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Alles geht vorbei!
Alles geht vorbei!
Manchmal regnet es so stark, dass es den Anschein hat, die Welt gehe unter. Dieser Regen kommt nicht still: er bringt Blitze, Donnerschläge und heftige Sturmböen mit sich. Er überschwemmt die Straßen und bringt ein wenig Unordnung in eine sonst wohlgeordnete Welt. Und wenn er verschwindet – so plötzlich wie er gekommen ist – bleiben nur die Pfützen, in denen sich, der immer noch graue Himmel spiegelt, zurück. Die Welt kann wieder in ihren gewohnten Lauf zurückkehren.
Ines rannte die Straßen entlang. Die Schwüle des Sommertages hatte ihren Höhepunkt erreicht. Unerträglich drückend, beinahe wie ein lebendiges Wesen, lag sie über den Straßen der kleinen Stadt, brachte den Asphalt zum Flimmern und selbst die Vögel waren verstummt. In der Ferne türmten sich schon dunkle, bizarre Wolkentürme auf, wie die Burgen einer fremden, gefährlichen Welt. Außer dem Mädchen war niemand zu sehen. Auf seinem Gesicht hatten Tränen salzige, verklebte Spuren hinterlassen, sein Mund war verkrampft und die blonden Haare ungekämmt. Immer noch würgte es an einem trockenen Schluchzen.
„Ines, Ines! Siehst du mich oder versperrt dir deine Nase die Sicht!“
„Vorsicht nicht hinschauen! Ines kommt! Von so viel Hässlichkeit wird man blind!“
„Wenn Ines nur nicht auch noch so dumm wäre! Aber sie kann sich ja nicht einmal anziehen…“
„Aus Differenzen und Summen kürzt nur INES“
„Ughh! Herr Leiert, Sie können Ines nicht neben mich setzen! Mir wird übel!!!“
Die Rufe ihrer Klassenkameraden hallten noch immer in Ines Kopf nach. Immer schneller rannte sie, als könnte sie so auch noch der Erinnerung entfliehen. Aber ihr konnte sie nicht entrinnen. Sie wurde gezwungen jede Beschimpfung wieder und wieder anzuhören, jede Demütigung noch einmal zu erleben.
„Vorsicht! Da kommt eine hässliche Riesenkrake!!“
„Meinst du Ines? Kraken haben doch keine Rüssel!“
„Aber sie haben sicher genau so ekelig glitschige Tentakeln!“
„Ines hat eine Sechs in Mathe! Eine Sechs in Mathe! Dabei war es doch so leicht! Wie dumm muss man eigentlich sein? Hast du wieder aus den Summen gekürzt, Ines? Also dumm genug für eine Riesenkrake ist sie doch in jedem Fall.“
Ines musste stehen bleiben. Das Schluchzen drohte sie zu ersticken. Verzweifelt schnappte sie nach Luft. Wie ein Kissen drückte sich die Hitze über Mund und Nase. Der Staub brachte sie zum Husten. Alles drehte sich; sie ließ sich auf den harten, heißen Asphalt fallen.
„Da ist kein Platz mehr für dich Ines! Bleib halt auf dem Gang! Oder geh auf die Missgeburtenschule wo du hingehörst!“
„Ines, warum bist du zu spät?“
„Es tut mir leid, Herr Leiert. Ich habe meinen Bus verpasst!“
„Die hässliche Krake war zu dumm um in die Schule zu finden!!“
„Tom, wie oft soll ich dir noch erzählen, dass Kraken keine Rüssel haben, im Gegensatz zu Ines.“
Ein alter Mann war neben dem am Boden liegenden Mädchen stehen geblieben. „Hast du denn kein Zuhause? Warum bist du nicht in der Schule!“ Die freundlichen Worte des Alten, klangen in Ines Ohren wie wüste Beschimpfungen. „Lassen Sie mich in Ruhe!“, kreischte Ines mit heiserer Stimme und rappelte sich auf. „Wo kommst du her? Gehst du auf die Hauptschule gegenüber!“ „Nein tue ich nicht! Sehe ich denn so aus!! Lassen Sie mich in Ruhe! Fassen Sie mich nicht an!“ Verwirrt wich der Alte ein paar Schritte zurück. Ines rannte weiter. Weiter, die staubigen Straßen entlang in die Richtung des Flusses.
