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Alptraum
Ich sitze vor dem Fernseher und balle die Fäuste.
"Am Nachmittag ist das eingetreten, wovor sich Deutschland gefürchtet hat. In Berlin explodierten mehrere Bomben in der U-und S- Bahn.", verkündet die Nachrichtensprecherin und ich habe den Eindruck, dass ihre Stimme zittert.
Bilder erscheinen auf dem Bildschirm. Menschen rennen umher, der Alexanderplatz ist ein Meer aus Krankenwagen. Verletzte werden in die Wagen gehoben und Toten das Gesicht bedeckt. Die Kameras heben Zivilisten in den Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, deren Wangen vor Tränen schimmern und Augen Verzweiflung ausdrücken. Die Sprecherin gibt eine Nummer an, die unten am Bildschirm erscheint. Es ist die Telefonnummer für die Angehörigen, die wissen möchten, was mit ihren Bekannten in Berlin geschehen ist. Ich greife zum Telefonhörer; meine Schwester ist in Berlin. Eine Tote wird im Fernsehen abgedeckt. Kurz kann der Zuschauer in ihr lebloses Gesicht blicken und mir friert das Blut in den Adern. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und ich lasse das Telefon fallen. Minutenlang starre ich auf den flimmernden Bildschirm ohne etwas wahrzunehmen. Oder waren es nur Sekunden?
Schweißgebadet erwache ich aus meinem Traum. Ich gehe ins Bad und das kalte Wasser fühlt sich an wie Himmel auf Erden auf meinem erhitzten Gesicht. Im Spiegel blicken mich zwei Augen aus dunklen Höhlen an und meine Haare sind zerzaust.
Es fällt schwer, wieder einzuschlafen, zu groß ist das Bedürfnis, diejenigen anzurufen, die mir lieb sind. Irgendwann übermahnt mich die übermächtige Müdigkeit.
"Sie wissen, was Ihnen droht, oder?", fragt mich der Polizist und seine dunklen Augen funkeln. Ich nicke benommen.
"Sie haben eine Straftat begangen und die Strafe wird nicht milde sein."
"Ich musste es tun", presse ich hervor.
Die Zelle ist dunkel und klein. Ein winziges oberes Gitterfenster spendet ein wenig Licht. Nicht viel, aber gerade genug, dass der Mond etwas von seinen Strahlen mit der Zelle teilt. Die Liege ist hart und unbequem. Ich lehne mich gegen die Wand, ruhe den Kopf erschöpft dagegen. Die Kühle der Mauer strömt durch mich hindurch und vertreibt die Kopfschmerzen etwas. Meine Augen fallen zu, dankbar, etwas Frieden zu finden, aber ich sträube mich einzuschlafen. Zu sehr fürchte ich die dunklen Schatten der Nacht, die die Vergangenheit heraufbeschwören. Sie in finsteren Farben an die Wand der Gefängniszelle malen und die Erinnerungen in das Herz zu brennen. Ein Brandmal, das auf Ewigkeit meins sein wird. Ein Teil von mir, wie der Alptraum, der keiner ist.
William klappte das Buch zu. Es hatte ihn berührt und er merkte sogar, wie sein Puls etwas schneller schlug.
"Will, ich habe dich etwas gefragt." Seine Frau schüttelte ihn leicht. Der dunkelhaarige Mann schrak hoch.
"Ich habe nicht gehört, entschuldige. Liz, setz dich einen Augenblick, ja?"
Die junge Frau sah ihren Mann forschend an. Ihr sonst so lebensfroher Mann blickte finster drein und seine Stirn war in tiefe Falten gelegt.
"Würdest du etwas Furchtbares tun, um Gerechtigkeit zu erzwingen?", fragte William unvermittelt und Liz schaute ärgerlich drein.
"Sei nicht albern, Will. Ich habe anderes zu tun. Die Kinder müssen abgeholt werden. Beschäftige dich nicht länger mit diesem Leonard Teer. Was er erlebt hat ist furchtbar, ja, aber das gibt ihm nicht das Recht, ein Verbrechen zu begehen."
Liz erhob sich verärgert. Sie hatte genug von der geistigen Abwesenheit ihres Mannes. Seit er dieses Buch las, war er völlig von Sinnen. Es war von einem Verbrecher geschrieben worden, als er im Gefängnis saß. Er hatte vor dreißig Jahren seine Schwester gerächt, die bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen war. Leonard Teer hatte darauf hin einen Hetzprediger aus Hamburg getötet, der sich für die Anschläge in Berlin ausgesprochen hatte.
"Liz, ich werde diesen Mann besuchen. Im Gefängnis. Ich werde ihn interviewen und wenn mir das gelingt, wird es die Schlagzeile des Monats werden."
