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Am Berg

Beitritt
19.06.2001
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2.198

Am Berg

Eine Schauergeschichte​

Zu einer Zeit, als die Fliegerei nur wenigen vorbehalten war und im allgemeinen als Wunder betrachtet wurde, da geschah es, dass ein gewisser Samuel Lundspack die große Metropole an der Ostküste verließ, um im Landesinneren noch einmal sein Glück zu versuchen. Nach einigen Abenteuern, die mal mehr, mal weniger glimpflich verliefen, für diese Geschichte jedoch gänzlich unbedeutend sind, fand er endlich seinen inneren Frieden, und zwar nahe einem kleinen Ort namens Doody Falls, einem aufblühenden Städtchen, bewohnt von Glücksspielern und Geschäftsleuten, Goldsuchern und Tagelöhnern, Frauen und Kindern, Männern und solchen, die es noch werden wollten, kurz, eine Menge unterschiedlichster Existenzen, an einem einzigen Ort vereint in glückseliger Vertrautheit. Niemand konnte ahnen, dass das beschauliche Doody Falls in nicht allzu ferner Zukunft einmal zu einem Vorhof der Hölle verkommen würde, doch auch dies ist eine andere Geschichte, zumal sie nichts mit Samuel Lundspack zu tun hat, von dem wir hier berichten wollen.

Es war nicht nur die Suche nach innerem Frieden, die Lundspack von der Ostküste wegzog, vielmehr verhielt es sich so, dass er imense Schulden bei verschiedenen Gläubigern angehäuft hatte, und nicht in der Lage war, diese unangenehmen Verbindlichkeiten wieder auszugleichen. So suchte er sein Glück in der überstürzten Flucht, und es war ihm nur recht, dass es ihn letztendlich hierher verschlug. Er baute sich ein kleines Haus, ein paar Kilometer abseits der Stadt, nicht weit eines großen Berges, der keinen Namen hatte, weil niemand es für notwendig hielt, dem Berg einen Namen zu geben. Lundspack verkaufte ab und an einige Pelze von Tieren, die er selbst geschossen hatte. Auch hielt er sich mit dem Anbau und Verkauf von bewusstseinsfördernden Kräutern gut über Wasser. Er suchte nicht den Kontakt zu anderen, lebte aber auch nicht völlig einsam, so dass man ihn fälschlicherweise für einen verschrobenen Einsiedler hätte halten können. Die Jahre vergingen, die Moderne hielt sich beharrlich an den Küsten. Samuel Lundspack lebte ein ruhiges und glückliches Leben, und als er eines Tages plötzlich verschwand, da war er noch einige Wochen ein großes Gesprächsthema unter den Leuten von Doody Falls. Doch schnell geriet er in Vergessenheit, auch sein Haus fiel bald zusammen, und was noch übrig war, das verschluckte der Wald.

***​

Der Tag, als Samuel Lundspack vom Antlitz der Erde verschwand, begann wie so viele Tage zuvor auch. Noch bevor die Sonne hinter dem Berg erschien, um die Landschaft aus der Dunkelheit zu befreien, erwachte Lundspack. Wie immer ging er als erstes zum Pinkeln nach draußen. Und während er leicht verschlafen dastand und sich erleichterte, da hörte er ein Geräusch, wie er es zuvor noch nie vernommen hatte. Zuerst glaubte er, dass es das Schnaufen eines Bären war, oder vielleicht das schwache Winseln eines Wolfes, aber so sehr sich Lundspack auch anstrengte, er konnte das Geräusch nicht entschlüsseln. Grübelnd stapfte er zurück ins Haus, kochte sich einen großen Pott starken Kaffee und rauchte aus leichtem Frust drei Zigaretten hintereinander. Schon bald war das merkwürdige Geräusch nur noch eine schwache Erinnerung, denn es gab wichtigeres. Es galt, die Fallen im Wald zu überprüfen. Zwar war es leichter, das Wild mit gezielten Schüssen zu erlegen, aber meistens gab es dann hässliche Löcher im Fell, was wiederum eine niedrigere Verkaufserlöse mit sich brachte. Besser war es, die Tiere verendeten in den Fallen. Blutige und gebrochene Pfoten konnte man abschneiden, sie waren für das Endprodukt auch nicht notwendig. Lundspack aß noch etwas Zwieback, trank den Kaffee aus, zog sich an und machte sich auf den Weg, nicht vorher sein Gewehr überprüft zu haben. Nichts war schlimmer, als in die funkelnden Augen eines hungrigen Wolfes zu blicken, und festzustellen, eine ungeladene Waffe in den Händen zu halten. Diese einmalige Erfahrung hatte Lundspack eine hässliche Narbe an der linken Wade eingebracht, und manchmal schmerzte es in der Nacht so sehr, dass er schreiend aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte.