„Was sagen Sie da, Frau Müller? Ines ist abgehauen?!“ Herr Leiert, der gerade seine Sachen gepackt hatte, um nach Hause zu gehen, musterte die junge Kunstlehrerin über seine dicken Brillengläser hinweg. Die junge Frau nickte eifrig.
„Konnten Sie sie denn nicht aufhalten?“
„Nein ich habe es gerade eben erst festgestellt. Ich kam ein wenig zu spät in den Unterricht…“
„Ein wenig zu spät!? Ihre Doppelstunde ist seit fünfzehn Minuten zu Ende! Sie müssen doch schon vorher bemerkt haben, dass Ines fehlt!“
„Ich habe es auch sofort festgestellt und habe die Klasse gefragt, ob sie entschuldigt ist. Die Klasse sagte mir, sie hätte sich in Ihrer Stunde wegen Kopfschmerzen befreien lassen. Thomas hatte es sogar in das Klassenbuch eingetragen! Erst nach dem Ende der Stunde – ich hatte die Klasse früher gehen lassen –ist Magdalena zu mir gekommen und hat gesagt, Ines sei einfach weggelaufen. Sie hätte geweint, aber was genau war, hat Magdalena mir nicht sagen wollen.“
Herr Leiert blickte nachdenklich ins Leere. „Sie meinen also, die Klasse hat meine Unterschrift im Klassenbuch gefälscht. Dass eine sechste Klasse so etwas tut!“
„Na ja, sie haben halt so einen Kringel hingemalt, hat Ihrer Unterschrift ziemlich ähnlich gesehen…“ Die Referendarin verstummte und errötete. Auf dem Gesicht ihres älteren Kollegen, zeichnete sich die Andeutung eines Lächelns ab, als er die mit Wasserfarben verschmierte junge Frau betrachtete.
„Haben Sie mit der Klasse geredet?“, fragte er.
Frau Müller schüttelte den Kopf:„Sie waren schon nach Hause gegangen.“
„Was sollen wir jetzt tun?“, fügte sie nach kurzem Schweigen besorgt hinzu.
„Ich hatte schon einmal so einen Fall. Der Junge ist einfach nach Hause gelaufen. Ich würde vorschlagen, Sie warten hier, während ich die Klassenliste suche und bei Ines Eltern anrufe. Wir sollten uns keine übertriebenen Sorgen machen. Es handelt sich ja nicht mehr um ein Grundschulkind. Was die Klasse anbelangt, sollten wir uns wirklich etwas überlegen. Magdalena darf auf jeden Fall nicht als Petze dastehen.“
Die ersten Tropfen fielen auf die staubige Straße. Die Wolkentürme waren jetzt direkt über der kleinen Stadt und hielten unter sich immer noch die drückende Hitze gefangen. Verästelte Blitze zuckten über den Himmel. Noch brauchte der Donner einige Zeit um den Ort zu erreichen, an dem Ines saß. Unter ihr schlängelte sich der grüne Fluss. Sie fühlte sich verloren, beinahe so als hätte man sie ausgesetzt. Genau an dieser Stelle war sie vor ein paar Wochen mit ihren Eltern gewesen. „Mama.“, wimmerte sie leise. Das Gewitter machte ihr Angst, sie sehnte sich nach einem Gefühl der Geborgenheit. Sie wollte schon aufstehen, umkehren, nach Hause gehen, aber wie sollte sie erzählen, dass sie weggelaufen war. Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären? Immer wieder hatte die ihr gesagt sie solle sich nicht darum kümmern, was die anderen sagen, das sei doch nur dummes Geschwätz, denen würde es doch nur so Spaß machen, weil sie sich so ärgerte. Aber was hätte sie denn tun sollen? Wenn sie an die Szene im Kunstsaal dachte, kamen ihr immer noch die Tränen.
