Als der Himmel wolkenlos war
Guten Tag, ich heiße Shouta Sasaki. Vier Tage vor meinem dreizehnten Geburtstag bin ich gestorben.
Ich weiß nicht, ob dies ein guter Anfang ist für eine Geschichte. Herr Okamoto hat immer gesagt, ich rede zu viel unsinniges Zeug und meine Aufsätze hat er nie besonders gut bewertet. „Fasse dich das nächste Mal kürzer!“, hat er immer unter meine Arbeit geschrieben oder „konzentriere dich auf das Wesentliche!“. Ich glaube, ich bin ein bisschen dumm, weil ich oft nicht weiß, was wichtig ist und was nicht. „Shouta! Denk doch erst einmal nach bevor du anfängst zu reden!“, höre ich meine Mutter schimpfen. Sie schimpfte viel, seit mein Vater in den Krieg gezogen ist. Ich glaube, er ist noch vor uns gestorben. Er liebte Brötchen mit süßem Bohnenmus.
Es war genau 8 Uhr und 30 Sekunden und ich hatte noch 15 Minuten zu leben. Natürlich wusste ich das in dem Moment nicht. Ich freute mich lediglich über den schönen Zufall, dass der Sekunden- und der Minutenzeiger der Taschenuhr für eine Sekunde genau eine Senkrechte bildeten, als ich sie aufklappte. Die Uhr gehörten meinem Vater und er hat sie mir am Tag seiner Abreise in die Hand gedrückt. Das war drei Jahre her.
Eigentlich müsste ich um die Uhrzeit in der Schule sein, aber stattdessen stand ich an der Bucht und blickte auf das Meer. Ich mochte die ruhige Bewegung des Wassers bei gutem Wetter und das Geräusch leise vor sich hin plätschernder Wellen. Bei Sturm oder starkem Wind mied ich das Wasser. Aber der Himmel war wolken- und flugzeuglos, so dass ich nichts zu befürchten hatte. Zwar wurde vor einer Stunde der Alarm ausgerufen, aber bevor wir uns auf dem Weg zum Luftschutzbunker machen konnten, wurde schon wieder Entwarnung gegeben. Also hatte ich an jenem Tag schulfrei und bunkerfrei.
Meine Blicke schweiften in die Ferne und meine Gedanken kreisten um das Meer. Wie gerne würde ich jetzt hinein springen und das kühle Wasser auf meiner Haut spüren. Aber seit die riesigen Kriegsschiffe hier aufgetaucht sind, war das Meer für uns gesperrt. Mit ihnen kamen auch die Soldaten und die Flugzeuge. Es wäre schön, wenn sie an meinem Geburtstag nicht mehr da wären.
„Was wünschst du dir zum Geburtstag, Shouta?“, hat mich meine Mutter beim Frühstück gefragt.
Ich habe ohne zu zögern geantwortet: „Dass der Krieg aufhört.“
„Sei nicht albern!“, war ihre Reaktion auf meinen durchaus ernst gemeinten Wunsch gewesen.
„Dass die Flugzeuge nicht mehr wieder kommen“, versuchte ich es erneut.
„So etwas kann man sich nicht wünschen.“
„Dass Papa wieder zurückkehrt“
Daraufhin hat sie geweint.
Plötzlich vernahm ich ein leises Dröhnen in der Ferne, als würde ein Gewitter heraufziehen. Aber über mir war immer noch keine einzige Wolke zu sehen, also konnte es nur ein Flugzeug sein. Oder mehrere.
„Egal wo ihr seid, wenn ihr mehrere Flugzeuge am Himmel seht, dann lauft sofort zum Bunker!“, hatte man uns eingeschärft, „das ist sehr sehr wichtig.“
Diesen Satz habe ich verinnerlicht und wiederholte ihn jetzt in Gedanken. Ich war stets froh, wenn mir jemand die schwierige Aufgabe abnahm zu entscheiden, ob etwas wichtig ist oder nicht.
Ich kniff die Augen zusammen und starrte einen Punkt in der Ferne an, von wo das Motorengeräusch zu kommen schien. Das leuchtende Blau des Himmels blendete meine Augen, aber ich blinzelte nicht. Der Himmel sah aus wie ein umgedrehtes Meer, dachte ich, oder vielleicht sah auch das Meer aus wie ein umgedrehter Himmel; ich wusste nicht welcher Vergleich passender ist. Ein schwarzer Punkt tauchte am Horizont auf. Er wurde größer bis er deutlich die Konturen eines Flugzeugs annahm. Weitere schwarze Punkte blieben aus. Mehrere Flugzeuge waren wichtig und bedeuteten Bunker, ein Flugzeug war in Ordnung, ein Flugzeug bedeutete Entwarnung. Ich entspannte mich und betrachtete noch eine Weile den Schweif am Himmel, die die Maschine hinter sich herzog. Ein heller Blitz erhellte den Himmel.
Im nächsten Moment war ich tot.
Später lernte ich, dass diese Maschine ein amerikanischer Bomber des Typs B-29 war mit dem Namen Enola Gay, ich lernte, dass sie bei ihrem Start eine Bombe an Bord trug, die die Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT besaß und ich lernte, dass ich nicht der Einzige bin, der die Wichtigkeit gewisser Dinge verkannte.
Guten Tag, ich heiße Shouta Sasaki. Vier Tage vor meinem dreizehnten Geburtstag, am 6. August 1945, bin ich zusammen mit 150.000 Menschen gestorben. Ich mag das Geräusch des Meeres bei gutem Wetter und wünsche mir zum Geburtstag, dass ich wieder in der Bucht von Hiroshima schwimmen kann.
Ich kicherte innerlich, weil ich Herr Okamoto sagen hörte: „Fass dich das nächste Mal kürzer und konzentriere dich auf das Wesentliche!“ Dann die Stimme meiner Mutter: „Sei nicht albern, so etwas kann man sich nicht wünschen.“