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Am Ende aller Worte
Mein Mann segelte mit den Walfängern von Nantucket. Er tauchte hinab in die Weite des Meeres; hinab bis auf zwanzigtausend Meilen. Er sang mit den Sirenen, kämpfte mit Kapitän Larson und stieg hinunter in die Kanalisation von Derry.
Mein Mann liebte Geschichten, er versank in ihnen und verlor sich darin. Er sagte immer, dass jeder in der Lage sei, ein Buch zu lesen, aber nur wenige würden es schaffen, eine Geschichte wirklich zu leben.
Ich lernte ihn in einem Januar kennen. In einer Zeit, in der die Kälte und das Grau der kurzen Tage bleiern auf der Seele lasten. Das Gemüt wird schwer und man sehnt sich nach einem Mann, dessen Wärme sich nicht nur unter einer gemeinsamen Decke ausbreitet, sondern auch im eigenen Herzen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vielleicht drei Bücher in meinem Leben gelesen und keines von ihnen wird wohl jemals in den Annalen der Literaturgeschichte auftauchen. Umso interessanter erschien er mir, denn er erzählte von Grenouille, dem Zeck, von Bateman, dem gelangweilten Juppy und Luise Millerin, deren Liebe die Ständegesellschaft nicht tolerierte. All dies waren Namen, die für mich keine Bedeutung hatten, aber für ihn waren es reale Menschen, deren Schicksale ihn schockierten oder tief berührten. Seine Augen funkelten, wenn er mir von ihnen erzählen konnte und ich hörte bereitwillig zu. Mir gefiel, wie er sich begeistern konnte, denn damit besaß er etwas, was ich nicht hatte.
Ich studierte damals, hatte keine Hobbys und auch sonst keine Interessen. Mein Leben bestand aus einem zweckgebundenen Studium, einem Job, um es zu finanzieren und ein paar Partys am Abend, um meine sozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich will nicht sagen, dass ich nie Spaß hatte, aber wirklich begeistern konnte ich mich für nichts von alledem.
Meine Freundinnen waren genauso. Sie hatten zwar Hobbys, erzählten aber eher gelangweilt von ihren Reitstunden und Tanzabenden. Da war kein Funkeln in ihren Augen, keine Euphorie, die einem beim Erzählen mitriss. Da war, trotz seine unterschiedlichen Facetten, nur der reine Alltag.
Warum Patrick so sehr in seinen Interessen aufging, erfuhr und begriff ich erst später. Aber schon bevor ich erkannte, wie sehr sich seine Realität von der meinen unterschied, begann ich seine Begeisterung zu teilen. Es dauerte nicht sehr lange und ich wusste, wer Grenouille war. Ich las bald auch Bücher, die er noch nicht kannte und wir unterhielten uns abends, zusammengekuschelt in unserem gemeinsamen Bett, stundenlang über die Abenteuer der drei Musketiere und versanken in der romantischen Lyrik von Novalis.
Geschichten und Gedichte berührten meine Seele. Ich weiß nicht genau wie es kam, dass ich plötzlich alles Geschriebene so sehr liebte, da ich doch zuvor ein Buch lediglich als guten Untersteller betrachtet hatte, aber ich hinterfragte meine neue Leidenschaft auch nicht, weil ich glücklich war, endlich eine gefunden zu haben. Eigentlich waren es sogar zwei Leidenschaften, die seit diesem Januar ihren Platz in meinem Leben beanspruchten. Es war die Literatur und Patrick, den ich so sehr liebte, dass schon eine kurze Trennung mich in tiefen Kummer stürzte.
Das gemeinsame Lesen am Abend bereitete uns beiden Vergnügen und wenn die letzte Seite umgeschlagen worden war, sanken wir uns in die Arme und liebten uns, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Es gab aber auch Momente, in denen Patrick mir sagte, dass er lieber alleine lesen wolle. Er erklärte mir, dass er manche Geschichten nur erfassen könne, wenn er durch nichts abgelenkt wurde. Ich ließ ihm seinen Freiraum und stellte keine Fragen.
Es geschah im Sommer des nächsten Jahres. Er nahm mich in die Arme, sah mich aus seinen tiefen, braunen Augen an und erzählte mir etwas, das ich nicht verstand. Er sprach von Farbentauchern, von Notenreitern und Geschichtenmalern. Ich sah ihn nur verwirrt an und schüttelte meinen Kopf. Diese Bezeichnungen hatte ich noch nie zuvor gehört und sie klangen, als seien sie irgendeinem verschrobenen Science Fiction Roman entsprungen, um die ich damals, trotz meiner Vorliebe für alle möglichen Genres, einen weiten Bogen machte.
