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Alice's Wunderland

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08.08.2001
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Alice's Wunderland

Regenvorhang, dachte Alice. Ein Regenvorhang hing über der Straße. An Fäden, die sie nicht greifen konnte, lief alles herab, machte alles naß. Nichts blieb trocken in ihren Gedanken. Sie rochen so schwer nach dem Auswaschen. Das Wasser rauschte gegen den Bordstein, die Reifen gluckerten in jeder Pfütze. Das Quietschen der Scheibenwischer konnte Alice nicht hören. Doch dafür sah sie ganz klar durch die angelaufenen Autoscheiben. Wie damals, als sie in die Columbia Avenue einzogen, stand Mark im Garten, tropfnaß, und schaute ihrem Auto mit riesigen Augen nach. Die dicken schwarzen Ränder seiner Brille stachen aus seinem blassen Sommersprossengesicht heraus, die dunklen Haare in langen, nassen Strähnen. Und er hielt einen Gartenschlauch fest in seinen kleinen Händen, um die Blumen zu wässern. Als hätte Mark alles um ihn herum vergessen, stand er in der Gartenpfütze und wässerte weiter, obwohl er selbst im Regen stand.
Dann blinzelte Alice in den nächsten Kleingarten hinein. Mr. Wilson ließ dort die Blitze zum Gewitter zum Himmel aufsteigen. Sein Gesicht war unter der großen Metallmaske nicht zu sehen, aber die Blitze aus seiner Gewittermaschine spiegelten sich in seinen nassen Oberarmmuskeln. Als Alice mit ihren Eltern im Wagen vorbeifuhr, hielt er mit dem Blitzen inne, legte den Schleifer ab und schob die Schweißermaske hoch. Auch Mr. Wilson wollte sehen, wer dort neu in Columbia Ave einziehen würde.
Alice schüttelte den Kopf, versuchte zu schreien. Wenigstens ihre Eltern müßten doch bemerken, daß sie schreckliche Schmerzen hatte. Das, was am Morgen so aus ihr herausgelaufen war, hatte fürchterlich gerochen. So frisch, süßlich schwer nach Blut, aber schon überreif. Wenn Pfirsiche faulig werden, aber noch immer an den Bäumen hängen. Und Erbrochenes. Alice hatte das nicht so gewollt, es hätte so ohne Schmerzen gehen müssen, einfach nur einschlafen hatte sie gewollt. Ihr Kopf schwirrte, die Sirene am Wagen machte so furchtbaren Krach und in der Plastikmaske glaubte sie, nicht richtig Luft bekommen zu können.
Sie sprach den Pfleger an, in seiner schönen roten Uniform, doch der konnte ihre Sprache nicht verstehen.

Am Tag darauf war die Mutter von Alice in unser Krankenzimmer gekommen. Um sie zu besuchen. Ich hatte gehört, was die Ärzte bei der Visite diagnostiziert hatten.
Mrs. Harlan war eine schlanke und zierliche Frau. Aber sie kam mit zielstrebigen, energischen Schritten zum Bett. Gepflegte Frisur, der Blazer war sicher von Ann Taylor.
„Gott, helfe uns. Wissen Sie, es war wirklich nicht leicht, mit einem Kind wie Alice zu leben. Haben sie denn eine Ahnung, was es bedeutet, wenn der Arzt zu ihnen sagt, dass ihr Kind behindert sein wird? Mein Mann und ich hatten nur noch gebetet. Ständig gebetet. Unsere zwei Kleinen, sie lieben Alice. Wir haben es trotz allem geschafft. Wissen sie, mein Mann ist Bauingenieur, er hat das ganze Haus umgebaut. Das neue in der Columbia Ave, wissen Sie. Ja, Greenwood. Da war sie richtig glücklich, Alice. Natürlich, den ersten Schock vergisst man nie, aber wir hatten es doch geschafft...“ ihre Stimme brach, als sie schluchzend über die Verbände an Alices Handgelenken streichelte. „Mein Gott, ich habe doch noch zwei gesunde Kinder. Und die brauchen mich doch genauso wie Alice...“ flehentlich sah mich Mrs. Harlan an. Sie wurde immer leiser, sank in sich zusammen, bis sie auf dem Bett von Alice saß und schließlich leise zu sich selbst flüsterte: „Wir hatten doch von dem Kind nichts wissen können...“

