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Alles ist ein Wort, das ich nicht mehr benutzen werde

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08.11.2004
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Alles ist ein Wort, das ich nicht mehr benutzen werde

Vier Priester und eine Hure in einem weinroten Dreiergolf auf der Autobahn. Sie fährt, keiner traut ihr. Ich wache auf und stelle fest: ich bin darunter. Aus den Boxen dringt Korn (entweder „Life is peachy“ oder das „Greatest Hits“ Album), das meinen hämmernden Kopfschmerzen noch eine besondere Note verpasst. Was ist passiert?

So ein Golf ist ganz schön eng. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es wirklich der Dreiergolf ist, aber wenn Golf und junge Leute fahren drin, dann ist es meistens der Dreier. Weinrot, na, Blick auf die Maske, naja, wenn ich mich ein bisschen vorbeuge, ja, wirklich weinrot.
Viel wichtiger jedoch: was mache ich hier? Wer bin ich, der jetzt aufgewacht ist? Wer sind diese Leute, woher kommen sie, wie sind sie drauf? Wir drei auf der Rückbank und der Mann auf dem Beifahrersitz tragen schwarze Priestergewänder. Von der Fahrerin vor mir kann ich primär nur sagen, dass meine Knie nicht gegen ihren Sitz drücken, also kann sie nicht so übergroß sein. Wir schweigen alle. „Oh Gott, bitte gib, dass ich aus dieser Situation vernünftig rauskomme“, schicke ich ein Stoßgebet gen Himmel und habe sofort ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nur in so Situationen an meinen schwach glimmenden Glauben erinnere.

Sonst hätte ich auch kein Problem damit, geradeheraus zu fragen, was los ist, ich meine, ich bin doch kontaktfreudig und direkt und so. Sagen alle, da könnt ihr fragen wen ihr wollt. Aber hier, keine Ahnung, bin ich irgendwie befangen.

Zurückdenken: was ist die letzte Erinnerung, die du hast? Zu Hause, Abendbrot gegessen mit den Jungs aus dem Wohnheim. Nein, danach kommt noch was: wir wollten noch ausgehen, Party irgendwo. Im Süd-Viertel, kann das sein? Kenne ich doch keinen, wie komm ich denn dahin?

Ich bin mit Sicherheit kein Priester, also bin zumindest ich verkleidet. Ist auch ganz schön eng hier hinten. Genau neben mir sitzt ein kleiner Kerl, mit kurz geschnittenem, braunem Haar, der aufmerksam dreinblickt. Der am Fenster –wohl so groß wie ich, wenn sich das im Sitzen beurteilen lässt- hat ne Brille und blondierte Haare, aber nicht so aufdringlich wie man das manchmal sieht. Der Beifahrer ist am linken Ohr oben gepierct, das andere sehe ich nicht. Seine Haare sind fast kahl geschoren. Eher auch kein Priester. Wir alle vermutlich auch nicht, sehen ja eher gleich alt aus und zum Priesterwerden braucht’s ja Zeit, hört man. Ich vermute, wir kommen von `ner Kostümparty. Klingt logisch. Ja, absolut. Und im Vollsuff haben wir uns gestern geeinigt, irgendwohin zu fahren. Ja, so wird es sein. Mm—hmm. … Nee, ist eher Quatsch, aber an diese Erklärung klammere ich mich, denn die Alternative, die mir einfällt, ist gestern ganz großen Blödsinn gemacht zu haben und jetzt abzuhauen. Übel, übel.

Und die Frau, die fährt? Achja, jetzt fällt’s mir wieder ein: gibt es nicht so Verkleidungspartys, wo man entweder als Geistlicher oder als Prostituierte kommen muss? So aus England „Priest and Prostitute“, etwas in der Art. Jaja, also doch harmlos, aber wohin fahren wir? Und wieso?

Make me baaaaad.

