Alltag, irgendwie.
Wir sitzen in der Kantine, wir sind allein; er hält Anne, das Mädchen aus der Weltbildabteilung, für ein ‚stilles Wasser’. Das heißt für tief und dreckig, was er gleich anfügt, ich weiß noch nicht, ob ich ihn gerade vertrage oder nicht. Die Uhr über der Theke hat keinen Sinn für gerechte Zeit, sie geht kaum voran. Er, Martin, und die Uhr liefern sich einen Wettkampf um Unverträglichkeit, Martin redet jetzt ununterbrochen, er liegt vorn. Ich bin heute unrasiert, ich fahre mir mit der Hand über die Wangen hin zum Kinn, das ich mehrmals streife, meine Finger werden beinahe rau. Ich habe keine Meinung zu Anne, aber ich sage: Vielleicht ist sie wirklich so langweilig. Wer? Anne. Glaubst du? Weiß nicht, vielleicht. Der Minutenzeiger der Uhr hat zehn Minuten auf einmal genommen, Martin stellt sein Tablett auf die dafür vorgesehene Ablage, ich den Aschenbecher auf die Theke, wir verabschieden uns von der Kantinenfrau, als sei sie eine von uns, und gehen zum Fahrstuhl.
Am Telefon stelle ich die üblichen Fragen, mein Kopf liegt seitlich auf dem Tisch, ich sehe aus dem Fenster und rede gleichmütig ins Headset. Alles ist wichtiger als das Telefonieren, das Aus-dem-Fenster-Sehen, das Trinken, das Pissen, das Wieder-Trinken, das Wieder-Pissen, das Notieren von absurden Sätzen, die keinen Zusammenhang vertragen. Am Ende des Tages habe ich sechsundzwanzig Abschlüsse, achtzehn Frauen und acht Männer, ich kann mich an keinen erinnern. Das Erinnern wird zu einer Tätigkeit aus der Vergangenheit, an die ich mich nicht erinnere. Neben mir sitzt Martin, hängt das Headset über den Monitor und ergeht sich in den üblichen Fragen: Und, wie viele haste? Sechsundzwanzig. Wow. Du? Vierzehn. Wow. Ich lasse die Jalousien herunter, werfe die absurden Sätze in den Mülleimer, verabschiede mich von den Mitarbeitern, als sei ich einer von ihnen, und gehe zum Fahrstuhl.
Draußen legt sich ein bisschen Sonne auf mein Gesicht, ich stehe vor dem Hintereingang und überlege, ob ich loswerden möchte oder aufnehmen. Es ist warm und ich weiß nicht, weshalb ich rauche. Wenn ich ziehe, legt mir die Zigarette die Mundhöhle trocken, ich brauche etwas zu trinken, denke ich und gehe in eine Richtung, die mir jeden Nachmittag fremd vorkommt, ich gehe nach Hause.
Ich habe mir angewöhnt, den Schlüssel aufs Waschbecken zu legen, so weiß ich jeden Morgen, wenn mich der urinale Drang ins Bad schiebt, dass ich zur Arbeit muss. Morgens habe ich vergessen, die Wasserflasche in den Kühlschrank zu stellen, also trinke ich aus dem Wasserhahn und lege die Flasche ins Tiefkühlfach. Im Radio läuft Musik gegen das Vergessen, ich setze mich an den Schreibtisch und lese eine Tageszeitung, die schon einige Tage dort liegt. Der übliche Fortsetzungsroman ist diesmal von einer alten Frau, die dem Herausgeber der Zeitung recht nahe steht, ihre Prosa liest sich wie Brot, das tagelang offen herumlag. Ich überlege, mich in einem Leserbrief über Vetternwirtschaft und korrumpierte Herausgeber auszulassen, aber mein Mund ist so trocken, dass ich nicht denken kann. Also fällt mir Anne ein. Die blond ist und Humor hat wie verschimmeltes Brot, also keinen. Sie hat auch keine Brüste, oder kaum, und ihr Haar ist zu lang, um frech, aber zu kurz, um aufregend zu sein. Was ich mit Anne reden könnte, denke ich, wenn wir uns in einem Café gegenübersäßen. Vielleicht über die Arbeit, natürlich über die Arbeit, nur über die Arbeit. Ob