Die Erinnerung an jenen Tag ist frisch und ungetrübt.
Wir waren am See, lagen nebeneinander und genossen die Ruhe und den Frieden, den dieser Sommertag uns brachte. Ein seichter Windhauch formte zierliche Wellen auf der Oberfläche und glitt zart über uns hinweg, den Geruch des Wassers mit sich führend. Tief sog ich die reine Luft ein und genoss das Gefühl der Frische in meinen Lungen. Die Sonne lachte strahlend auf uns herab, als Patrick mich in den Arm nahm. Er sah mich an. Diese braunen Augen, in denen es so viel zu sehen gab und in denen ich mich selbst sehen konnte. Nicht als Spiegelbild, sondern als jemanden, der auch dahinter, in der Seele des Menschen, lebte.
„Weißt du, warum ich Geschichten so sehr liebe?“
Die Frage kam unerwartet, aber ich dachte mir nichts dabei. Ich hörte das Lachen fröhlicher Kinder, irgendwo bellte ein Hund und über uns sang ein Vogel sein Lied.
„Weil sie von Dingen erzählen, die wir niemals erleben können?“
Ich stellte ihm diese Gegenfrage. Nicht, weil ich ihm antworten wollte, sondern weil ich einfach das Gefühl hatte, genau diese Worte sagen zu müssen. Manchmal liegt einem etwas auf der Zunge und man glaubt daran zu ersticken, wenn man es nicht herauslässt. Genauso war es mit meiner Frage. Es war nicht unangenehm, sie ihm zu stellen, aber es war nötig – vielleicht Schicksal.
„Ich erlebe sie.“
Ich blinzelte ihn an und später, als wir schon lange wieder zu Hause waren und weitere Tage und Nächte sich einreihten in unsere gemeinsame Zeit, da wurde mir klar, dass er mir mit diesem einen Satz schon alles gesagt hatte.
„Wie meinst du das?“ Ich stützte mich ab und fuhr ihm mit einer Hand durch sein langes, schwarzes Haar, das immer noch feucht von dem Bad war, das wir im See genommen hatten.
„Es gibt Menschen, die besitzen eine Gabe. Ein Geschenk, das es ihnen ermöglicht zu erleben, was in den Köpfen anderer geboren worden ist.“
Ich betrachtete Patrick aufmerksam und wartete auf das verräterische Funkeln in seinen Augen, das dort entfacht wurde, wenn er eine Geschichte erzählte. Aber seine Augen blieben kalt. Keine Funken.
„Jeder kann ein Buch lesen, aber nur wenige können es erleben. So ist es nicht nur mit Büchern. Auch in Bildern und in der Musik kann man sich verlieren. In sie hineintauchen. Man kann in allem leben was Kunst ist, denn wahre Kunst ist nicht nur einfach ein Produkt, es ist ein Kind des Herzens, der Seele.“
Er machte eine Pause, um auf eine Reaktion von mir zu warten, aber ich blieb still liegen und hoffte immer noch, dass bald das Funkeln der Fantasie in seinen Augen auftauchen würde.
„Es gibt Farbentaucher. Sie selbst nennen sich so. Sie können ein Bild betreten, dort umhergehen und alles so erleben, wie es ist. Bäume sind dann nichts weiter als dünne Balken, nach Farbe riechend und grob gemalt. Oder Notenreiter. Auch sie haben sich diesen Namen selbst erwählt, auch wenn er komisch klingt. Sie leben Musik. Sie schließen die Augen und reisen auf den Klängen wie Passagiere in ferne Welten, die nur bestehen aus Höhen und Tiefen, vereinigt in einer Melodie, die sich darstellt, wie eine akustische Welt voller Wälder, Meere und Berge.“
Am liebsten wäre ich an dieser Stelle einfach aufgestanden, hätte ihm den Kopf wie einem verwirrten Kind getätschelt und wäre in den See gelaufen. Das Wasser wäre über mich zusammengeschwappt und die Stille der Tiefe hätte mich eingehüllt wie ein schützender Kokon. Ich blieb jedoch liegen. Fasziniert von dem, was Patrick mir erzählte. Ich sah ihm an, dass er glaubte, was er erzählte. Sollte ich ihn für verrückt halten? Klangen denn manche Geschichten nicht auch verrückt und unglaublich und trotzdem fand man irgendwann heraus, dass sie auf einer wahren Begebenheit beruhten? Wem konnte ich glauben, wenn nicht dem Mann, den ich liebte?