O-key, aber andere Musik könnte man echt mal laufen lassen, ist ja nicht auszuhalten auf die Dauer. Zumal das Wetter gar nicht auf Hard `n Heavy ist, ganz im Gegenteil, scheint richtig die Sonne. Ja, noch ein Grund, wieso ich die Leute nicht einfach frage: Wenn wir wirklich Scheiße gebaut haben (habe ich Blut unter den Fingernägeln? Schnell mal nachschauen) und ich hier zu erkennen gebe, dass ich keinen Plan hab, dann könnten die das voll ausnutzen. Mir irgendeine Story anhängen, um mich herein- und sie herauszureiten. Kann sein. Ich mein`, ich kenne diese Leute gar nicht. Nee, Blut habe ich nicht an mir, die Fingernägel sind auch zu kurz, damit sich da was fängt, aber ein bisschen Erde.
Kein gutes Zeichen.

Die Frau vorne, ja, die Fahrerin, hab ich die schon taxiert? Unauffällig vorbeugen. Pinkes Haar, ich seh’ ja nur den Hinterkopf, enges, knallgrünes Top, kurzer, roter Rock. Sieht richtig nuttig aus, so Leid es mir tut, ist einfach so. Ich schau eine Weile aus dem Fenster. Ich weiß, irgendwie wird das Ganze enden, auf die eine oder andere Weise, aber im Moment hab ich echt das Gefühl, dass diese Stunde, dieser Tag, dieser Trip nicht enden wird, nicht wirklich, sondern sich einfach nur verläuft in so etwas wie `ner ewigen Fortsetzung.

Falling away from me! Schon gut, schon gut.

Wir halten an. Pinkelpause, ich weiß nicht, ob jemand was gesagt hat oder ob wir uns schweigend einig waren. Der Rastplatz ist fast leer, nach dem Sonnenstand zu urteilen muss es so kurz nach Mittag sein. Der, der auf dem Beifahrersitz saß und der Mann genau neben mir sind auf ’s Klo, die Fahrerin ist irgendwohin verschwunden, am Auto stehe noch ich und der, der vorhin am Fenster saß. Hey, die Art von Toilettenhäuschen kenn ich doch! Kompakter Bau in einer Farbe, relativ neu, das Dach überhängend: Wir sind in Sachsen! Und wenn wir bei mir losgefahren sind, dann fahren wir wohl ostwärts. Mein Über-Sitznachbar lehnt lässig am Wagen. OK, genug, ist mir egal, was passiert, wir fahren schon ne ganze Weile, ich sprech’ ihn mal an:
„Hey!“ Er dreht sich um.
„Hi.“
„Ganz schön lange Fahrt.“
„Hmmh.“ Naja, Frontalangriff.
„Hör zu, ich weiß nicht, was hier abgeht, aber ich würde gerne mal schauen, ob was Totes im Kofferraum liegt, solang wir zu zweit sind.“ Jetzt ist es raus.
„OK.“ Er scheint auch erleichtert.
Ich mach den Kofferraum auf. Wir blicken rein. Nichts. Keine Leiche, kein geknebelter Arbeitgeberchef, kein unmittelbarer Grund zur Besorgnis. Gottseidank. Nur so Kofferraumzeug halt: Ersatzrad, Kanister, `n Zelt.
„Hey“, sagt er, jetzt schon ein bisschen freundlicher, „Ich bin übrigens der Wolfgang.“
Soll ich einen falschen Namen nennen? Ist das sein richtiger Name? Was soll’s, ich geb’ ihm die Hand und bin ehrlich: „Angenehm. Ich bin der Andy.“

