Allein am Sonntag
Allein am Sonntag
Am Sonntagmorgen schliefen wir wie gewohnt lange aus. Wir bereiteten unser übliches ausgiebiges Frühstück vor. In letzter Zeit kamen wir ungewollt immer auf dasselbe Gesprächsthema: Sterben und Tod. Während Jolie vom Sterben und den verschiedensten Sterbemethoden fasziniert war, interessierte ich mich eher für den Zustand danach, eben den Tod – das ergänzte sich natürlich prächtig.
„Hast du schon gehört, dieser Frankyboy ist gestorben“, sagte Jolie.
„Wer? Frank Sinatra? Der ist doch schon länger tot!“ Ich grinste Jolie ungläubig an.
„Nein, der Frank aus dem Sonnenstudio, wir nannten ihn Frankyboy, weil er immer so einen seltsamen Seitenscheitel trug und halt Frank hieß. Er hat sich umgebracht.“ Ich blickte Jolie mit weit aufgerissenen Augen an.
„Moment mal, der mit den wasserstoffblond gefärbten Haaren etwa?“
„Ja, genau der. Er hat sich aufgehängt, weil er erfahren hat, dass er Aids hat. Hat den Knoten vom Seil nur nicht richtig geknüpft, soll sehr qualvoll erstickt sein...“ Ich lockerte das enge T-Shirt von meinem Hals.
„Das ist ja schrecklich!“
„Sicher, es gibt schönere Methoden zu sterben. Seine Zunge soll ziemlich weit rausgehangen haben und er war knalllila im Gesicht, etwa so wie... hmm... wie diese Himbeermarmelade hier, würde ich sagen.“ Ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar.
„Oh, mein Gott, das ist wirklich schlimm!“
„Hey, krieg dich wieder ein, wir sterben alle mal auf die eine oder andere Weise. Musst hier nicht gleich so rumflippen deswegen.“
„Nein, es geht mir nicht darum, wie er gestorben ist, sondern dass auch er gestorben ist. Ich habe dir noch nicht davon erzählt...“ Jolie schien nicht zu verstehen, was ich meinte. Sie guckte mich mit großen Augen an.
„Hey, du hast ihn doch nur ein paar Male gesehen, als du mich vom Solarium abgeholt hast. Kein Grund ´ne Krise zu bekommen.“
„Ja, und jedes Mal hat er mir einen Gefallen getan. Mir einen Kaffe eingeschenkt, eine nette Auskunft gegeben, die Solariumstechnik erklärt und so weiter, jedes Mal hat er mir halt irgendwie einen Gefallen getan.“ Nun folgte ein etwas längeres Schweigen, bis Jolie mich bemüht verständnisvoll anschaute und schließlich fragte:
„Ja... und?“
„Verstehst du das nicht? Um mich herum sterben seit einem Jahr nach und nach alle möglichen Leute. Da muss es einen Zusammenhang geben. Im Januar starb doch der Gemüsehändler, erinnerst du dich? Er hat mir stets nach dem Abwiegen noch ein extra Stück Obst oben draufgelegt. Er hatte Hodenkrebs. Im März starb der Pförtner vom Arbeitsamt, okay, er war alt und starb an Herzinfarkt und Organversagen, aber er hat mich stets in ein Gespräch verwickelt und Tipps für irgendwelche Anträge gegeben und worauf man bei welchem Sachbearbeiter achten muss. Im Juni erwischte es dann den besten Kumpel von meinem Onkel Ralph. Er hatte mich spät nachts nach einer Feier quer durch die Stadt nach Hause gefahren, weil ich zu betrunken war. Zwei Tage später ist er tot, Verkehrsunfall. Und jetzt im Juli beißt die Bedienung aus deinem Sonnenstudio ins Gras!“ Jolie verdrehte die Augen und kratzte sich am Hinterkopf.
„Hey, du redest Schwachsinn, das ist doch alles nur Zufall. Ich kann auch allen Scheiß auf mich beziehen. Letztens habe ich den Dreierpack vom Paten im Fernsehen gesehen. Eine Woche später gibt Marlon Brando den Löffel ab. Ist doch irre, was?“ Ich unterbrach sie.
„Nein, warte, bei mir ist es anders. Alle Toten haben nämlich etwas gemeinsam: ich kenne sie nur flüchtig, aber alle haben mir einen Gefallen getan. Da kannst du mir nichts erzählen, das ist schrecklich. Da muss es irgendeine Regel geben.“
Den Rest des Frühstücks verbrachten wir damit, Gesetzmäßigkeiten zwischen uns und dem Tod von anderen Personen herzustellen beziehungsweise abzustreiten, wobei Jolie natürlich darauf aus war, jegliche logische Verbindung zwischen den Ereignissen zu leugnen. Schließlich war Jolie müde und genervt. Ich war stur geblieben, und ich wusste, dass sie genau dieses uneinsichtige Verhalten hasste. Also verabschiedete sich Jolie früher als sonst am Sonntag.
Selbstverständlich war auch ich in Wirklichkeit nicht im geringsten von meinem Standpunkt überzeugt, insgeheim hielt ich ihn genauso wie Jolie für absoluten Schwachsinn. Aber ich wusste, dass Jolie mir meine Version abnehmen und sich verärgert früher von mir verabschieden würde.
Eine andere Möglichkeit gab es nicht, Jolie an einem Sonntag vor den Abendstunden loszuwerden. Hätte ich ihr gesagt, dass ich diesen Sonntag doch lieber alleine sein wollte, wären dies in ihren Augen erste aber sichere Anzeichen für eine ernsthafte Beziehungskrise gewesen. Diese ersten Anzeichen einer Beziehungskrise wären für Sie allerdings Anlass, mit mir bis spät nachts darüber zu diskutieren, also den gesamten Sonntag. Hätte ich bestritten, dass wir eine Beziehungskrise haben, würde sie genau diese Behauptung von mir als Beleg dafür sehen, dass sie recht hatte und wiederum aus diesem Grunde ebenfalls mit mir stundenlang diskutieren. Somit gab es an einem Sonntag nur diese eine Methode, Jolie früher als gewohnt loszuwerden.
Nun war ich also alleine. Endlich.