Und Alice erzählte mir von einem Hasen. Vor dem Krankenhaus. Es war die Rede von Mark. Sie hatte mit Mark einen kleinen Hasen gehabt. Als Mark sie mit ein paar anderen Jungs aus der Siedlung zur Jagd mitgenommen hatte. Sie waren durch die Büsche geschlichen wie Indianer, durch das Dorngestrüpp, auf der Suche nach kleiner Beute. Alice hatte ihn erst gar nicht bemerkt. Ein kleiner Hase hatte sich unmerklich an ihre Fersen gehängt. Nur Mark bemerkte, dass sie zurückblieb und kam, um nach ihr zu sehen. Sie saß am Boden und streichelte den kleinen Hasen. Und Mark erklärte ihr, dass sie ihn nicht mit nach Hause nehmen könnte. So ein Hase brauchte doch seinen Auslauf, und in der Wohnung in der Columbia Ave wäre das ein Witz. Dann die Nahrung. Ob Alice wüsste, was ein Hase denn so braucht. Alice könnte gar nicht für den Hasen sorgen. Er würde nur unter Qualen verhungern, verenden. Alice ließ sich von Mark überzeugen. Nach ein paar zaghaften Versuchen, ihn davon zu jagen, hoppelte er davon. In die Richtung der anderen Jungs. Und sie stöberten den Hasen auf. Sie brüllten, bis der Hase in wilden Haken durchs Gestrüpp jagte. In wilder Panik. Dann ein Schrotschuss, bei dem Alice tief in die Eingeweide zusammenzuckt. Nur zerfetzte Reste blieben übrig.

Mrs Harlan war regelrecht ausgeflippt. „Wie konntest du Alice nur zur Jagd mitnehmen“, fauchte sie Mark an. Was da alles hätte passieren können. Und Alice bekam Mark lange nicht zu sehen. Sie erzählte, dass sie eingeschlossen wurde, in einem alten Gemäuer, das zum Teil schon eingestürzt gewesen war. Wie in einem Bombenkeller. Ihre Eltern sprachen über die Zukunft. „Was soll nur aus ihr werden?“

„Wenn wir überhaupt etwas werden.“ antwortete Alice Mark pessimistisch. Doch Alice hatte ihre Entscheidung getroffen. „Wenn wir etwas werden, ich müsste mich für einen hohen Regierungsbeamten entscheiden. Nur die Regierung kann nämlich entscheiden, weißt du?“ Und dabei schlug sie mit der Hacke lose Schaumstoffisolierungen von der Wand. Es war einmal ein ehemaliges Regierungsgebäude gewesen. „Nur dort kann ich entscheiden. Ich kann mit anderen nicht auf Dauer leben. Es ist die einzige Möglichkeit.“ Mark hatte nur einen entsetzten Blick, aber verstanden hatte er nicht. Damals.
Und Alice fiel in ein bodenloses Loch, tiefer und tiefer.

Und Alice träumte schließlich. Wieder Regen. Mark trug sie weg von der Columbia Ave. Er trug sie ohne Mühe. Trotz des angeschwollenen Bauches, trotz des zusätzlichen Gewichts. Weit weg von ihren Eltern. Und mit Alice würde er ein eigenes Heim aufbauen können. Ein eigenes Heim, mit ihren eigenen, gesunden Kindern. Und wie immer, sah sie ihn mit der dicken Hornbrille im Garten stehen, die Blumen wässern. Und Mr. Wilson blitzte immer noch im Vorgarten, und hob noch nicht einmal seine schwere Schweißerbrille hoch, um zu schauen, wohin Mark sie tragen würde. Und Alice lachte, lachte auf Marks Schultern, lachte beim Erzählen, lachte beim zu Bett Gehen, lachte, lachte, lachte.
Alice würde lange schlafen wollen. Sie hatte mir diese Geschichte oft erzählt. Bis sie endgültig aufgehört hatte zu lachen und eingeschlafen war.

 

Erinnert mich so ein bißchen an den Film "The Other Sister". Ich hab vergessen, wie er auf deutsch heißt, auf jeden Fall geht es da um die Liebe zweier Behinderter und ihren Kampf, aufs College gehen zu dürfen.
Ich finde Deine Geschichte sehr berührend und recht gut geschrieben. Allerdings wird nicht ganz klar, worin denn nun Alices Behinderung besteht. Ihre Gedankengänge sind zwar ein wenig kindlich, aber dennoch scheint sie mir ansonsten ganz normal zu ticken. Wäre schön, wenn der Kontrast deutlicher wäre. Don't ask me how to do that... :confused:
Gruß,

chaosqueen

 

Danke für deine Kritik.
Für mich ist die Behinderung auch mehr ein Vehikel für Alice's Sprachlosigkeit gewesen. Mal sehen, wie ich da weitermache. Danke.

 

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