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Altes Pflaster
„Er wurde von Gott mit offenen Armen empfangen. Amen.“
Das Mikrofon knisterte, während der Pfarrer sprach. Seine Stimme vervielfachte sich in dem kahlen, dunklen Raum.
Schniefen. Räuspern. Raschelnde Taschentücher.
Alle Stühle waren belegt. Vor dem Gebäude stand eine große Traube.
„Mir fehlen die Worte“, sagte der Pfarrer. „Er war ein junger Mann voller Visionen und Träume und Hoffnungen.“
Kaum jemand hörte ihm zu.
Auch Dieter nicht. Aber er verpasste keinen Toten in diesem Dorf, das er seit Jahren verlassen wollte, aber nie den richtigen Grund dafür fand. Er mochte seine Nachbarn und Nachbarsnachbarn nicht.
Er traf sich mit ihnen regelmäßig im „alten Bären“. Man unterhielt sich über Renten, junge Frauen und Jagderfolge, trank Bier und zu besonderen Anlässen Korn.
Er ist hier alt geworden.
Und trotzdem wollte er hier weg.
Und trotzdem mochte er sie alle nicht.
Die Traube löste sich unförmig auf, wurde vom Sarg zerschnitten. Falsches Blut floss an den stumpfen Berührungspunkten. Die Totenbarre kam nur zäh auf dem alten Kopfsteinpflaster vorwärts. Vier Männer schoben die Leiche zum Grab, mit einer Hand die Führungsstange haltend, mit der anderen die hin und her rutschenden Kränze.
Auf einem anliegenden Grundstück, etwa zehn Grabsteine entfernt, lachte ein Kind, dass mit einer Wasserpistole einen Hund verfolgte.
Es war bereits Oktober, aber die Sonne presste Dieter reichlich Schweiß aus den Poren. Er streifte sich sein schwarzes Jackett ab und stellte sich etwas abseits unter einen Baum.
Im Schatten war es nicht kühler, aber seine Glatze entspannte sich etwas.
Als Kind ist er oft mit seinem Vater auf Jagd gegangen, half ihm beim Ausnehmen und Häuten.
Er war auch dabei als sein Vater sich den Kopf aushöhlte. „Ich werde nur den Kummer rausholen“, sagte er.
Und: „Tut mir leid, Kleiner.“
Damals stand er auch unter diesem Baum und hörte die selben Worte, nur der Pfarrer war ein anderer.
Ein dumpfes Grollen kroch aus seinen Ohren.
Den Angehörigen wurden die Hände geschüttelt, hin und wieder eine kurze Umarmung.
„Wer möchte, kann jetzt mit in den ‚alten Bären’. Dort stehen etwas Kaffee und Kuchen.“
Der Schwarm löste sich langsam auf. Die ersten Motoren wurden gestartet.
„Dieter“, rief jemand vom Grab aus. „Was liegst Du da unterm Baum herum? Los, wir wollen rüber!“ Ein dickbäuchiger alter Mann kam näher, lockerte seine Krawatte. Er beugte sich vorn über und betrachtete das Gesicht des Kahlköpfigen.
„Hey, kommt mal her! Ich glaube, der alte Dieter ist tot.“
Die Totenbarre kam nur zäh auf dem alten Kopfsteinpflaster vorwärts.
Der Kühlraum wurde wieder gefüllt.