In der großen Ostküstenmetropole, deren Namen, so hatte er geschworen, er nie wieder erwähnen würde, da war sein Leben hektisch verlaufen, rast- und ruhelos, stets von einem Tag zum anderen lebend, oder besser, überlebend. Hier, abseits jeglicher Unruhe, genoss er die wenigen Jahre, die er noch hoffte zu haben. Durch die Wälder zu streifen, die Stille genießend, genau das war es, was er sich immer gewünscht hatte. Seine Eltern waren nicht imstande gewesen, ihm das zu geben, und auch die zahlreichen Waisenhäuser, die er in seiner Kindheit über sich ergehen lassen musste, vermochten es nicht, ihm Freude am Leben zu vermitteln. Von daher war der Weg ins Verbrechen geebnet, und eine Zeit lang war Samuel Lundspack tatsächlich ein Mensch, der es genoss, anderen Menschen Leid anzutun, ob physisch oder materiell. Aber hier in den Wäldern, da erst war er der Samuel Lundspack, der er immer sein wollte. Er ertrank beinahe in dieser Zufriedenheit, und manchmal wichste er gegen einen Baum, oder rieb sich mit Tierblut ein, aber das waren Dinge, die einfach dazugehörten, und außerdem bekam es niemand mit, denn wenn er sich auf den Weg nach Doody Falls machte, dann bemühte er sich stets, einen normalen Eindruck zu hinterlassen.

Lundspack erreichte den kleinen Bach, dessen Quelle irgendwo oben am Berg sein musste. Die Sonne befand sich nun direkt über dem Berg, was etwas göttliches an sich hatte. Es sah wunderschön aus, und Lundspack war sicher, dass viele Menschen aus den Großstädten des Landes viel Geld bezahlt hätten, nur um so etwas zu sehen. Er holte eine Handvoll getrocknete Kräuter aus seiner Jackentasche und feuchtete sie an. Dann steckte er sich den klebrigen Klumpen in den Mund und begann zu kauen. Nach einer Weile fiel ihm das Atmen leichter und, das hatte ihm schon viele bestätigt, die seine pflanzlichen Produkte konsumierten, seine Ohren wurden empfänglicher. Das war auch gut so, denn damals gab es noch wirklich gefährliche Tiere in den Wäldern. Und diese Tiere hatten keinerlei Scheu, einen Menschen anzufallen. Lundspack machte seine Hand nass und fuhr sich durchs Haar. Als er aufstehen wollte, hörte er es erneut. Er blieb in der Hocke, schloss die Augen und konzentrierte sich. Kein Zweifel, es war das selbe Geräusch, was er beim Pinkeln gehört hatte. "Was bist du?", flüsterte Lundspack und richtete sich auf. Wenn es sich um ein Tier handelte, dann war es ein Tier, was er bis jetzt noch nicht kannte. "Aber es klingt nicht wie ein gottverdammtes Tier..." Es klang, als ob kleine Kinder leise weinten, als ob alte Frauen traurig seufzten. Kurz entschlossen sprang er über den Bach und lief in die Richtung, aus der er glaubte, das Geräusch gehört zu haben. 'Hier hast du keine Fallen', dachte er. 'Hier bist du noch nie gewesen', stellte er mit leichtem Unbehagen fest. In diesem Abschnitt des Waldes standen die mächtigen Bäume besonders dicht beieinander, hatten es die Sonnenstrahlen es schwer, den Boden zu erreichen. Vermutlich aus reinem Instinkt hatte es Lundspack bisher vermieden, sich hierher zu begeben.

