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Alles eigentlich!
Klar ist es unangenehm, aber was soll ich machen? Es ist nun mal derzeit unmöglich die eigene Toilette zu benutzen. Es wurde ja auch mit der Familie Huseklein abgeklärt, Mutter regelte das damals. Vater ist es peinlich genug, dass er arbeitslos ist und ihm dieses Problem, wenn auch nie direkt, immer wieder unter die Nase gerieben wird. „Hey, sieh nur, Margret, da, nein nicht da, da! Der ist das!“ „Der mit dem Klo?“ „Wer denn sonst? Hallo?! Gibt es irgendeine Person über die dieses Dorf sonst zurzeit redet? Pack dich mal am Kopf, Schlampe!“ „Ja, tu ich! Oh, und ja, es fällt mir jetzt ein. Stimmt. Bist richtig, Manfred.“ „Ja.“
Seit drei Wochen muss unsere Familie nun schon beim Nachbarn die Geschäfte verrichten - 23 Tage sogar. Ja, ich weiß, es gibt Schlimmeres. Meine Schwester Louise leidet zum Beispiel jetzt seit einiger Zeit an einer Blasenentzündung. Aber da sie Analphabetin ist, kann sie ja nicht darüber berichten. Trotz von meiner kleinen Dümmlichkeit versuche ich es. Diese bringt das Dorf wohl mit sich. Nicht nur dieses! Vater ist auch ein Idiot. Mutter nicht, sie ist Lehrerin, grenzt sich auch mittlerweile etwas von uns ab. Von ihr weiß ich übrigens, dass Vater ein Idiot ist.
Im Moment befinde ich mich jedenfalls auf dem Rückweg vom Nachbarn. Die Husekleins wohnen etwa zweieinhalb Kilometer südlich von uns entfernt. Es gibt zwar noch eine Nachbarfamilie, die näher an unserem Haus lebt, aber die dürfen nichts von unserem Problem erfahren. Es ist nämlich damals nicht der Kuhkot gewesen, der täglich um 18 Uhr penetrant roch, sondern vielmehr Vater, der die Toilette weiterbenutzte, als wäre nichts passiert.
Ich laufe im Übrigen gerade an dem Haus der Schlotzmanns, so der Name der anderen Familie, vorbei und winke nett der Familienmutter und grinse und bekomme ein krampfartiges Nervenzucken im linken Augenlid und lache viel zu laut und werde rot und renne schnell weiter, als würde ich auf diese Art alles rückgängig machen können. Geht aber nicht und beim Schützenfest nächste Woche wird sie mich daran erinnern und ich werde schreiend wegrennen. Man, wird Vater dann wieder oft zur Toilette müssen.
Jetzt sind es noch knapp 50 Meter bis zu unserem Haus und ich muss irgendwie schon wieder zur Toilette. Mein Darm leidet eigentlich immer, wenn ich Frau Schlotzmann sehe. Ich träumte einmal, dass sie unsäglich glücklich war, da ich sie heiratete, einzig und allein um sie von ihrem Nachnamen zu befreien. Leider erzählte ich ihr diesen Traum im angeheiterten Zustand auf dem letzten Schützenfest und umarmte sie, noch bevor ich den Schlusssatz mitsamt der Pointe verkündete. So schnell rannte ich bisher nie wieder!
Puh, endlich angekommen. Ich esse erst mal drei Dickmänner, vier, fünf Dickmänner und zwei weiße Dickmänner. Ein Trinkpäckchen dazu. Ich bin übrigens pummelig. Ich möchte gerade die Treppe betreten, da ereilt mein Gehör ein schwesterliches Geschrei. „Du weißt ganz genau, dass ich schon eine Woche immer Pipi muss.“ Mit diesem Worten will sie mir irgendetwas sagen. „Du hörst nicht, was ich sage!“ „Doch!“ „Was?“ „Wie was?“ „Hä?“ „Warum fragst du ‚Was?’“ Atempause. „Du weißt ganz genau, dass ich schon eine Woche immer Pipi muss.“ Ein déjà-vu! Ein déjà-vu! Oh, noch eins! Sie beginnt zu heulen. Man, sieht sie jetzt hässlich aus! Die Äderchen in den Augen aufgeplatzt, das Gesicht puterrot, der Nase entfließen Sekrete und ein schrilles Schluchzen verlässt ihren Mund . „Papa kommt!“ schreie ich und Louise sucht das Weite.
Mutter stürmt in den Flur. „Wo ist mein Körbchen? Wo ist mein Körbchen?“ Solche Verwirrungen verursachen Tote bei einer Massenpanik! „Körbchen!!!“ brüllt sie wie ein Ochse aus kürzester Distanz in mein Gesicht. Jetzt erst wird mir klar, was sie will. Bisher war ich nur von der Situation fasziniert und hörte lediglich zu, ganz ohne Umsetzung der Worte im Gehirn. Dabei gibt es bei „Körbchen“ nicht viel umzusetzen! Bewundernswert ist dennoch die Sprachkreativität meiner Mutter, die ein, zumindest theoretisch, beschönigtes Wort auf so viele Weisen aussprechen kann. Ich mag Mutter. Sie greift nach meinem Arm und rüttelt mich. Ich beiße dabei auf meine Zunge. „Ich musste zu den Husekleins!“ „Deine Schwester ist krank!“, sagt sie nun ruhiger. „Ich musste aber ganz dringend!“ „Wo ist mein Körbchen?“ So nett hat sie heute noch nichts gesagt.
Das Körbchen wird normalerweise von mir zurechtgestellt. Es sollte im Idealfall eine Banane, einen Apfel, einen Liter stilles Wasser, Mutters Handy, Mutters roten Lippenstift und Vaseline beinhalten. Mutter fährt nämlich nach ihrer Arbeit in der Schule vier ihrer Arbeitskollegen nach Hause. Das macht sie für einen mir unbekannten Nebenverdienst seit zwei Monaten. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Nicht einmal für eine Saugglocke. Nicht einmal für Louises Blase. Nicht einmal für Vaters neue Arbeitsstelle. Nicht einmal für Dickmänner. Nicht einmal für eine Scheidung. Ich höre gerade ein trauriges Lied, aber auch das geht vorbei...