„So ein Scheiß!“, sagte Herr Leiert und schlug die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu. Frau Müller sah ihren distinguiert wirkenden Kollegen mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich kann die Eltern nicht erreichen!“, erklärte er sich nach einer kurzen Pause. „Ich habe es ein paar Mal läuten lassen. Endlich ist eine nette Dame mit sehr fehlerhaftem Deutsch rangegangen. Schien die Haushaltshilfe zu sein. Sie hat mir so viel sagen können, dass Ines nicht zu Hause ist. Außerdem hat sie mir die dienstliche Telefonnummer von Ines Mutter gegeben. Ist allerdings niemand hingegangen.“
„Und jetzt?“, fragte die Kunstlehrerin leise.
„Das Problem ist, wenn wir die Polizei anrufen machen wir es für das Mädchen noch unangenehmer. Wenn wir es nicht tun und es ist etwas passiert...“ Er zog die Schultern in einer hoffnungslosen Geste nach oben. „Dieses Mädchen spinnt einfach!“
„Moment mal! Natürlich spinnt sie, wenn das alle von ihr denken! Selbst ihre Lehrer. Sie sind ihr Mathelehrer Sie sollten sie doch akzeptieren und nicht mit den Schultern zucken und sagen sie spinnt. Natürlich haben Sie ihr das nicht gesagt, aber sie merkt doch was man von ihr denkt.“
„Machen Sie mir Vorwürfe?“
„Nein…Doch vielleicht.“
„Sie haben eine Doppelstunde nicht gemerkt, dass ihre Schülerin fehlt!“
„Ich weiß. Die Klasse hat ja gesagt… In Ordnung ich habe es nicht gemerkt. Ich will Ihnen ja auch keinen Vorwurf machen… Nur sollten Sie sich jetzt nicht über Ines beschweren.“
„Schon in Ordnung.“ Herr Leiert verzog seine schmalen Lippen zu einem schwachen Lächeln.
„Und was jetzt? Sollen wir suchen gehen? Wir haben keine Ahnung wo sie ist, oder auch nur wo sie sein könnte!“
„Die Polizei auch nicht.“
Inzwischen war das Mädchen am Fluss vollkommen durchweicht. Der Regen glich dem Wasserschwall aus einem Eimer, den jemand umgedreht hatte. Ines hatte keine Ahnung was sie tun sollte. Ein paar Mal hatte sie sich gefragt, was passieren würde, wenn sie in den Fluss springen würde. Wenn man ihre Leiche weiter unten aus dem Wasser gefischt haben würde, dann würde es ihnen allen Leid tun. Ihren Mitschülern, die dann das Gefühl hätten an ihrem Tod schuld zu sein. Ihrem unausstehlichen Mathelehrer, der sie immer behandelte als hielt er sie für ein wenig blöd. Ihrer Mutter, die ihr immer sagte, sie solle stark sein. Dann würden sie sehen, was sie davon hatten. Aber noch saß sie am Ufer und sah auf den schmutzig braunen Fluss unter sich.
Der Regen löste Wasserfarbe und Schminke und schwemmte die Farbströme von dem Gesicht der Frau. Herr Leiert betrachtete Frau Müller von der Seite her, während sie die Straße hinunter gingen. Ohne die Farbflecke sah sie wirklich ungewohnt aus, aber vielleicht lag das auch an dem fehlenden Make-up.
„So jetzt sind wir ihren Heimweg abgelaufen und haben nichts gefunden.“, sagte sie etwas beklommen. „Was sollen wir jetzt tun?“
Er zuckte mit den Schultern. Gedanklich ging er die verschiedenen Möglichkeiten durch: Die Polizei anrufen? Damit riskierte er einen absoluten Skandal und seine Chancen doch noch einen Schulleiterposten zu ergattern stünden bei Null. Die ganze Stadt ablaufen? Was wenn dem Mädchen etwas passierte bevor sie es fanden? Die Eltern noch einmal anrufen? Sie hatten es vor fünf Minuten auf allen Nummern, die sie hatten, erfolglos versucht. Er richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf seine Kollegin. Er musste verpasst haben was sie gesagt hatte, zumindest war sie jetzt mitten im Satz. „…Eltern haben ein Bootshaus am Fluss.“ Fluss. Das Wort sank wie ein Messer in seine Gedanken. „Gehen wir zum Fluss.“, sagte er mit gezwungener Ruhe.