Vernünftigerweise sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass Samuel Lundspack kein Feigling war, und die Flucht nur dann antrat, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Vielleicht war es der starke Kaffee, vielleicht das zerkaute Kraut in seinen Zahnritzen, was ihn veranlaßte weiterzugehen, selbst dann, als plötzlich wie aus dem Nichts der größte Bär, den er je gesehen hatte, aus dem Unterholz hervorpreschte und direkt auf ihn zurannte. Einen Bären in voller Fahrt konnte nichts und niemand aufhalten, höchstens ein gezielter Schuss mit dem Gewehr. Doch das Gewehr lag auf der anderen Seite des Baches. Er hatte es abgelegt, um die Kräuter anzufeuchten. Und so tat Lundspack das einzige, was er in dieser Situation tun konnte. Er warf sich auf den Boden, rollte sich zusammen und versuchte, die Teile seines Körpers zu beschützen, die er als überlebensnotwendig empfand. Zu seinem Erstaunen zeigte der Bär jedoch kein Interesse an ihm und rannte brüllend und schnaufend an ihm vorbei, bis er wieder verschwunden war. Verwundert und auch übermaßen erleichtert richtete sich Lundspack auf. "Was um alles in der Welt..." Der Bär hatte Angst gehabt und war davon gelaufen. Was war in der Lage, einen so großen Bären in die Flucht zu schlagen? Oder so zu ängstigen, dass dieses Monstrum von einem Raubtier wie ein reudiger Hund den Rückzug bevorzugte? Vielleicht war es auch die menschliche Neugier, die ihn selbst jetzt geradezu zwang, zu ergründen, warum der Bär solch eine Furcht gehabt hatte, dass dieses mächtige Raubtier einen Menschen einfach so links liegen ließ. Lundspack sah zu den Bäumen. Und wieder hörte er dieses Durcheinander von Weinen und Seufzen, diesen beinahe hypnotischen Sirenengesang, der ihn lockte, der aus einer anderen Welt zu kommen schien. "Ich muß verrückt sein, das zu tun", murmelte er. Und doch tat er es. Samuel Lundspack holte sein Gewehr, versicherte sich, das es geladen war und ging dann langsam auf die mächtigen Bäume zu. Ein letzter Blick nach oben zeigte, dass die Sonne nun rechts vom Berg stand. Hinter diesen Bäumen, so stellte er fest, lag der Berg. All die Jahre in Doody Falls, und erst jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich dem namenlosen Berg zu nähern. 'Schon seltsam', dachte Lundspack. Dennoch ging er weiter, und als er den ersten Baum erreicht hatte, blieb er kurz stehen, um diesen zu berühren. Kaum, dass seine Fingerspitzen über die brüchige Rinde glitten, durchzog ein unangenehmes Kribbeln seine Hand bis zur Schulter, sein ganzer Arm wurde taub, und es dauerte gut eine Minute, bis die Taubheit wieder abgeklungen war. Lundspacks Ohren vernahmen wieder das Geräusch. Schließlich ging er in den Wald hinein.