Die beiden anderen kommen wieder und ich geh unsere Frau im Bunde suchen. Die Raststätten an der Autobahn sind immer mit einem Zaun abgegrenzt und dieser Zaun hat immer irgendwo ein Loch. Ich finde es, schlüpfe hindurch und gehe in Richtung Felder. Hier sitzt sie, mit dem Rücken zur Autobahn auf der Erde und schaut in die Ferne. Ob sie träumt? Ich zögere sie anzusprechen.
„Ich weiß nicht, was du vorhast, aber die Jungs sind vom Pinkeln zurück.“
Sie dreht sich um. Ich sehe jetzt zum ersten Mal ihr Gesicht. Sie sieht verheult aus. Und ich habe das Gefühl sie irgendwoher zu kennen, aber woher?
„Fahrt ohne mich.“ Gut, Mädchen, ein toller Vorschlag.
Ich denke an zurückfahren. An die Prüfungen, die ich dann doch noch mitschreiben kann und an den Job an der Tanke, wo ich hätte eigentlich heute schon antreten müssen. Ich spüre jedoch die Wärme der Sonne auf meiner Haut und die Felder vor uns und genieße eine unglaubliche Ahnungslosigkeit.
„Nee, komm einfach.“ Woraufhin sie wirklich aufsteht. Sie reißt sich die pinke Perücke vom Kopf, schüttelt ihre langen, dunkelblonden Haare aus und wirft die Perücke mit aller Wucht von sich. Dann gehen wir zurück zum Auto.

 

Hey Monty,

schicke ich ein Stoßgebet gen Himmel und habe sofort ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nur in so Situationen an meinen schwach glimmenden Glauben erinnere.
ein cooler Satz!

So sonst hätte ich auch kein Problem damit, geradeheraus zu fragen,
Umgangssprache ist natürlich bei einer dermaßen personelle Perspektive okay, sogar angebracht, aber manchmal doch übertrieben. Das "So" würd ich streichen.

Zurückdenken: was ist die letzte Erinnerung die du hast?
letzte Erinnerung, die du

wo man entweder als Geistlicher oder als Prostituierte kommen muss.?
der Punkt, der darf weg.

pinkes Haar, ich seh’ ja nur den Hinterkopf,
Pinkes groß. Satzanfang und so.

Ich weiß, irgendwie wird das Ganze enden, auf die eine oder andere Weise, aber im Moment hab ich echt das Gefühl, dass diese Stunde, dieser Tag, dieser Trip nicht enden wird, nicht wirklich, sondern sich einfach nur verläuft in so etwas wie `ner ewigen Fortsetzung.
sehr cool! :)

Ich las diese Geschichte mit einem stetig breiter werdenden Grinsen. Das alles so offen bleibt, kümmert mich gar nicht, zu cool sind Erzählstil und überhaupt die ganze Idee und so. Hat Spaß gemacht.

Grüße
sTarsailor

 

Hallo Monty,

na, wenn das mein Alltag wäre, würde ich es mit der Angst bekommen. ;)
Mir hat die Geschichte auch gefallen, obwohl ich schon gern erfahren hätte, was passiert ist.
So ist es eine Geschichte über das geistige Loslassen, sich der Zukunft anvertrauen, egal, wie beängstigend sie sich einem auch präsentieren mag. Auch als Leser schwer, sich drauf einzulassen, wenn man so wenig weiß. Tonfall und Stil bringen wirklich Spaß.

Lieben Gruß, sim

 

Hi Starsailor! Hi sim!


Vielen lieben Dank für eure Kommentare (und die Rechtschreibtipps)!
Freut mich, dass es euch gefallen hat :D

Mein Alltag sieht auch nicht exakt so aus, aber manchmal würde ich mir das wünschen. Wir kommen von nirgendwo, gehen nirgendwo hin und können nur feststellen: verwirrend hier!
Das macht aber nichts. Andy genießt seine Fehler.


Herbstliche Grüße,
Monty

 

Hy Monty,

Zuallerst: "So aus England „Priest and Prostitute“" - gibt's das wirklich? Fänd ich ja mal cool.

Ich fühle mich Deiner Geschichte Zwiegespalten gegenüber. Einerseits hat's was, diese Egal-Mentalität sagt was aus, aber nur wenig, dafür ist die Geschichte zu sehr Umgangssprache und hat zu wenig 'Anspruch'. Dafür ist sie dennoch unterhaltsam!
Dein Stil liest sich flüssig, fühlt sich an als würde es einem direkt erzählt werden.
Obwohl in der Geschichte nicht viel passiert, liest man weiter, die Ausgangssituation finde ich kreativ. Nur das Handeln von Andy zeitweise unrealistisch, so locker würde ich das nur nehmen, wenn ich grade auf Drogen wäre. *g* Ich finde er fragt etwas spät nach und komisch finde ich, dass dieser eine Typ anscheinend auch keine Ahnung zu haben scheint, was die eigentlich im Auto suchen. Ich würde keine Auflösung mehr schreiben; aber vielleicht das "wir kommen von nirgendwo, gehen nirgendwo hin" etwas deutlicher rausarbeiten.