„Mein Gott! Sehen Sie nur da ist etwas im Fluss! Eine Leiche.“ Die Stimme der Referendarin klang schrill und panisch als sie Herrn Leierts Arm packte. Er zwang sich dazu ruhig zu atmen und blinzelte durch den Regen auf die Wasseroberfläche wenige Meter unter ihnen. Da war wirklich etwas. Etwa so groß wie ein Kind trieb es auf den Wellen. Bildete er es sich nur ein oder sah er blondes Haar. Es wirbelte mit der Strömung auf sie zu. „Ein Baumstamm!“, sagte Frau Müller zittrig. „Wohin jetzt?“, fragte sie. Sie standen ein paar Meter von dem kleinen Bootshaus entfernt, das Ines Eltern gehörte. Von dem Mädchen war weit und breit nichts zu sehen. „Der Mann hat ja gesagt, dass sie in die Richtung des Flusses gelaufen ist.“, entgegnete Herr Leiert, nach kurzem Zögern.
„Schon, aber das muss inzwischen eineinhalb Stunden her sein, dass er sie gesehen hat.“
„Wir können sie fast nicht verfehlt haben…“ Die Blicke der beiden wanderten wieder über die grünlich braune Wasseroberfläche.
Eine unerwartet fröhliche Melodie riss sie aus ihren Gedanken. „Einen Moment.“, murmelte Frau Müller und fischte in ihrer Tasche nach dem Telefon. Endlich brachte sie ein erstaunlich buntes verkratztes Gerät zum Vorschein.
„Hi! Hier Gabriele Müller.“ Die Stimme am anderen Ende gehörte zu den Stimmen, bei denen sich sofort das Bild des Sprechers vor dem inneren Auge bildet. Die Besitzerin, dieser klaren, etwas scharfen Stimme in der ein Hauch von Ungeduld lag, musste einfach blond mit etwas adlerartigen Gesichtszügen sein.„Sie haben versucht mich zu erreichen!“
„Könnten Sie ihren Namen noch mal wiederholen?“
„Elena Braun.“
„Elena Braun?“, wiederholte die Kunstlehrerin etwas perplex.
„Ines Mutter, falls Sie sich erinnern.“ Die Stimme der Frau war purer Sarkasmus.
„Oh!“
„Ja „Oh“! Ich bin soeben von einer Dienstreise zurückgekommen, um meine Tochter weinend und völlig durchweicht auf der Türmatte zu finden. Können Sie sich das erklären?“
„Ähm, nein, ich meine ja!“
„Wunderbar! Ich höre!“
„Ines ist abgehauen.“
„Herrlich! Suchen Sie?“
„Ja! Natürlich.“
„Merkwürdig ich sehe überhaupt keine Polizei!“
„Nein, wir wollten erst einmal so schauen.“
„Erst einmal so schauen! Ich verstehe. Meine Mutter hat gesagt Ihr Kollege hat angerufen, hat gefragt ob Ines zu Hause ist und hat dann ohne Erklärung wieder aufgelegt.“
„Oh, wirklich?“
„Ja wirklich! Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich morgen einmal vorbei komme?“
„Ähm, ja natürlich… warum nicht…“
„Na dann bis morgen. Einen schönen Nachmittag noch.“ Die Verbindung wurde unterbrochen.
Mit zitternden Händen drückte Frau Müller die „Auflegen“ Taste und ließ das Telefon in ihre Jackentasche fallen.
Ein paar Sekunden sahen sich die beiden Lehrer an.
„Ich hoffe die Mutter regt sich nicht zu sehr auf. Ich meine so was geht vorbei“, murmelte Herr Leiert und starrte auf den Fluss, so als sähe er seine Karrierechancen darin verschwinden.
„Klar. Alles geht vorbei. Das ganze Leben.“, erwiderte die Referendarin und wandte sich zum Gehen.