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- 12.02.2004
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Alles was Sie brauchen
Durch die Gänge des Hyper-Giga-Markets irrte eine kleine Hausfrau mit einer langen Einkaufsliste. Sie hieß Frau S., und seitdem sie jeden Samstag die Gesundheitsbeilage ihrer Tageszeitung studierte, hatte sich ihr Leben erheblich verkompliziert. Ihr Einkaufswagen schlingerte an den Tomaten vorbei, und schon musste sie an das gute Vitamin A denken: Die Kinder brauchten es für ihre Knochen und Zähne. Es war auch gut für die Augen und die Haut. Andererseits ist eine Überdosierung von Vitamin A bei Schwangeren mit dem Risiko von Kindesmissbildungen verbunden... Frau S. war nicht schwanger, also bestand da keine Gefahr. Sie fingerte an den kühlen und glatten Häuten der Tomaten herum, und steckte ein halbes Dutzend in ein Plastiksäckchen.
Um an die lebenswichtigen B-Vitamine zu kommen, musste sie den Wagen durch die ganze Verkaufshalle schieben. Bewusstseinserweiternde Musik begleitete sie. In der Fleischabteilung erwarb sie ein schönes Stück Leber, dass den Zellstoffwechsel ihrer Familie auf Vordermann bringen sollte.
Auf dem Weg zu den Zitronen musste sie noch einmal ein gutes Stück zurückgehen. Das war es ihr wert, denn Vitamin C spielt eine wichtige Rolle beim Funktionieren der Körperzellenzyme. Sie wollte keinesfalls das Risiko eingehen, dass einer ihrer Lieben Skorbut bekam, oder auch nur Zahnfleischbluten.
In ihrem Eifer, den Wagen schnellstmöglich zum Kühlregal zu schieben, fuhr sie fast eine Kleinfamilie über den Haufen. Sie brauchte Milch und Eier, denn Vitamin D ist für den Einbau von Calcium in die Knochen ein Muss.
Der nächste Punkt auf der Liste waren Getreidekeimlinge. Selten gegessen, aber sehr gesund. Vitamin E schützt die Atemwege, und soll sogar den Alterungsprozess verzögern.
An diesem Punkt ihres Einkaufs lehnte sich Frau S. gegen eine Regalwand, und atmete tief durch. Sie brauchte mehr Vitamin F, da half nichts! Wie sonst sollte sie ihren Cholesterinspiegel regulieren? Sie packte also eine Flasche Olivenöl in den Wagen.
Die Handvoll Schokolade, die sie im vorbeigehen schnappte, entschuldigte sie damit, dass der Körper Vitamin H zur Harnstoffbildung benötigt. Gut, dass sie schon Zitronen und Leber im Wagen hatte! Sie wollte schließlich weder Lungenentzündung noch Schleimhautblutungen bekommen. Ohne die Vitamine I und K ging es nicht.
Sie freute sich auch über das in der Leber enthaltene Laktationsvitamin L, nahm aber vorsichtshalber noch ein Päckchen Hefe. Damit löste sie die Frage, wie um alles in der Welt sie an genug Vitamin M kommen sollte, um etwas für die Blutbildung zu tun.
Zu ihrer Freude fiel ihr in der Getränkeabteilung ein, dass in Johannisbeersaft Vitamin P ist, das so entzündungshemmend wirkt, und die Kapillaren durchlässig hält. Um die exotischen Vitamine T und V kümmerte sie sich nicht weiter, denn bevor sie den Wagen zur Kasse schob, wollte sie sich unbedingt mit genug Folsäure versorgen. Sie schnappte sich also mehrere Säcke mit getrockneten Bohnen, denn ohne Folsäure kann der Körper nicht die Nukleinsäuren bilden, die das genetische Erbmaterial der Zelle darstellen.
Auch eine Kiste Bier stand auf der Liste. Die war für ihren Mann Otto, der schon mit seinem VW Passat auf dem Parkplatz wartete. Trotz der hervorragenden Kost, die sie an ihn verfütterte, hatte Otto Haarausfall, einen Bierbauch und immer schlechte Laune.
„Du dumme Nuss,“ sagte er, als sie völlig außer Atem mit dem Einkaufswagen zum Auto kam, „Weißt du nicht, dass du das alles umsonst haben könntest? Dazu bräuchtest du nur einen kleinen Ausflug ins Internet zu machen. Du gehst immer einkaufen und stopfst dieses ganze Zeug in den Kofferraum, obwohl das Bier genügen würde!“
Frau S. verstand nicht, was er meinte, dabei ist es offensichtlich, dass ihr Gatte von DIESEM Text sprach.
Er enthält „Tomaten“, „Leber“, „Zitronen“, „Milch und Eier“, „Getreidekeimlinge“, „Olivenöl“, „Schokolade“, „Hefe“, „Johannisbeersaft“, und „mehrere Säcke mit getrockneten Bohnen“, folglich also auch „Vitamin A“, „die lebenswichtigen B-Vitamine“, „Vitamin C“, „Vitamin D“, „Vitamin E“, „Vitamin F“, „Vitamin H“, „Vitamin I“, „Vitamin K“, „Vitamin L“, „Vitamin M“, „Vitamin P“, „die exotischen Vitamine T und V“ und „Folsäure“
Alles also, was Sie brauchen, gratis und 24 Stunden am Tag verfügbar in Ihrem Internet.
(Neuere wissenschaftliche Studien behaupten allerdings, dass Texte auf Webseiten Vitamine und Mineralstoffe in einer Form enthalten, die der menschliche Körper nicht aufnehmen kann.)