Alternative: Bus
Als die U-Bahn kommt, bin ich erleichtert.
Endlich muss ich nicht mehr herumstehen auf diesem öden, leeren U-Bahnsteig. Wie bestellt und nicht abgeholt.
Die Bremsen quietschen und die Bahn bleibt stehen.
Ich drücke eine Tür auf und trete über die Zehn-Zentimeter-Schlucht zwischen Bahnsteig und Bahn. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme, doch ich kann nicht verstehen, was gesagt wird. Die Türen schließen sich und während die U-Bahn losfährt, blicke ich mich um. Ungefähr sechs Leute sitzen hier. Auf einen Waggon verteilt ist das nicht viel.
Es ist Nacht, denke ich und lasse mich auf einen freien Platz fallen. Aus meiner Tasche ziehe ich den uralten tragbaren CD-Player, den ich vor Jahren meinem Bruder für damals noch zehn Mark abgekauft habe. Das kleine ovale Sichtfenster in der Mitte fällt dauernd heraus und stoppt die CD, darum habe ich es mit Tesafilm festgeklebt, aber bei der kleinsten Erschütterung stockt das Ding. Außerdem braucht es ziemlich viel Batterie. Ironischerweise nennt sich die Herstellerfirma Perfekt.
Ich ziehe den Kopfhörer über meine Ohren und drücke die Skip-Taste bis das Display eine Fünf anzeigt. Dann drücke ich auf Play. Die vertrauten Töne des Bass beschallen meine Ohren und lassen den Schienenlärm leiser wirken. Eine Frauenstimme beginnt zu singen und ich unterdrücke den Zwang meine Lippen zu bewegen. In der U-Bahn würde das selten dämlich aussehen und ich will die Aufmerksamkeit der anderen Menschen nicht unnötigerweise auf mich lenken.
Die Bahn fährt in den nächsten Bahnhof ein und ich drehe das kleine Rädchen an der Seite meines Players zurück, um den Ton leiser zu stellen. Die Vorstellung, dass alle Passagiere das Schlagzeug auf meiner CD hören können, wenn der U-Bahn-Lärm verstummt, ist mir unangenehm.
Niemand aus meinem Waggon steigt aus. Es steigt auch niemand ein. Von uns aus betrachtet, war das ein sinnloser Halt.
Nach einer erneut unverständlichen Durchsage fährt die U-Bahn langsam in den Tunnel. Ich drehe das Lautstärke-Rad wieder weiter nach vorn und betrachte das Spiegelbild meines Gesichtes im Fenster. Als das Lied zu Ende ist, drücke ich die Repeat-Taste, um es noch mal zu hören. Es ist mein Lieblingslied auf der CD. Auch wenn es mich traurig macht.
Die nächste Haltestelle. Wieder drehe ich die Lautstärke zurück. Eine Frau steigt aus und ein Mann ein. Er stellt sich direkt neben die Tür. Wahrscheinlich muss er an der nächsten Haltestelle schon wieder aussteigen. Oder ihm ist einfach nach stehen. Vielleicht, weil er den ganzen Abend schon gesessen ist. Möglicherweise bei einem Essen mit Freunden, die ihn nach Dingen fragten, die er nicht beantworten konnte. Oder wollte.
Ich stelle die Musik lauter und schließe die Augen, um mich voll und ganz darauf zu konzentrieren. Auf jeden einzelnen Ton, auf jedes Wort, auf jede Zeile, die ich in- und auswendig kenne. Die Augen zu schließen ist fast so gut wie die Lippen zum Text zu bewegen. Außerdem ist es nicht so auffällig. Darum schließe ich lieber die Augen und beiße mir auf die Unterlippe.
Es ist dunkel.
Hinter meinen Augenliedern.
Im U-Bahn-Tunnel.
An der Erdoberfläche.
Ich stelle mir vor oben wäre helllichter Tag. Vorstellbar ist das. In der U-Bahn ist es schließlich immer dunkel, da kann man nie wissen, welche Tageszeit oben ist. Trotzdem klappt es nicht so richtig. Immer wenn ich versuche mir die Sonne am hellblauen Himmel vorzustellen, wird es plötzlich rasend schnell dunkel.
Ich öffne die Augen und die U-Bahn hält im nächsten Bahnhof. Wieder drehe ich leiser. Der Mann an der Tür verlässt die Bahn, aber niemand steigt ein.
Das Lied endet, bevor die U-Bahn weiterfährt und ich drücke auf Stop. Es hat keinen Sinn das nächste Lied anzufangen oder dieses noch mal zu hören, weil ich im nächsten Bahnhof aussteigen muss. Bis ich mein Monstrum von CD-Player in der Tasche verstaut habe, kann sowieso noch eine Ewigkeit vergehen.
Die Bahn fährt los. In den Lärm hinein summe ich leise die Melodie meines Liedes. Nur ich selbst kann mich hören.
Ich stehe auf bevor die Bahn stoppt und stelle mich vor die Tür. Das Quietschen der Bremsen klingt vertraut. Einen Schritt über die Zehn-Zentimeter-Schlucht später stehe ich wieder auf einem Bahnsteig.
„Morgen nehme ich den Bus.“, denke ich und gehe zur Rolltreppe.