Kaum, dass er die ersten Baumreihen und Büsche hinter sich gelassen hatte, verstummte das Geräusch. Lundspack hörte nur noch seinen Atem, und sein pochendes Herz, das wild und unregelmäßig schlug. Schritt für Schritt schlich er weiter, ignorierte tapfer stachelige Äste, wässriges Moos und Schwärme von Mücken, die ihn stechen und aussaugen wollten. Bald hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Der Wald veränderte sich zusehends. Bäume, deren Arten ihm ebenso fremd waren, wie die merkwürdigen Würmer, die sich am Boden schlängelten. In der ihm verhassten Metropole an der Ostküste hatte er vor vielen Jahren einmal eine reichlich bebilderte Zeitung in den Händen gehabt. Dort war die Rede von einem gewissen Angus MacFidden gewesen, ein steinreicher Forscher, dessen hauptsächliches Interesse den Regenwäldern Südamerikas galt. In dieser besagten Zeitung hatte gestanden, dass es Bäume gab, die bis zum Himmel wuchsen und älter als die Menschheit waren. Es hieß, in den Nischen und Ritzen lebten Spinnen, so groß wie ein Pferd, und es gab laut brummende, fleischfressende Moskitos, die mit gezielten Stichen ihre Opfer lähmten und danach bei lebendigem Leibe auffraßen. So sehr Lundspack damals über dieses Hirngespinst eines Schreiberlings gelacht hatte, jetzt mußte er feststellen, dass die Beschreibungen von MacFidden offenbar nicht gänzlich gelogen waren... Die Spinne, die gut zehn Schritte von ihm entfernt aus einem Erdloch gekrabbelt kam, erreichte zwar nicht annähernd die Größe eines Pferdes, allerdings hatte sie immer noch die Ausmaße eines kleinen Hundes, mehr als ausreichend, um Lundspack allmählich in Panik zu versetzen. Langsam ging er einen Schritt zurück. Die Spinne, die ihn die ganze Zeit zu beobachten schien, bewegte sich ebenfalls. Sie machte einen großen Sprung, und hatte so von einem Moment zum nächsten die Distanz zu Lundspack um beinahe die Hälfte verkürzt. 'Mein Gott', dachte Lundspack, 'noch ein Sprung, und das Höllenvieh klebt mir im Gesicht!' Endlich fiel ihm ein, dass er nicht völlig wehrlos den Launen der teuflischen Natur ausgesetzt war. Er richtete sein Gewehr auf die Spinne, spannte den Hahn und drückte ab. Der Knall hallte wie Donner durch den Wald. Vögel stoben laut aus den Baumgipfeln und aus weiter Ferne ertönten Heulgesänge von Wölfen. Erschrocken betrachtete Lundspack sein Gewehr und ließ es fallen. Dann sah er zu der Stelle, wo die tote Spinne lag, oder vielmehr, wo eigentlich eine tote Spinne liegen sollte, zumindest zuckende Reste. Stattdessen krabbelten nun hunderte von Spinnen auf ihn zu, die sehr viel kleiner waren als die, auf die er geschossen hatte. Einen Meter vor ihm blieben sie stehen, als ob sie warten würden, warten auf ein Angriffssignal. Kaum, dass Lundspack diesen Gedanken hatte, erklang das Geräusch, und wie auf Kommando sprangen die kleinen Spinnen auf ihn zu. Lundspack drehte sich um und rannte los. Wenn er es nur bis zum Bach schaffen würde, dann... 'Der Bach war breit genug, und obwohl die Spinnen erstaunlich weite Sprünge schafften, über das Wasser hatten sie keine Chance. "Nicht mehr weit... Nicht mehr weit..." Lundspack keuchte, jeder Schritt schmerzte. Die Spinnen hinter ihm gaben quiekende Laute von sich, und über allem lag das Geräusch, der Sirenengesang aus der Hölle. "Nicht mehr weit..."