„Es gibt auch jene, die nicht einfach nur lesen. Fantasie ist eine Sache, das Erleben von Geschichten eine andere. Wie du. Wenn du liest, hast du dann nicht die Szenerie direkt vor Augen. Burgen, Märchenwälder, die Tiefsee, oder das große weite All?“
„Ja, aber was hat das damit zu tun?“
„Nun. Wenn du wirklich in diese literarischen Welten abtauchen könntest, wäre dann nicht alles viel realer? Säßen dann auf den Blumenwiesen nicht kleine Käfer, die summen und ihre Fühler ausstrecken? Würden dann nicht die Pollen einen wirren Tanz vor deinen Augen aufführen? All diese Kleinigkeiten würden vielleicht nicht deine Vorstellungskraft sprengen, aber du würdest nie mit dem Lesen eines Buches fertig, wenn du dir alles bis ins kleinste Detail vorstellen würdest. In etwa so ist es, wenn man die Gabe besitzt. Wir nennen uns selbst Geschichtenmaler, weil das Geschriebene um uns herum heranwächst wie ein Bild. Die Wörter malen Bilder. Wände verschwinden, lösen sich auf und schaffen Platz für Berge, die wie Blumen in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Boden wachsen. Wasser dringt an die Oberfläche, bedeckt Kacheln und Teppichböden, fließt zusammen und erstreckt sich in riesigen Meeren noch über den Horizont hinaus. Und der Leser steht mitten in dieser Welt, die jemand in seinem Buch beschrieben hat. Menschen erwachen zum Leben, atmen und reden und nehmen einen wahr, als sei man ein Teil der Geschichte. Lyrische Seen, Wälder aus Prosa. Alles ist echt. Alles ist real. Aber man muss auch darauf achten, worin man sich verliert. Die göttliche Komödie zum Beispiel eignet sich nicht unbedingt.“ Danach hatte er kurz und trocken gelacht, mich jedoch gleichzeitig mit einem ernsten Blick fixiert.
Ich starrte ihn entgeistert an. War dies der Grund, dass er ab und zu alleine sein wollte mit seinen Novellen und Romanen? Vergrub er sich in seiner überlaufenden Fantasie und jagte mit Ahab auf der Pequod dem weißen Wal hinterher? Spürte er die Gischt im Wind, das Salz auf den Lippen?
„Das kann jetzt unmöglich dein Ernst sein?“
Er gab mir keine Antwort. Er wusste, dass ich sie schon kannte, bevor ich die Frage überhaupt gestellt hatte. Ja. Das war sein Ernst. Sein voller Ernst. Ich hörte die Kinder nicht mehr lachen, den Hund nicht mehr bellen und den Vogel nicht mehr singen. Alles war unwichtig in Anbetracht der Dinge, die mir Patrick offenbart hatte. War er verrückt? Konnte ich einen Verrückten lieben? Gedanken wie diese schossen mir schmerzend durch meinen pochenden Kopf, der mir plötzlich viel zu klein erschien.
Ich beschloss, das Thema zu umgehen. Ich tat es ab, machte es zu einem Gespräch, wie jedes andere auch, das irgendwann einmal in den zahlreichen Erinnerungen an all unsere Gespräche untergehen würde. Und es gelang mir auch, denn Patrick erwähnte nie wieder etwas von Geschichtenmalern oder Farbentauchern. Wir lebten unser Leben, wie wir es auch zuvor getan hatten. Wir lebten, wir lasen und wir liebten uns. Liebe ist ein Gefühl, welches Weite schafft. Das Herz wird groß und nimmt das Wesen des Partners in sich auf. Man ist nicht mehr alleine. Man hat jemanden, der immer da ist, auch wenn er körperlich nicht anwesend ist. Liebe ist ein Zustand, der sich eigentlich nicht beschreiben lässt. Sie ist mehr als Chemie, die sich im Inneren unseres Körpers abspielt. Sie ist das Ziel unseres Lebens. Das, wonach jeder Mensch strebt, denn er kann erst die Ruhe im Leben finden, wenn er sie gefunden hat. Sie, die Liebe. Sie, die Wahrheit des Lebens. Sie, das größte Geschenk, dass uns jemals gemacht worden ist. Sie verbindet und lässt uns auch schwere Stunden überstehen. Die Liebe ist wie ein Sonnenstrahl, der schwarze Wolken durchbricht. Warm, wunderschön und hoffnungsgebend.
