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Als Herr Kawitz einmal den kurzen Hauch des Lebens spürte
6 Uhr 27 Uhr, der Wecker von Herrn Kawitz klingelte. Nun hatte er drei Minuten, um munter zu werden. Dann würde er zwölf Minuten im Bad verbringen, sieben Minuten für die Auswahl seiner Kleider benötigen und sich die restlichen 21 Minuten ein bescheidenes Frühstück und den Blick in die Morgenzeitung gönnen.
Vor dem Verlassen seiner Wohnung rückte er seine Krawatte im Spiegel des Vorsaals zurecht, kämmte sich nochmals über die Haare und ließ einen wohlwollenden Blick über seine Erscheinung streifen. Um 7 Uhr verließ er seine Wohnung und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn, um seiner rechtmäßigen Arbeit nachzugehen.
Die Wochenenden verliefen ebenso nach Plan. Herr Kawitz wußte immer, was er zu tun hatte. Er würde nie einen Tag verschlafen. Er besuchte seine Mutter, er mähte den Rasen für Frau Meyer im Haus neben ihm und er holte sich ein Stück Erdbeer-Sahne-Torte für den Sonntagskaffee aus der Konditorei nebenan.
Nichts würde sein Leben so schnell aus der Fassung bringen können.
Herr Kawitz mochte es.
Es war schon immer so gewesen.
Bis zu diesem Montag im Mai.
Herr Kawitz bestieg nicht wie üblich nach getaner Arbeit die Straßenbahn, um zu seiner Wohnung zu fahren, um beim Supermarkt noch Brot und Käse zu kaufen und um danach bei den Sportnachrichten zu entspannen.
An diesem Montag ging er die lange bunte Einkaufsstraße entlang; er suchte ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter am Sonntag. Sie hatte einen für ihn eher ungewöhnlichen Geschmack und er war nicht sicher, ob er etwas passendes finden würde.
Es regnete ohne Unterbrechung schon den ganzen Tag.
Bis jetzt.
Mit jedem Schritt, den Herr Kawitz die Einkaufsstraße entlang ging, wurde es heller um ihn. Bis er es bemerkte, war es schon fast zu spät. Die Wolken brachen auf und die Sonnenstrahlen lugten erst sanft und dann immer stärker hervor. Herr Kawitz mußte die Augen schließen, der schon tiefe Stand der Sonne blendete ihn. Als er sie langsam wieder öffnete, um sich an die Umgebung zu gewöhnen, sah er sie.
Ein Engel, ein Zauberwesen - zu schön, um wahr zu sein.
An diesem Abend kam Herr Kawitz spät nach Hause. Ihm war es egal, dass seine Sachen nicht ordentlich über dem Stuhl lagen, als er sie auszog, es war auch egal, daß seine Wohnung nun den Geruch der Bierkneipe annahm, in der er mit Sarah gesessen hatte.
Sarah- so wohlklingend, so überirdisch schön.
Das weiche lange Haar, die warmen Augen, ihre Grübchen um die Mundwinkel.
Und der sanfte Kuss zum Abschied.
Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dieser Frau - ihr Duft, ihre Haltung, der graziöse Gang - einfach nur Sarah!
Von nun an blieb für´s Frühstück nicht viel Zeit. Herrn Kawitz sah man mit zerzausten Haaren und schiefsitzender Krawatte häufig viel zu spät zur Arbeit hasten. Der Wecker stand am Wochenende nutzlos in der Ecke, der Rasen von Frau Meyer wuchs bedenklich hoch und dann dieses neue süsse Parfum im Treppenhaus.
Die Besuche bei seiner Mutter fielen kürzer aus, manchmal kam er gar nicht oder überfiel sie zu unmöglichsten Zeiten. Oft vergaß er sogar die Blumen oder Pralinen, saß mit geröteten Wangen unruhig auf ihrer Couch, schien fast abwesend, um sich danach leidenschaftlich auf sein Fahrrad zu schwingen und pfeifend davon zu fahren.
Seine Mutter sah ihm am Fenster hinterher und rang sich ein Lächeln ab.
6 Uhr 27, wie vor einem Jahr klingelt der Wecker. Herr Kawitz hat drei Minuten, um aufzuwachen. Er lauscht auf das gleichmässige Atmen neben sich. Zwölf Minuten für´s Bad, sieben Minuten für die Kleider, 21 Minuten für´s Frühstück. Anschließend rückt sie ihm die Krawatte zurecht und fährt ihm durch die Haare. 7 Uhr, ein kurzer Kuss, die Arbeit ruft.
Frau Meyers Rasen sieht gepflegt aus, am Sonntag gibt es zwei Mal Erdbeer-Sahne-Torte. Auch die Besuche bei seiner Mutter erledigt Herr Kawitz regelmäßig.
Herr Kawitz mag sein Leben.
Es war doch schon immer so...
Und seine Mutter steht am Fenster, schaut ihm hinterher und schliesst kopfschüttelnd die Augen.