vor diesem Menschen von der Brücke fallen lässt und ihrem Sohn folgt, warum sie so lange gewartet hat, als ob sie erst jemanden gebraucht hätte, mit dem sie bumsen und es ihm anschließend erzählen konnte.
Vom Erzählstil her ein großartige Geschichte.

Sie würde sich wahrscheinlich als Fußende trollen,
ans Fußende

Lieben Gruß, sim

 

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