Am Bankerl unter der Linde
Beschenkt, ja beschenkt fühle ich mich. Nur wenige Minuten von meinem Wohnsitz entfernt darf ich eine Naturlandschaft begrüßen. Energiegeladene Plätze von jahreszeitunabhängiger Schönheit. Einen dieser Plätze möchte ich gerne vorstellen:
Langsam führt mich der Weg hinaus aus dem bebauten Ortsgebiet. Die Waldingerstraße entlang, von welcher ich in die Urtlstraße abbiege und der engen Straße bis zum Ende folge. Dort tausche ich den Asphalt gegen einen erdigen Waldweg. Das Herbstwetter hat den Weg morastig werden lassen und so sinke ich mit jedem Schritt tiefer in den Erdboden ein. Die Schuhe versinken schon fast im Schlamm. Doch ich setze meinen Weg unbeirrt fort. Heute dringt die Sonne durch die nackten Bäume die ihre Äste wie in einer Allee entlang des Waldweges in den Himmel recken. Ein herrlicher Mischwald mit Buchen, Birken, Linden und Ahorn säumen den Weg. Dahinter verstecken sich die Tannen und Fichten.
Heute senkt sich der Schatten der Zweige über den Weg und wirft schlangenähnliche Bilder. Abgefallene Blätter lösen sich im aufgeweichten Boden zu Kompost auf. An einem besonderen Baum mache ich Halt und betrachte ihn aufmerksam. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es nicht ein Baum ist, sondern drei. Drei Buchen, die ineinander verwachsen sind. Die Form des Baumes lässt viel Platz für freie Interpretationen. Alles kommt zum Vorschein, nur nicht das Wort Buche. Ich entdecke einen riesigen Gecko, der die Farbe der Baumrinde angenommen hat. Etwas an ihm wirkt befremdlich auf mich. Es ist sein ungewöhnlich langer Schwanz, der sich an den Stamm schmiegt. Regungslos presst er sich mit seinen Saugnäpfen an das Baumkonglomerat. Oberhalb des Geckos hat sich eine hölzerne Hängematte gespannt. Sie sieht sehr einladend aus und am liebsten würde ich mich hineinschmiegen. Die Verzweigungen der anderen Äste bieten Schlupflöcher für die Sonnenstrahlen, die sich im Herbst nicht dem undurchdringlichen Blattwerk gegenüber behaupten muss. Beinahe ungehindert kann sie die letzten wärmenden Strahlen durch das Geäst schicken.
Ich setze meinen Weg fort. Noch habe ich meinen Platz nicht erreicht, dafür das Ende des kleinen Waldes. Das offene Feld erlaubt mir einen Rundblick und auch einen ersten Augenkontakt mit meinem Platz. Dort wo noch vor wenigen Wochen hohe Maisfelder gestanden haben, finden sich nur mehr abgemähte Stumpen. Der fruchtbare Boden wurde winterfest gemacht, umgegraben und mit Abfällen aus dem Schweine- und Kuhstall besprüht. Dort wo noch vor kurzer Zeit Farbenpracht geherrscht hat, fällt ein mattes Braun ins Auge des Betrachters. Kleine Erdhäufchen von Wühlmäusen durchstoßen den frierenden Boden.
Weiter gehen. Auf das offene Feld. Kalter Wind bläst mir entgegen. Ich bin froh, dass ich eine Haube aufhabe. Nur noch wenige Meter bis zu meinem Platz. Die uralte Linde ragt schon in ihrer stattlichen Höhe vor mir auf. Sie ist mein Ziel. Zu ihr zieht es mich immer wieder hin. Eine abgedroschene Floskel fällt mir ein: „Im Sommer wirft sie Schatten und im Winter hält sie warm.“ Angesichts des mächtigen Werks der Natur erscheint mir dieser Spruch gar nicht so abwegig.
Vereiste Pfützen säumen den Weg. Wo der Boden aufgeweicht ist, sinke ich wieder tief ein und habe Mühe, meine Schuhe aus der Umklammerung zu lösen. Eine kleine Fichte hat sich als Nachbarin der großen, alten Linde zu Kindesgröße herangewachsen. Ich nähere mich weiter meinem Ziel bis ich unmittelbar davor stehe. Am dicken Stamm prangt ein mit Nagel eingeschlagenes Schild: „Naturdenkmal.“ Das Schutzschild vor den rauchenden und lärmenden Kettensägen. Nur der Zahn der Zeit oder von irgendwelchen unterirdischen Nagern kann die alte Dame fällen. Doch gegenwärtig sieht die alte Dame noch sehr rüstig aus.
Ich umarme den Stamm und begrüße sie. Dann nehme ich an der Bank neben ihr Platz und betrachte sie. Ich schätze ihre Höhe so an die 40 Meter. Daneben sehen die Nachbarinnen, die vorher erwähnte Fichte und ein Ahorn wie, ja, wie ihre Stiefkinder aus. Das Astwerk sieht ebenso imposant aus wie das mächtige Geweih eines Sechzehnenders. An einem sehr starken Ast haben dereinst Kinder ein Baumhaus gebastelt. Einige Bretter von damals krallen ihre Nägel in die Arme der Linde und suchen Schutz vor der Zersetzung.
Mein Blick verlässt die edle Linde und sucht nach einer neuen Perspektive. Ich lasse ihn über die Felder in Richtung meines Heimatortes schweifen. Die Äste der Linde senken sich wie Haare vor meine Augen und behindern die ungetrübte Aussicht. Am Waldrand stehen zwei Jagdstände und noch vor wenigen Wochen werden hier Kugeln oder Schrot durch die Luft gewirbelt und so manches unglückliches Tier tödlich getroffen haben. Einen dieser Jagdstände umflankt ein kleiner Weiher. Ob sich darin Fische befinden, weiß ich nicht. Zum Eisstockschießen ist der Weiher auch zu klein. Die Waldfläche dahinter besteht zu einem Großteil aus Nadelbäumen. Eine typische Mühlviertler Waldlandschaft. Dicht aneinander geschmiegte Nadelbäume. In großer Entfernung thront ein Bauernhof auf einem Hügel und blickt auf den Zwiebelturm meiner Heimatkirche herab. Ein ungewöhnliches Bild, wo doch zumeist die Kirche auf jemanden herabschaut. Ich atme tief die kalte Herbstluft ein. Einen Arm an die Linde gelehnt.