Manchmal lag ich neben ihm im Bett und alles, was ich wollte, war ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebte. Dies waren auch solche Worte, die einem auf der Zunge liegen und einfach hinauswollen, weil das Bedürfnis sich mitzuteilen so stark ist, dass nichts die Worte aufzuhalten vermag.
„Ich liebe dich!“, sprach ich zu ihm, während er noch friedlich schlummerte an einem Morgen im Juli. Wir waren schon viele Jahre zusammen, hatten unser Leben gemeinsam bestritten; waren den selben Weg gegangen und noch immer fühlte ich mich, als hätte ich diesen Mann gerade erst kennen gelernt. Wie er so neben mir lag, schlafend und ruhig, da wusste ich, dass dies mein Leben war und das nichts und niemand etwas daran ändern konnte. Und das war gut.
„Ich habe Angst!“ Patrick schlug die Augen auf. Er schnellte hoch und schlug die Bettdecke zur Seite, als würde sie ihn ersticken wollen. Schweiß perlte von einer Sekunde auf die andere auf seiner Stirn. Das Blut wich aus seinen Wangen und seine zu einem dünnen Strich geformten Lippen wurden blau. Kälte durchströmte mich und Grauen schlich sich in mein Herz, das wild in meiner Brust schlug.
„Was ist?“, schrie ich ihn voller Angst an. Er blickte mich mit wahnsinnigen Augen an.
„Ich habe Angst!“, wiederholte er wieder laut und kraftvoll.
Meine Gedanken überschlugen sich.
„Hast du schlecht geträumt?“, fragte ich ihn und legte ihm meine Hand beruhigend auf die Brust. Wie gerne hätte ich in diesem Moment auch eine solche Hand auf mir gespürt, die mir zu verstehen gab, dass alles in Ordnung sei.
„Ich muss es aufschreiben“, murmelte er und schob meine Hand einfach beiseite. Atemlos blickte ich ihn an. Mein Blick wechselte von meiner verschmähten Hand zu seinen Augen und wieder zurück. Noch nie hatte er mich abgewiesen; noch nie so behandelt, als sei ich gar nicht da.
„Was musst du aufschreiben?“
Ob diese Frage der Auslöser war, weiß ich nicht, aber sein Blick wurde wieder klar. Er sah mich an und nahm meine Hand. Ich spürte mein Herz leichter werden und die kalte Angst in der aufkommenden Wärme seiner Nähe vergehen.
„Ich habe Angst, dass alles einmal vergessen ist, dass ich schon morgen nicht mehr sein könnte und das alles, was meinem Leben einen Sinn gegeben hat, plötzlich weg ist, als hätte es nie existiert.“
Ich blinzelte. Hatte Patrick eine vorgezogene Midlifecrisis? Träumte er vielleicht immer noch? Oder hatte er einfach nur eine fixe Idee, die ihn für ein paar Minuten zu einem Besessenen machen und dann wieder verschwinden würde?
Ich dachte an die Szene am See zurück. Ich hatte mich gefragt, ob mein Mann verrückt geworden war und nun war ich kurz davor, diese Frage ein weiteres Mal zu stellen.
Oh, verdammtes Schicksal. Hatte ich mein Leben doch noch vor wenigen Sekunden so sehr genossen, weil alles um mich herum wie ein wahrgewordener Traum erschien. Und nun wollte es mir womöglich einen Strich durch die Rechnung machen. Am Ende eines Buches kam es doch auch immer anders, als man dachte. Die tragische Wendung am Schluss. Erst die Katharsis in der Mitte und dann am Ende aller Worte die Katastrophe.
Patrick fing sich wieder und auch ich gelangte wieder zu meiner Ruhe. Er begann zu schreiben. Nie hatte er selbst versucht, etwas zu Papier zu bringen. Er sagte mir einmal, dass er nie die Qualität eines guten Buches erreichen würde und alles andere wäre Verschwendung. Deshalb hatte er es nie selbst probiert; bis zu diesem Augenblick.