An diesem Punkt der Geschichte wäre es wohl wünschenswert gewesen, hätte man erfahren, dass Samuel Lundspack es bis zum Bach und ohne nennenswerte Probleme auch über diesen geschafft hätte. Dass die gruseligen Spinnen verschwunden wären, ebenso wie der verhexte Waldabschnitt, aus dem Lundspack schreiend herausstolperte, dass alles nur ein böser Traum war. Doch das Schicksal war an diesem Tage nicht gnädig gestimmt, und so lenkte es Lundspack hin zu einer versteckten Wurzel, in die er sich verfing. Schreiend fiel er der Länge nach hin. Instinktiv rollte er sich hin und her, in der Hoffnung, die Spinnen zu zerquetschen, die über ihn herfielen wie kleine Raubtiere. Ohne dass es Lundspack merkte, bewegte er sich langsam aber sicher auf eine Böschung zu. Natürlich konnte er nicht wissen, dass dahinter ein steiler Abhang lag. Die Spinnen krabbelten auf ihm herum, zwickten und bissen ihn, und jeder Biss war so, als ob heiße Nadeln seine Haut durchstießen. Als er durch die Böschung rollte, sah er aus den Augenwinkeln noch Wölfe und Bären, die stumm auf dem sandigen Waldboden hockten. 'Das kann doch alles nicht wahr sein', dachte er und rollte schließlich mitsamt der Spinnen auf seinem Körper den Abhang herab. Mehrmals schlug er hart mit dem Kopf gegen spitze Steine und knorrige Wurzeln. Nach endlosen Sekunden blieb er endlich liegen. Erschöpft drehte sich Lundspack auf den Rücken und öffnete die Augen. Er sah einen wolkenlosen Himmel. Vor allem aber sah er den Berg. Dann betrachtete er seine Hände und Arme. Überall konnte er winzige Bissspuren erkennen, um die sich die Haut schwarz gefärbt hatte. Seltsamerweise tat es nicht weh. Und seltsamerweise war Samuel Lundspack angesichts seiner Situation die sprichwörtliche Ruhe selbst. Weit und breit war einzige Spinne zu sehen. Er sah zum Abhang, kniff die Augen zusammen und erkannte an einigen Stellen winzige, zuckende Punkte, die mit einem leisen Knall verpufften. Sein Blick wanderte weiter aufwärts, verfolgte die Rutschspur, die er hinterlassen hatte... "Nun...", murmelte er und legte den Kopf etwas quer. "Dann kommt und holt mich doch." Oben am Rand des Abhangs saßen ausgemergelte Wölfe, dazwischen riesige Bären, und in den Ästen der Bäume über ihnen wippten sanft im Wind große Giftnattern und noch größere Würgeschlangen. Sie gaben keinen einzigen Laut von sich. Überhaupt hörte Lundspack nichts, bis auf eines. Erst nach und nach drang es zu ihm, zuerst ganz sanft, dann wie ein tosender Orkan. Hier am Berg, auf dessen Schattenseite, da hallte das Weinen und Seufzen, dieses unnatürliche Geräusch so laut in seinen Ohren, dass sie anfingen zu bluten. Schreiend presste Lundspack die Hände an die Ohren und rappelte sich mühsam auf. Oben am Rand des Abhangs begannen sich die Tiere zu regen, ihre Köpfe senkten und hoben sich, ihre Augen loderten und funkelten, der ganze Hass der Welt war in diesen Augen, und der ganze Hass der Welt richtete sich in diesem Moment auf Samuel Lundspack. Hinter ihm begann es zu poltern. Er drehte sich um und schaffte es nur durch einen beherzten Sprung auf die Seite, dass er nicht von einem mannshohen Stein zermalmt wurde. Weitere, nicht mehr ganz so große, aber immer noch gefährliche Steine rollten auf ihn zu. sie schienen sogar ihre Richtung zu änderen, als ob sie von etwas gelenkt wurden. Lundspack schrie und heulte Rotz, Wasser und Blut. Die Steine türmten sich zu einem hohen Haufen, ein grotesk anmutendes Bauwerk, aussehend wie die verkleinerte Ausgabe des Berges, von dem sie stammten, um nicht zu sagen ausgesandt wurden, um ihn, Samuel Lundspack zu vernichten. Staub wirbelte durch die Luft, klebte in seinen Haaren, an seiner zerrissenen Kleidung, in seinen Augen und an den aufgeplatzten Lippen. Es mußte, konnte nur der Berg sein. Ein namenloser Berg, den jeder mied. 'Es ist wie mit den Schiffen', dachte Lundspack, 'Schiffe, die keinen Namen haben, die bringen nur Unglück. Warum soll es mit diesem verfluchten Berg nicht anders sein.' Diese Erkenntis führte dazu, dass das Geräusch sich in einen grellen Pfeifton verwandelte und seine Trommelfälle zum Platzen brachte. Aprupt verschwand das Pfeifen. Direkt vor Lundspack manifestierte sich das nun stumme und (so glaubte Lundspack) immer noch vorhandene Geräusch zu einem mit verfaulten Fleisch bestückten Skelett, einem wilden Eber nicht unähnlich. An einigen Stellen pulsierten noch Muskeln, floss schwarzes Blut über rissige Knochen. Die Höllenkreatur starrte Lundspack mit eitrigen Augen an. Lundspack zitterte am ganzen Leib. Die Wölfe und Bären liefen nun aufgeregt hin und her, rissen ihre Mäuler auf und zeigten schneeweiße und scharfe Zähne. Die Schlangen in den Bäumen krochen umeinander herum, umschlangen sich, lösten sich, bildeten schuppige Knäuel und ließen sich vereinzelt fallen, um auf den Wölfen und Bären herumzukriechen. Lundspack begann zu beten, denn ihm wurde bewußt, dass er hier am Berg sterben würde. Er hatte nie ein Problem damit gehabt, eines Tages zu sterben. Nur die Art und Weise, wie es jetzt geschah, die passte ihm nicht, machte ihn wütend. Wie bereits erwähnt, war Samuel Lundspack zeit seines Lebens kein Feigling gewesen, abgesehen von den Ereignissen, die ihn in seine jetzige Situation gebracht hatten. Seinem Tod ins eitrige Auge sehend, entwickelte er kurzerhand so etwas wie Heldenmut. 'Wenn schon sterben', so überlegte er, 'dann als aufrechter Mann!' Doch bevor er auch nur ansatzweise etwas tun konnte, was von vornherein zum Scheitern verurteilt war, lief die Höllenkreatur blitzartig auf ihn zu und riss ihn mit sich fort. Lundspack wurde schmerzhaft durchgeschüttelt. Er wurde mitgeschleift, direkt auf den Berg zu. Und dann, einfach so, waren er und der äußerst lebendig wirkende tote Eber verschwunden, vom Berg verschluckt worden. Und auch das die ganze Zeit tatsächlich vorhandene Geräusch war weg. Als ob es nie existiert hätte.

