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Alltägliche Jugend

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18.03.2006
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Alltägliche Jugend

Er ging noch schlaftrunken über den vereisten Hof. In einer Ecke stand ein altes Sofa und große blaue Müllsäcke lagen überall verteilt. Dann erreichte er die Toilette, ein kleines Holzhäuschen aus dem ihm schon von weitem ein unangenehmer Geruch entgegenkam. Die Toilette an sich war ein Loch im Boden, unter dem eine Grube ausgehoben worden war. Kein Klopapier.
Danach ging er in die Küche und wusch sich notdürftig an der Spüle, in der sich das schmutzige Geschirr stapelte. Aus dem Wohnzimmer klang das Schnarchen von seinem Vater. Er hatte gestern Nacht gehört, wie er einige Gegenstände umgeworfen und gelallt hatte, er rechnete also damit, dass sich auf dem Sofa bereits ein stinkender nasser Fleck ausgebreitet hatte. Wer hatte schon Lust nach draußen auf die Toilette zu gehen, wenn er seinen Rausch ausschlief? Jens-Peter holte seine Jacke, die für diese Jahreszeit eigentlich viel zu dünn war und seinen ramponierten Rucksack und machte sich auf den Weg.

Er saß im Klassenzimmer und starrte verbissen auf sein Pult. Er wusste, warum er direkt neben dem geöffneten Fenster sitzen musste und warum niemand neben ihm sitzen wollte. Dieses Wissen ließ ihn vor Demütigung fast in Tränen ausbrechen. Sprüche wie, der Asoziale, Stinki oder das Pennerkind von dem dreckigen Säufer waren ihm wieder über die Schulgänge gefolgt. Wie so oft dachte er an seine Mutter. Er wünschte sich, sie würde kommen und ihn hier rausholen, raus aus der Scham, dem Spott und der Einsamkeit. Doch sie würde nicht kommen, sie war vor 2 Jahren am Krebs gestorben, danach hatte sein Vater angefangen zu trinken. Wie ein Klassenkamerad so scharfsinnig bemerkt hatte, er war so arm, er hatte nicht mal eine Mutter.

Nach der Schule streifte Jens-Peter durch das Dorf. Er hatte keine Lust nach Hause zu gehen, wo ihn nichts erwartete, außer dem leeren, dreckigen Haus. Langsam bekam er Hunger und bald würde er zu dem Parkplatz von Kondi gehen müssen, um sich von seinem Vater etwas Geld zu holen, aber jetzt wollte er noch nicht. Er blieb mit den Gedanken bei seinem Vater, einen Mann, den er wirklich liebte, auch wenn er sich manchmal vor ihm ekelte. Aber er versprach immer, dass alles besser würde, dass er in eine Therapie gehen und wieder einen Job finden würde, gleich morgen würde er sich darum bemühen. Jens-Peter wünschte, er könnte wieder wie früher daran glauben. Er kam zum eingefrorenen Fluss und wollte sich dort auf eine Bank setzen, aber ein anderer Junge war schon da. Jens-Peter kannte ihn, er war ein Junge aus seiner Parallelklasse. Der Junge, Christian, nahm Anlauf und rutschte dann auf dem zugefrorenen Fluss ein paar Meter. Jens-Peter sah eine Weile zu. Seine Gedanken begannen wieder abzuschweifen, diesmal dachte er an seine Zukunft. Er wollte Krankenpfleger werden und dann würde er alles hinter sich lassen, dieses dreckige kleine Dorf, seine boshaften Bewohner, alles. Bisher waren seine Noten gut genug, er könnte es schaffen.
„Machst du mit?“, fragte Christian, der ihn inzwischen bemerkt hatte.
Jens-Peter zögerte, dann nahm er Anlauf.
Die zwei Jungen spielten bereits eine Stunde, der eine mit lebhaften blauen Augen, Sommersprossen und blondem Haar, der Andere dünn blass und schwarzhaarig, die dünne Kleidung schützte ihn kaum vor der schneidenden Kälte, aber er spielte und war seit langem wieder glücklich.
Dann kamen Christians Freunde, Alexander und Mike. Jens-Peter wollte sich bereits unter einem Vorwand verabschieden, doch sie waren schon da.
„Was will der denn hier?“, fragte Mike mit abschätzigem Blick auf Jens-Peter.
„Geht dich doch nichts an, Fetti“, antwortete Christian.
„Wir wollten uns heute gegen acht noch mal treffen“, sagte Alex. Nach kurzem Zögern mit Blick auf Jens-Peter: „Du kannst auch kommen, wenn du willst.“
Dieser wollte ablehnen und sich dann auf den Weg zum Kondi machen, doch Christian kam ihm zuvor.
„Klar kommt er.“
„Gut, dann bis nachher, ich muss jetzt nach Hause.“
Als die beiden weg waren sah Christian Jens-Peter an.
„Du kommst doch, oder?“
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“
„Lass dich von Fetti bloß nicht einschüchtern, der ist ne Flasche.“
Jens-Peter zuckte mit den Achseln und sagte nichts. Christian klopfte ihm theatralisch auf die Schulter.
„Du musst dringend mal unter andere Kinder, es wird dir Spaß machen, wirst schon sehen.“