es für sie Arbeit ist, könnte ich sie fragen, würde ich aber nicht, weil ich keine Fragen stelle und zumal nicht Anne. Anne ist wie die Notizen, die man wegwirft, weil sie nicht gut genug für einen Leserbrief sind. Vielleicht passt Martin zu ihr, immerhin weiß ich von beiden nicht einmal die Nachnamen. Vermutlich Huber, das würde zu beiden passen. Während des Kreuzworträtsels denke ich wieder an die Flasche, die ich immer zu lang im Tiefkühlfach lasse und die dann erst wieder eine halbe Stunde auf dem Fensterbrett steht, damit sich die Eisklumpen auflösen. Die Sonne geht mählich über die Dächer hinweg und das Zimmer nimmt jenes Grau an, das mir vertraut ist. Als ich das Lösungswort habe, lege ich den Kugelschreiber weg und nenne mich Anne. Wie peinlich das ist, denke ich, nur das Lösungswort haben zu wollen. Nur weil die Menschen sich ihre Peinlichkeit nicht eingestehen, können sie jeden Morgen zur Arbeit gehen. Aber Anne nennen kann ich mich auch nicht, denke ich, und gehe verschiedene Varianten durch, Anner, Annhard, Anus, alle sind bescheuert. Morgen werde ich meine Zigaretten zu Hause lassen und Martin in der Pause nach einer fragen, um zu sehen, ob er mich tatsächlich mag oder sich nur das Unglück erträglich zu machen versucht, neben mir sitzen zu müssen.
Die Zigarette habe ich bekommen, in der zweiten Pause reicht er mir sogar von selbst eine hin, ich nehme sie und suche nach einem Zögern in seinen Augen. Ich finde es nicht, aber das gibt mir keinen Aufschluss. Vielleicht ist es Erziehung, denke ich, vielleicht ist man auf diese zuvorkommende und überaus verständnisvolle Haltung schlichtweg trainiert. Scheiß Traditionalisten, denke ich und ziehe länger als sonst an der Zigarette. Er hat vermutlich mehr als ein Auge auf Anne geworfen, er redet schon wieder von ihr. Ihre Kleidung ist so brav, sagt er und sieht verwegen auf das gegenüberstehende Gebäude, als würde das alles erklären. Ich mag keine Erklärungen, ich gehe ihnen präventiv aus dem Weg. Es ist Arbeitskleidung, sage ich. Also ist es Arbeit für sie, sagt er. Die Sonne ist blasser als gestern, aber sie ist unbeeindruckt davon, sie wird heute nicht früher ins Bett gehen als gestern. Auch nur antrainiert, denke ich. Die Filter seiner Zigaretten sind länger als meine, das verkürzt die Raucherpause um anderthalb Minuten und lässt etwas Unbefriedigendes zurück. Glücklicher Weise müssen wir länger als erwartet auf den Fahrstuhl warten, alles ist wieder in Ordnung.
Vierundzwanzig, sage ich, warte drei Sekunden und dann: Wow. Martin lächelt, als sei ihm soeben Anerkennung zuteil geworden, vielleicht hat er heute mehr als ich, ich weiß es nicht. Ich lasse den Schutz an den Kopfhörern, werfe Sätze in den Mülleimer und nicke Martin verabschiedend zu. Du lässt die Ohrpuschel dran?, fragt er. Die was? Den Schutz an den Kopfhörern. Ach so, ja. Ich sehe mir nicht mehr seinen Blick an, womöglich fände ich darin Unbehagen, aber es ist seines und es soll bei ihm bleiben. Auf dem Weg zum Fahrstuhl, der tatsächlich ein Weg ist, gehe ich an der Weltbildabteilung vorbei und lächle Anne zu. Mir fällt kein Grund dafür ein. Sie sieht zurück, als wüsste sie nicht, wie man lächelt. Vor dem Fahrstuhl ertrage ich das Warten nicht und gehe die Treppen hinunter, wie man seinen Kopf aus der Guillotine zieht, weil einer aus dem Publikum ruft: Er ist unschuldig! Ich renne beinahe. Ich muss hier raus, bevor ich es wirklich bin.