Die Tiere oberhalb des Abhangs, die alles mit angesehen hatten, schüttelten sich. Sie schüttelten das seltsame Verhalten ab, das sie an den Tag gelegt hatten. Ihres natürlichen Instinkts wiedererlangt, fielen sie übereinander her, bissen und zerfetzten sich zu Tode, bis nur noch die Schlangen übrig waren, die gierig die Kadaver vertilgten und vollgestopft aufplatzten und elendig krepierten. Die Sonne wanderte unbeirrbar weiter. Noch bevor die Nacht anbrach, hatte der Wald die toten Tiere verschlungen.

***​

Jahre später erforschte eine Gruppe aus gestandenen Wissenschaftlern den Berg. Sie hatten in kryptischen Schriften gelesen und schaurigen Märchen zugehört. Sie fanden am namenlosen Berg ein Höhlen- und Tunnensystem, dessen Eingang vorborgen lag. Sie allesamt verschwanden spurlos. Aber das ist eine andere Geschichte.


ENDE


copyright by SV​

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sebastian,

auf den ersten Blick wirkt die Geschichte, als würde sich die Natur dafür rächen, dass Lundspack Tiere jagt. Andererseits ergeht es den Forschern am Ende ja auch nicht anders. Also sollte man diese Gegend generell meiden...
Du kannst sehr schöne Stimmungen erzeugen, so dass ich die Geschichte insgesamt gerne gelesen habe.

Mir sind vielerlei Dinge - Kleinigkeiten - aufgefallen:

Nach einigen Abenteuern, die mal mehr, mal weniger glimpflich verliefen, für diese Geschichte jedoch gänzlich unbedeutend sind, fand er endlich seinen inneren Frieden, und zwar nahe einem kleinen Ort namens Doody Falls, einem aufblühenden Städtchen, bewohnt von Glücksspielern und Geschäftsleuten, Goldsuchern und Tagelöhnern, Frauen und Kindern, Männern und solchen, die es noch werden wollten, kurz, eine Menge unterschiedlichster Existenzen, an einem einzigen Ort vereint in glückseliger Vertrautheit.
Gleich der zweite Satz mit 14 Kommas. Nichts spräche dagegen, ihn in mehrere einzelne Sätze aufzulösen, zumal hier einige grundverschiedene Aspekte aneinander gereiht sind. Immerhin ist das Satzungeheuer verständlich gehalten.

für diese Geschichte jedoch gänzlich unbedeutend sind (…)
doch auch dies ist eine andere Geschichte, zumal sie nichts mit Samuel Lundspack zu tun hat, von dem wir hier berichten wollen.
Da fühle ich mich ein wenig veräppelt. Da lese ich also Dinge, die völlig unbedeutend für die Geschichte sein sollen. Wozu? Sollten sie doch irgendeine Rolle spielen für das Gesamtverständnis, wären wiederum diese Bewertungen fehl am Platz.

imense Schulden
immense

nicht weit eines großen Berges, der keinen Namen hatte, weil niemand es für notwendig hielt, dem Berg einen Namen zu geben.
Einen Berg ohne Namen mag es geben, einen „großen“ Berg ohne Namen wohl kaum, zumal mit dieser Begründung. Ich gehe also davon aus, dass Lundpack das erste Opfer des Bergs ist, denn ein monströser Berg hätte erst recht einen Namen.

während er leicht verschlafen dastand und sich erleichterte, da hörte er ein Geräusch
2x da. Der Satz klingt so, als würde ich ihn meiner kleinen Tochter vorlesen, um für sie klar hervorzuheben, dass jetzt was Wichtiges passiert. Vorschlag: “während er sich noch leicht verschlafen erleichterte, hörte er ein Geräusch“

rauchte aus leichtem Frust
„Frust“, weil er ein Geräusch nicht gleich identifiziert hat? Ich würde ihn eher „irritiert“ erwarten, zumal es gleich danach als unwichtig erscheint.