Achja, und wenn schon Monty, dann auch Python! :D

Liebe Grüße!
Thorn

 

Hi Thorn!


Vielen Dank für deine Kritik!

Für mich ist das kein Manko. Geschichten, die wissen wie anspruchsvoll sie sind, wirken schnell ermüdend. Das, was du "Anspruch" nennst (mehr oder minder "was ich aus dem Lesen mitnehme") kann man auch subtiler transportieren.

Bytheway: gibt es viele Arten von "Montys": Monty Python, Monty Burns, Mont-ezuma, Mont (y) Everst. Ich bin noch nie einem wirklich unangehmen Monty begegnet.


Frühabendliche Grüße,
Eben-der Monty

 

Hallo Monty,

dieser Widerspruch, an dem bin ich auch hängen geblieben.
Es gäbe eine Menge Möglichkeiten einer Amnesie. Dieser nach und nach auf die Spur zu kommen hat was. Aber

ZITAT
Hey!“ Er dreht sich um.
„Hi.“
„Ganz schön lange Fahrt.“
„Hmmh.“ Naja, Frontalangriff.
„Hör zu, ich weiß nicht, was hier abgeht, aber ich würde gerne mal schauen, ob was Totes im Kofferraum liegt, solang wir zu zweit sind.“ Jetzt ist es raus.
„OK.“ Er scheint auch erleichtert.
ZITATENDE

Wenn der andere anders reagieren würde, hätte alles mehr Substanz.
Ich meine, es kann ja eine „vernünftige“ Erklärung dafür geben, dass sie sich nicht kennen. Noch nicht.


Diese Idee hat was.
Wie du das Ganze angepackt hast, es verführt zum Weiterlesen.
Warum machst du nicht eine 200 Seitengeschichte daraus? Wenn dem Lebert seine Geschichte solch einen Anklang gefunden hat, warum sollte es deine nicht auch in einen Verlag schaffen!

Gruß Charly

 

Hi Charly!


Danke für deinen Kommentar!

Man lebt die meiste Zeit in einem Un-Bewusstsein. Ich gehe, arbeite, esse, aber ich bin mir dessen nicht explizit bewusst. Ich sage mir nicht im Stillen: "Jetzt gehe ich. Jetzt esse ich. Jetzt arbeite ich." Der Übergang auf die Meta-Ebene findet statt, wenn wir aus irgendeinem Grund aus unserem Alltag herausgeworfen werden.
Wenn du in einer Schlägerei kurz innerhälst und dich fragst "Wie bin ich da bloß hineingeraten?" oder in einem Liebesabenteuer, das nicht als solches gedacht war "Wie komm ich da wieder heraus?"
Das der andere in ebenso einer Situation steckt halte ich für nicht unwahrscheinlich (Tasten nach Verbündeten im Gang durch ein schwarzes Zimmer).
"Alles ist ein Wort" ist eine Momentaufnahme jenseits kausaler Erklärungszwänge. Ich meine damit nicht, dass Erklärungen grundsätzlich schlecht sind, aber das sie in dem Fall vom Wesentlichen ablenkten.


Eine schöne Woche wünscht,
Monty

 

Hallo Monty,

fehlt dann nicht ein einleitender Hinweis darauf?
Wenn die Vorraussetzung die von dir beschriebene ist - jetzt da du darauf hinweist - sieht die Geschichte für mich ganz anders aus. Ein Beleuchter hat das Geschehen in ein ganz anderes Licht gesetzt. Jetzt wird das Geschehen viel interessanter ...
Ohne diesen in Gedanken im Kopf an die Geschichte herangegangen, ergibt das eine ganz andere Lesart, denke ich.

Gruß Charly

 

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