Obwohl ich fünfzehn Stunden Zeit habe, gehe ich zügig nach Hause. Mein Schritt ist streng, wie das Hämmern auf eine alte Schreibmaschine und das beständige Klappern dabei sind meine Gedanken. Es sind metallene Gedanken, das Wiederholen von eigentümlich unpersönlichen Sätzen. Während ich die Wohnungstür aufschließe, erwarte ich fremdes Gezell in den Zimmern. Aber es ist meine Wohnung, ich wohne allein hier. Das muss ich noch lernen. Ich sehe in den Kühlschrank, aber es ist nichts darin, das ich brauchte. Mit dem Radio ist es ähnlich, also setze ich mich auf den Toilettendeckel und lasse Wasser aus dem Hahn laufen. Ich lehne meinen Kopf an die Wand und höre auf das Rauschen. Das Bad ist nur teilweise gefliest, die Zementerhebungen an den Wänden, diese enorme Menge an Punkten, wirken wie Gedanken und die Wände sind hierbei mein Kopf, er hält sie zusammen. Ich setze den Stöpsel ins Waschbecken, lasse etwas Wasser einlaufen und schütte Waschmittel und Weichspüler darein. Als Kind hatte ich den erzschlauen Wunsch, Corega-Tabs zu lutschen. Dieser Wunsch ist verfallen. Mit der Zahnbürste rühre ich in dem Gewässer herum, von den Punkten an den Wänden kommt kein Impuls. Ich lasse das Zeug ablaufen und lege mich ins Bett, vielleicht habe ich Glück und kann bis Mitternacht schlafen.
Sag mal, sagt sie und sagt weiter nichts. Ich ziehe beide Augenbrauen hoch, weil ich noch nicht gelernt habe, nur eine zu betätigen und die andere ungerührt zu lassen. Es muss dämlich aussehen, also antworte ich. Ja? Mit den Tarifwechseln und so, sagt sie und sagt weiter nichts und wir stehen wieder so marmorn herum. Was ist mit den Tarifwechseln? Na, wie läuftn das so? Ich bin keine Tarifinstanz, sage ich, aber nur zu mir selbst. Ich wollt gerad Pause machen; vielleicht kommst du ja mit. Sie nimmt ihre Zigaretten und dann gehen Anne und ich in die Pause.
Also, das mit den Tarifwechseln, sage ich und weil ich nicht als inkommunikativ gelten will, pausiere ich jetzt auch. Ach, das mit den Tarifwechseln, sagt sie. Ja, sage ich. Wir stehen um den Aschenbecher vor dem Hintereingang, der aussieht wie ein alter Grill, und sehen aneinander vorbei. Es gibt jetzt keinen Unterschied mehr zwischen Sekunden und Minuten, die Zigaretten brennen herunter, ich sehe mich am Grill fest. Was machstn nach der Arbeit so? Sport, sage ich und bin überrascht von diesem Reflex. Sport, denke ich, damit machst du dich bestimmt interessant, Sportler sind vermutlich die langweiligsten Menschentypen überhaupt. Auf die Frage, weshalb ich mich interessant machen möchte, finde ich keine Antwort. Und heute so? Wieder ist Sport mein erster Reflex, aber ich unterdrücke ihn. Weiß noch nicht, sage ich. Mh, sagt sie und es wirkt so abschließend, dass ich mich frage, was das für ein Satz sein soll. Sie drückt ihre Zigarette aus und ich frage es: War das ein Satz? Was? Das Mh. Weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich denken soll, also denke ich an die verschiedenen Tarifwechsel, die wir anbieten, und dass ich jetzt lieber einen Situationswechsel hätte, aber während wir vor der Hintereingangstür stehen und ich sie ihr öffne, sieht sie für einen Augenblick seltsam hübsch aus, vielleicht lächelt sie doch und in ihre Wangen legen sich jene Grübchen, die meinen Worten jede Logik nehmen. Warum fragst du, frage ich. Nur so.