was wiederum eine niedrigere Verkaufserlöse
ohne "eine"

machte sich auf den Weg, nicht vorher sein Gewehr überprüft zu haben
da fehlt ein „ohne“

genoss er die wenigen Jahre, die er noch hoffte zu haben.
Also ein sehr alter Mann. Warum nicht - obwohl er gegen Ende recht kräftig und agil, fast schon jung wirkt.

Er ertrank beinahe in dieser Zufriedenheit, und manchmal wichste er gegen einen Baum
Erst diese fast schon poetische Formulierung, dann wird derb irgendwohin gewichst. Naja…

Vernünftigerweise sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass Samuel Lundspack kein Feigling war, und die Flucht nur dann antrat, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ.
Diese Worte sind an den Leser gerichtet. Warum „vernünftigerweise“? Ich war an dieser Stelle noch nicht in Panik verfallen.

Der Bär hatte Angst gehabt und war davon gelaufen. Was war in der Lage, einen so großen Bären in die Flucht zu schlagen? Oder so zu ängstigen, dass dieses Monstrum von einem Raubtier wie ein reudiger Hund den Rückzug bevorzugte? Vielleicht war es auch die menschliche Neugier, die ihn selbst jetzt geradezu zwang, zu ergründen, warum der Bär solch eine Furcht gehabt hatte,
Hier erfahre ich denselben Sachverhalt (Bär - Angst - Flucht) mehrmals hinter einander, nur in verschiedenen Worten. Übrigens: nach dem Lesen der ganzen Geschichte fragte ich mich, warum der Bär überhaupt geflüchtet ist - die Tiere des Waldes waren doch versammelt am Berg gestanden - ohne Fluchtgedanken.

versicherte sich, das es geladen war und ging dann
dass

durchzog ein unangenehmes Kribbeln seine Hand bis zur Schulter, sein ganzer Arm wurde taub, und es dauerte gut eine Minute, bis die Taubheit wieder abgeklungen war. Lundspacks Ohren vernahmen wieder das Geräusch. Schließlich ging er in den Wald hinein
Heftige Symptome! Und er geht weiter, ohne sich etwas dabei zu denken?

MacFidden gewesen, ein steinreicher Forscher, dessen hauptsächliches Interesse den Regenwäldern Südamerikas galt. In dieser besagten Zeitung hatte gestanden, dass es Bäume gab, die bis zum Himmel wuchsen und älter als die Menschheit waren. Es hieß, in den Nischen und Ritzen lebten Spinnen, so groß wie ein Pferd, und es gab laut brummende, fleischfressende Moskitos, die mit gezielten Stichen ihre Opfer lähmten und danach bei lebendigem Leibe auffraßen. So sehr Lundspack damals über dieses Hirngespinst eines Schreiberlings gelacht hatte, jetzt mußte er feststellen, dass die Beschreibungen von MacFidden offenbar nicht gänzlich gelogen waren
Also spielt die Geschichte in Südamerika? Nichts anderes steht hier. Dabei hätte ich die zuvor erwähnte "Ostküste" den USA zugeordnet.
(Ergänzung: zumindest entsteht hier stark der Eindruck, dass sie in Südamerika spielt)

rollte schließlich mitsamt der Spinnen auf seinem Körper
den

Weit und breit war einzige Spinne zu sehen.
"keine" fehlt

hörte Lundspack nichts, bis auf eines.
Eines

ihn zu. sie schienen sogar ihre Richtung zu änderen, als ob sie von etwas gelenkt wurden.
Sie … ändern

Diese Erkenntis führte dazu, dass das Geräusch sich in einen grellen Pfeifton verwandelte und seine Trommelfälle zum Platzen brachte.
Die „Erkenntnis“ führte dazu? Oder geschah das nur im selben Moment?

Und auch das die ganze Zeit tatsächlich vorhandene Geräusch war weg. Als ob es nie existiert hätte.
„tatsächlich“ wirkt überflüssig, im nächsten Satz wird’s ja auch nochmal ausgedrückt.