Dunkelheit umfing ihn, als er über das Feld in Richtung Klärgrube lief. Es war ein kleines Holzhaus, in dem die Grube für die Excremente der Kühe im Dorf war. Er fand, es war das perfekte Versteck. Er war ebenfalls schon Sucher gewesen und hatte alle drei gefunden. Nun sollte Alexander suchen. Er erreichte die Klärgrube. Der Gestank, der ihm entgegenschlug ließ ihn kaum atmen, aber er ging trotzdem hinein. Es war ein quadratischer Raum, 10x10 m, darin war der Schacht, in dem die sirupartige Brühe schwamm. Die Lastwagen kamen regelmäßig, um die Excremente abzuladen. Jens-Peter wollte in die Ecke rechts von ihm und sich dort zusammenkauern. Er balancierte vorsichtig den schmalen Rand entlang. Dann rutschte er aus und verlor das Gleichgewicht. Der Gestank umfing ihn, die Dämpfe ließen ihn keine Luft holen und er versank schnell immer tiefer in der zähen Masse. Alexander suchte vergeblich nach ihm, während ein Krankenpfleger starb, der nie existieren würde. Eine glückliche Kindheit, eine kurze, schreckliche Jugend, dann nichts mehr.

 

Hallo pina colada

Wie willkürlich aus einem individuellen jungen Leben gegriffen, las ich die Geschichte, die Verständnis und Mitleid für Jens-Peter zu vermitteln vermag. Doch da ist auch eine Sehnsucht, welche sich ab dem zweiten Abschnitt offenbar wird. War es ein Fehltritt oder die Erfüllung der Todessehnsucht, die ihn seinem tristen Dasein entzieht?

Mir gefällt sie, mit etwas mehr Schliff in der Erzählform, würde ich sie gar als gelungen wahrnehmen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo pina colada!

Sorry, aber mir gefiel der Text weniger. Warum? Die Armutssituation wird mir viel zu plakativ beschrieben. Natürlich haben die nicht mal ein Klo. Natürlich wird Jens-Peter von allen gemieden. Natürlich hat der Vater erst angefangen zu saufen, nachdem seine geliebte Frau einen schrecklichen Tod erlitten hat. (Übrigens, das ist ein heftiger Absturz nach nur zwei Jahren.) Natürlich spielt das auf dem Dorf, mit all den Dorfklischees von Ausgrenzung.

Und das Ende? Er findet endlich Freunde, stirbt aber im nächsten Moment. Voll auf die Tränendrüse. Dabei könnte man aus dem Ende eine Geschichte machen, wenn man das ausbauen würde.
=> Raus mit sämtlichen Klischees.
=> An den Charakterisierungen arbeiten.
=> Einen vernünftigen Titel finden.
Dann könnte da noch was draus werden.

Grüße
Chris

 

hallo Pina Colada,

hm....ich musste den zweiten Teil der KG zweimal lesen und mir dann erstmal klar werden, ob ich es richtig verstanden habe. Für mich funktioniert dein Text so nicht.

Endlich findet dein Prot Freunde und du baust einen Konflikt und einen Hauptteil auf (Christian, der sich gegen seine Freunde auf seine Seite stellt), aber dann kommt einfach so beim Versteckspiel der Unfalltod. Für mich hat die KG somit keine Aussage, es passt nicht. Das war auch der Grund, warum ich den zweiten Teil nochmal lesen musste. Ich hatte im ersten Moment gedacht, die Jungs hätten ihn in einen Hinterhalt gelockt, um ihn zu demütigen o.ä. und dabei wäre der Unfall passiert. Dann hätte für mich die Geschichte gepasst und hätte die Tragik, die ich so nicht empfinde, eine Aussage : Der Junge, der sich freut, dass sich endlich ein paar Gleichaltrige für ihn interessieren, jetzt wird alles anders, er freut sich, fiebert dem Treffen entgegen. Doch dann muss er erkennen, dass ihn die Jungs nur in den Dreck ziehen wollen. Sie werfen ihn in die Jauchegrube, lachen "jetzt bist du da wo du hingehörst, du Stinker", dabei passiert dann irgendwie das Unglück. Jens stirbt in dem Moment, in dem er erkennt, dass er aus dem stinkenden Sumpf nicht herauskommen kann (im doppelten Sinne). So genug geklugscheissert, ist ja deine Geschichte :sealed:

lg Engelchen

 

hallo pina colada!
ich bin bei deiner geschichte zweigeteilt. ich finde, du stellst die situation deines protagonisten sehr gut dar. als leser kann ich fühlen, was er erlebt. aber es stimmt schon, dass das alles vielleicht sehr klischeehaft ist.
das ende überraschte mich dann. der tod in der jauchegrube ist sehr symbolhaft, doch die idee, dass die anderen ihn in einen hinterhalt locken wollen (so wie von engelchen211 beschrieben) wäre logischer gewesen. vielleicht aber auch wieder vorhersehbar. schwierige sache.
die gesamte kg liest sich etwas stockend. du fängst oft mit ''Er'' an, das wird schnell langweilig. möglicherweise würden ein überwiegend hypotaktischer satzbau besser funktionieren. experimentier ein wenig, mach aber weiter. :)

 

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