Die letzte halbe Stunde auf Arbeit ist eine private, vielleicht privater als die Zeit zuhause. Man verliert den unsicheren Kontakt zur Zeit, sie wird vergehen, das ist gewiss. Endlich kann man denken, was man denken will. Hierbei denke ich an Anne, aber es ist kein Nachdenken, mehr so ein Drüberwegdenken. Sie ist nur ein Bild und mein Kopf ein Museum, ich stehe vor dem Bild und sehe es an. Ich weiß nicht, was der Künstler sich dabei gedacht hat, und vermute: gar nichts. Womöglich war Anne so ein Pausenbild, eines, das zur Erholung zwischen zwei tiefen Werken gemalt wurde. Aber irgendeine Bedeutung muss es haben, sonst hinge es nicht im Museum. Das Betrachten des Bildes macht mich gesprächig, ich zeige Martin meinen Zettel mit den Strichen, jeder Strich ein Abschluss. Einundzwanzig Striche. Martin nickt, aber nach oben, dann hält er den Kopf an und sieht wieder auf seinen Monitor. Noch zehn Minuten, ich überlege, ob ich Anne wieder anlächeln soll, dann generiert mir das Programm eine neue Adresse und ich habe eine Kinderstimme am Hörer. Gibst du mir bitte deine Mutti oder deinen Papi? Entschuldigen Sie mal, ich bin die Mutti! – Oh, entschuldigen Sie. Dann können wir beide lächeln und ich meinen letzten Strich für heute machen. Und, wie viele haste? Aber Martin antwortet nicht, sagt nur: Dann bis morgen. Auf dem Weg zum Fahrstuhl, der heute keiner ist, will ich Anne zulächeln, aber sie sitzt nicht auf ihrem Platz. Na gut, sage ich so daher und gehe die Treppen hinunter, wie man auf dem Marktplatz herumspaziert, weil heute wieder ein Kopf in der Guillotine liegt.
Der Weg zur Arbeit ist mir immer rätselhaft geblieben. Zwar kenne ich den Weg, ich könnte ihn blind laufen, aber das eigentliche Rätsel ist das Gehen. Ich habe kein Gefühl für die richtige Gehgeschwindigkeit, ich gehe jeden Tag anders. Wenn ich die Zeit dabei messe, ziehe ich unverhältnismäßig an, als stünde ich in Wettbewerb zu meinem gestrigen Ich. Dann brauche ich etwa zwanzig Minuten. Also plane ich diese auch für den nächsten Tag ein, aber dann messe ich die Zeit nicht, laufe gemächlich in meinem Museum umher und brauche fünfundzwanzig. Eine intuitive Kontrolle habe ich nicht. Einmal in der Woche messe ich die Zeit, heute ist ein anderes Mal und ich sitze in der Minute nach Arbeitsbeginn an meinem Platz.
Martin scheint seine gestrige Distanziertheit vergessen zu haben, er lächelt mich bis zur ersten Pause regelmäßig an, und ich lächle zurück, als seien wir verhinderte Freunde. Je kürzer die Zeit zum Einrichten meines Arbeitsplatzes ist, desto unvermittelter beginnt das Telefonieren für mich. Es gibt keine Überlegungszeit, ich nehme die Arbeit schneller, das heißt oberflächlicher an, ich habe eine gute erste Stunde. In der zweiten läuft es plötzlich nicht mehr so, erst gibt es keinen Grund dafür, dann denke ich an Anne. Vielleicht habe ich zuerst an Anne gedacht, bevor es keinen Grund gab. Was soll das, denke ich, du willst gar nicht an sie denken. Was so nicht stimmt. Noch weniger als man weiß, was man denken muss, hat man eine Ahnung davon, was man denken will. Ist auch unerheblich, denke ich dann und sehe zu Martin, der huberiös ins Headset redet. Vielleicht muss er sich diese Freundlichkeit wirklich nicht antrainieren, denke ich. Als wir zum Fahrstuhl gehen, wage ich einen heimlichen Blick zu Annes Platz. Aber sie sitzt wieder nicht da, also tue ich, als würde ich aus dem großen Fenster auf die Dächer der Stadt sehen. Den Blick auf die großen Dinge, denke ich, hat man nur in den kleinen Situationen. Gleich will ich mich über den aphoristischen Charakter des Gedankens freuen, aber dann stehen wir schon vor dem Fahrstuhl und Martin erzählt mir von einer Frau, die er soeben am Telefon hatte. Die hat auf Richtig/Falsch-Fragen ständig nur ‚ja’ gesagt, sagt er. Aber war auch eine Ausländerin, fügt er an, während ich im Spiegel des Fahrstuhls meine Haare zurechtlege. Vor dem Grill will ich ihm eine meiner Zigaretten geben, die Sonne schläft hinter einem grauen Putzlumpen von Himmel, es ist mehr ein Bedürfnis als Freundlichkeit. Nee, lass mal, sagt er, schon gut.