Während er in das skeptische Gesicht seiner Frau sah, schlug das Journalistenherz in ihm; flammte die Leidenschaft in ihm auf. William wusste, dass Leonard Teer keine Interviews gab, aber er würde eines bekommen.
Und er bekam es. Monatelang hatte der erfolgreiche Journalist seine Kontakte spielen lassen, für seine Idee gekämpft und seitenlange Briefe an Leonard Teer geschickt. Im Dezember bekam er die Zusage. Er wirbelte seine Frau in der Küche und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Er war glücklich über diese einmalige Chance.
Auf dem Weg ins Gefängnis war William aufgeregt. Er war jetzt zehn Jahre im Geschäft, hatte Lob für seine Arbeit bekommen, aber der entscheidene Artikel fehlte ihm noch. Die große Story, die ihm half, für noch größere Zeitungen zu arbeiten und anerkannter zu werden.
Das Gefägnis war alt, die Mauern dunkel und der Hof klein. Er wurde durch das Haus in den Besucherraum geführt. Links und rechts neben ihm und sprachen Bekannte mit den Insassen durch Telefone, da sie durch eine Glasscheibe getrennt waren.
Als Leonard Teer hereingeführt wurde, war William enttäuscht. Er hatte einen starken Mann erwartet, mit der Ausstrahlung eines Menschen, der über einen ungebrochenen Willen verfügt. Stattdessen nahm ein etwas klein geratener, schmächtiger Mann vor ihm Platz, aus dessen Gesicht jede Freude und Kraft gewichen war.
"Hallo, vielen Dank für das Interview, Herr Teer. Wollen wir also beginnen ja?", meinte William durch das Telefon und er spürte, wie sein Herz pochte.
Leonard Teer nickte und sah William dabei in die Augen.
"Das alles trug sich ja vor dreißig Jahren zu. Ich selbst habe keine Erinnerung, war ja erst fünf", William grinste, aber sein Gegenüber zeigte keine Regung. Irritiert fuhr Will fort.
"Welche Erinnerungen haben sie an diesen Tag, an dem ihre Schwester starb?"
"Es war schrecklich, ich trauere noch heute", Leonard sah ihn unverwandt an und keine Gefühlsregung trat in sein Gesicht. William wollte zu seiner nächsten Frage ansetzen, doch Leonard unterbrach ihn.
"Warum sind sie hier, William?"
Sein durchdringender Blick irritierte den Jüngeren.
"Nun, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen."
Leonard lachte und Will zuckte zusammen.
"Fragen wozu? Über meine Schwester? Nein, sie wollen etwas über die Tat wissen, nicht wahr?"
Will stellte fest, dass Leonards Augen glasig und kalt waren.
"Ja, ich habe ihn getötet. Den Mörder meiner Schwester. Das hat er mir versichert, in der Stunde seines Todes."
Will konnte es nicht verhindern, aber ein Schauer lief ihm über den Rücken.
"Den Krieg den wir führen, William, ist der gegen den Terrorismus", fuhr Leonard fort.
"Ja, aber gibt Ihnen das das Recht - ",warf Will ein, doch Leonard brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
"Nichts gibt einem Menschen das Recht einen anderen zu töten. Die Moral ist ein unantastbarer Vertrag. Aber die Gefühle sind es nicht."
Für einen Moment sahen die Männer sich an. Der alte sah auf den jungen herab.
"Bereuen Sie?", fragte William. Leonard schnaubte.
"Was für eine Frage. Seit dreißig Jahren frage ich mich nichts anderes. Bereust du? Würdest du es wieder tun? Meinen Sie wirklich, ich finde in ein paar Minuten, die auf Band aufgezeichnet sind, eine Antwort darauf?"
Bevor William etwas sagen konnte, erhob Leonard sich. Wortlos verschwand er in das Innere des Gebäudes. In die Irrwege der Zellen und Gitter.
Benommen kehrte William an die Luft zurück. Er hatte auf die große Story gehofft und war auf einen Mann gestoßen, der ihm das zu Nichte machen wollte.
Will hatte keinen Verbrecher vorgefunden, voller Ideale und Hass, sondern einen nachdenklichen, doch auf die Dauer kalt gewordenen Einzeltäter. Dessen Rage ihn in eine Situation gebracht hatte, aus der er kein Entrinnen sah. Will schaute auf sein Aufnahmegerät. Keine fünf Minuten hatte das Gespräch gedauert. Niemals würde er daraus einen Artikel schreiben können.
Doch seltsamerweise war seine Leidenschaft verflogen. Beinahe gleichgültig sah er der Wut seines Chefs entgegen, immer das Gesicht Leonards vor Augen.
William war eine Begegnung wiederfahren, die er nicht vergessen würde. Einer Begegnung von Moral und Gefühl, unklar, wer der Sieger war.Ich sitze vor dem Fernseher und balle die Fäuste.