Besten Gruß,
nic

 

Hallo, Poncherie!
Nur ganz kurz: Nette Story. Ich würde sie im oberen Mittelfeld deines Schaffens ansiedeln. Zwar kommt weder Spannung auf (es fehlt irgendeine Art Rätsel, das der Leser gemeinsam mit dem Protagonisten lösen möchte, oder innerer oder äußerer Konflikt), noch erzielst du eine unheimliche, bedrückende Atmosphäre. Im Grunde ist das meiste Erzählte in dem Text völlig überflüssig - gerade das gefällt mir hier aber! Ich bin kein Freund schnörkelloser Erzählungen, die nur ja nicht an Adjektivitis leiden dürfen und jegliche Abschweifung verpönt ist.
So fand ich den kurzen gedanklichen Abstecher in den südamerikanischen Dschungel mit den himmelhohen Bäumen und den gigantischen Insekten und Spinnen, die darin leben (Hommage an "Am Abgrund der Ewigkeit"?), interessant und dem Text dienlich, weil sie den Leser bewusst ein wenig in die Irre führen.
Der Schluss ist zwar Klischee as Klischee can, aber doch mystisch genug, um den Leser zu Interpretationen einzuladen.
Fazit: Zwar belanglose, aber nette Geschichte für Zwischendurch. :)

PS:

copyright by SV

Ach, Mist! Und ich wollte mir die Story schon runterladen, meinen Namen angeben und sie zu einem Wettbewerb einschicken. :D

PS 2:
Bitte mehr Zeilenbrüche und Absätze einbauen!

 

Hallo nochmal,

bei einiger Zustimmung kleiner Widerspruch zu Rainer: ich find schon, dass die ganze Entwicklung aber der Szene am Bach spannend wird.

Dies hier fiel mir beim nochmaligen Lesen auf:

Ihres natürlichen Instinkts wiedererlangt, fielen sie übereinander her
mit "wiedererlangt" kann nur ein Akkusativ stehen, kein Genitiv.

Grüße
nic

 

Tag Mädels :)

ja, der übergroße Horror ist es wohl nicht, deshalb fügte ich als kleinen Titelzusatz "Eine Schauergeschichte" an. Alles in allem habe ich mich bemüht, mal sprachlich anders aufzutreten, als wie bisher, möglich, dass ich es an einigen Stellen übertrieben habe, nun ja...

Worum geht es? Es geht darum, dass ein Mann verschwindet, unter recht mysteriösen Umständen. Über das Wie und Warum, und ob es am Ende vielleicht ein wenig zu schnell ging, und ob vielleicht zufriedenstellende Erklärungen fehlen, gut, da ist wohl meine alte Schwäche mit mir durchgegangen: Bloß nichts zu viel erklären.

Die Geschichte spielt tatsächlich nicht in Südamerika, und auch nicht an der Ostküste. Ich würde sie eher in Hillbilly-Gefielden ansiedeln.

Manchmal schiebe ich gern Querverweise zu anderen Geschichten von mir ein. Das war auch hier der Fall. Der eine kann was damit anfangen, der andere fühlt sich verschaukelt. Ich finde das gar nicht so übel. ;)

Danke fürs Durchhalten.

Gruß
SV (bzw. Ponch für unseren Lieblings-Ösi)

 

Wenn ich noch was anmerken darf:

Sebastian Venohr schrieb:
Alles in allem habe ich mich bemüht, mal sprachlich anders aufzutreten, als wie bisher, möglich, dass ich es an einigen Stellen übertrieben habe, nun ja...

Es gab natürlich stilistisch einige unsaubere Stellen. Aber alles in allem betrachtet fand ich den Stil besser als in vielen deiner anderen Geschichten.

Manchmal schiebe ich gern Querverweise zu anderen Geschichten von mir ein. Das war auch hier der Fall. Der eine kann was damit anfangen, der andere fühlt sich verschaukelt. Ich finde das gar nicht so übel. ;)

Nun, wer nichts damit anfangen kann, wird sich auch nicht verschaukelt fühlen.
Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass du ein wenig "gereift" bist. Deine letzten beiden Geschichten - nach langer Schreibpause - sind um Klassen besser als viele deiner alten Storys. Vielleicht lässt du dir auch mehr Zeit beim Schreiben, keine Ahnung. Immerhin schön zu sehen, dass du Fortschritte gemacht hast. Weiter so!

 

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