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Am Anfang waren wir zwei
Ich nehme die Ausfahrt Wuppertal Oberbarmen und fädele mich in den einsetzenden Feierabendverkehr ein. Diese Strecke bin ich schon gefühlte tausendmal gefahren. Umso mehr ärgert es mich, dass ich an der Kreuzung mit der freien Tankstelle vergesse abzubiegen. Mein Herz fängt an zu rasen. Eine Panikattacke kündigt sich an.
Ich fahre rechts heran, steige aus, muss mich auf das Wesentliche konzentrieren. Langsam atmen. Es wird schlimmer.
Nicht jetzt. Nur nicht jetzt.
Dann ist es soweit. Mir wird schwarz vor Augen. Der Schwindel kommt und meine Beine fühlen sich taub an, während der ganze Körper zittert. Das Schlimme ist, dass man diese Sachen nicht beeinflussen kann. Wenn die Angst beschließt einen mit sich zu reißen, dann macht sie das. Das Unterbewusstsein vereinbart keine Termine.
Ich lasse mich auf den Bürgersteig sinken und bin froh, dass bei dem Regen kaum Fußgänger unterwegs sind. So kann ich einfach nur dasitzen und es über mich ergehen lassen. Das ist quasi meine Lebensmaxime ... es über sich ergehen lassen, die Dinge ausstehen. Irgendwann wird es schon von alleine besser.
Und wenn nicht, muss man halt akzeptieren, dass es gilt, sich mit dem Problem zu arrangieren, es Teil seines Lebens werden lassen.
Ein LKW hupt und ich schrecke auf. Dabei stelle ich überrascht fest, dass die Panik verschwunden ist. Vielleicht hat sie bemerkt, dass ich heute kein guter Spielpartner bin, mich ihr noch mehr hingebe als sonst.
Möglicherweise war sie aber auch nie da. Wenn man ständig Angst hat, lernt man irgendwann, sich nicht mehr vor ihr zu fürchten. Da kann man schon in Panik geraten, wenn kurz so etwas wie Kontrolle über die Angst aufblitzt.
Kontrolle
Auf dem Beifahrersitz liegt die Schachtel. Unzählige Male habe ich zu Hause überprüft, ob auch wirklich alles darin ist, ich nichts vergessen habe.
Man kann ein gesamtes Menschenleben einpacken. Es sind Stationen, und zu jeder Station gibt es einen Gegenstand, der an diese erinnert. Alles dazwischen ist tägliche Routine. Wer weiß schon ganz genau, was er letzte Woche Mittwoch im Büro getan hat. Dasselbe wie immer. Man macht ständig das selbe wie immer. Im Grunde braucht man sich nur einen einzigen, gewöhnlichen Tag seines Lebens zu merken, und kann den Leuten sagen, wer man im Groben ist.
Ein wenig interessanter und facettenreicher wird die Erzählung erst durch das erwähnen der Stationen, zu denen man auch immer etwas zeigen kann.
Schaut her, denn hier ist der Beweis: Dieses Photo zum Beispiel, oder der Gegenstand, der mit zur Geschichte gehört. Die lange Narbe auf meinem Unterarm. Hier ist der eindeutige Beweis, dass es diese Station in meinem Leben wirklich gab, und ich sie nicht bloß erfunden habe. Und wisst ihr, ich habe das alles nicht nur deshalb aufbewahrt, um es euch zu zeigen, nein, denn in gewisser Art und Weise zeigt es auch mir, dass es da noch etwas anderes gibt jenseits der Routine.
Habe ich erwähnt, dass es ausreicht, sich einen einzigen Tag seines Lebens zu merken, um die Routine auf trockenen Ufern zu haben? Aber für die Stationen, für die braucht man etwas Vorzeigbares, etwas echtes, und daher habe ich alle diese Dinge. Um mich lebendig zu machen, und jetzt gehe ich hin und verpacke meine Frau in einer Schachtel. Der größte Trick, den die Menschheit je gesehen hat. Ein vollständiges Leben in einer kleinen Schachtel. Alle Stationen. Das hoffe ich zumindest. Nicht, dass ich etwas vergessen habe, denn das wäre tragisch. Es wäre ein gestohlenes Stück Existenz, denn wenn ein See leer gefischt ist bleibt nur das Wasser.
Und ganz genauso soll es sein. Ich hinterlasse einen stillen, leeren See, dessen Wasser friedlich ruht.
Alles andere habe ich eingepackt.
Robert stand auf und stieg zurück in den Wagen.
Diesesmal dachte er daran, an der Kreuzung abzubiegen. Kurz streifte sein Blick das kleine Verkaufshäuschen, dass zu der freien Tankstelle gehörte.
Auch eine Station.
Als er den Park erreichte, sich auf die nasse Bank setzte, die Schachtel zwischen seinen Fingern umherwanderte, da schaltete alles in ihm auf Anfang.
Nur, dass es keine zweite Chance geben würde.
Er spürte die ersten Anzeichen. Vor vier Stunden hätte er seine Tabletten nehmen müssen. Allzulange durfte es nicht dauern.
Fest umschloss er den Gegenstand in seinen Händen und dachte: Am Ende bist du allein.