Er nahm sich Urlaub, begann am frühen Morgen zu schreiben und hörte erst am späten Abend wieder auf. Die Worte flossen nur so aus ihm heraus und ich sah in seinen Augen jenes eigentümliche Funkeln. Er ließ mich nichts lesen, egal wie sehr ich auch darum bettelte. Er meinte, dass ich diese Geschichte bereits kennen würde, denn ich wäre ein Teil von ihr. Es war sein Leben, das er aufschrieb. Seine Gedanken, seine Welt. Mich schauderte ein wenig, wenn ich daran dachte, dass auch seine abstruse Idee des Geschichtenmalens darin vorkommen würde. Denn wie kann das Leben eines Mannes noch als solches wahrgenommen werden, wenn man nicht mehr unterscheiden kann, was nun Realität und was Fantasie ist.
Die Finger waren sein Instrument, sein Pinsel, sein Werkzeug. Sie huschten, nein, sie jagten über die Tastatur seines Notebooks und hämmerten förmlich seine Gedanken in das noch ungedruckte Buch, das von seinem Leben erzählte.
Vieles änderte sich in dieser Zeit. Er las nicht mehr. Abends lag ich allein im Bett und vergrub mich in fremden Welten. Ich ritt durch das Auenland, wanderte durch Zamonien und sah wie sich die Zeit in Mittwelt weiterbewegte. Wie liebten uns auch nicht mehr. Nicht, dass mir dies wirklich etwas ausgemacht hätte, denn unsere Liebe ging weit über die körperliche Anziehung hinaus, aber es war so, als hätte man einen Wall zwischen uns errichtet, der es uns nicht mehr erlaubte den anderen zu berühren.
Patrick nahm ab. Ich musste ihn zwingen, seinen Schreibtisch zu verlassen und an den Esstisch zu kommen. Hatte er sich dann überwunden, aß er, als würde es kein Morgen geben. Und dennoch verlor er immer mehr an Gewicht. Heute würde ich sogar behaupten, ich hätte gesehen, wie auch seine Augen immer blasser wurden und wie seine Wangen einfielen und mich an einen alten Mann oder an einen Toten erinnerten. Das hatte nicht mehr nur etwas mit seinem Gewichtsverlust zu tun, aber damals gab ich genau diesem Dilemma die Schuld. Ich kochte fetter und süßer, aber nichts half. Patrick magerte immer weiter ab.
Ich beobachtete ihn, wie er über sein Notebook gebeugt am Schreibtisch saß und nichts anderes tat als schreiben. Schreiben. Schreiben. Brachte ihn seine eigene Geschichte um?
Ich war verzweifelt. Ich nahm ihn wie ein hilfloses Kind, das seine Eltern verloren hatte, an die Hand und schleppte ihn zum Arzt. Ich dachte, mein Mann sei krank und die Sorgen, die ich mir um ihn machte, nahmen mir nicht nur den Schlaf, sondern auch die Freude am Leben. Der Arzt fand nichts und wir gingen wieder nach Hause, wo er sich sofort wieder seinem Buch widmete, das immer länger wurde. Ich schrie ihn an und eines Tages gab ich ihm sogar eine Ohrfeige. Ich hatte es getan, weil er nicht mehr reagierte. Es schien, als kenne er meine Stimme nicht mehr.
Patrick war ganz allein für sich in einer Welt, die er anscheinend für sich selbst geschaffen hatte und die ich nicht kannte, auch wenn er mir versichert hatte, dass ich ein Teil dessen war.
Als ich ihn schlug, da schlug ich auch mich selbst. Auch meine Backe brannte wie Feuer und ich fühlte mich abscheulich. Ich hasste mich selbst, für das was ich getan hatte. Es fühlte sich an, als hätte ich mich selbst und alles, an was ich glaubte, verraten. Ich liebte ihn. Wie konnte ich ihn dann schlagen? Es war nicht nur so, dass eine Ohrfeige körperliche Schmerzen verursachte. Eine Ohrfeige verletzt mehr als das bloße Fleisch. Sie trifft die Seele eines Menschen, lässt Verachtung und Abscheu fühlen. War es denn Verachtung und Abscheu, was ich für meinen eigenen Mann empfand? Ich begann zu zweifeln. An mir und meinem Leben. Und dies war das Schlimmste, was ich vom Leben erwartet hatte. Unser Haus war nicht mehr dasselbe. Die hellen Gardinen waren irgendwie blasser und dunkler geworden. Ja, selbst der Boden schien dreckiger als sonst. Verschwindet die Freude, verändert sich auch die Wahrnehmung. Ich dachte immer, dies sei absoluter Quatsch. Nun wusste ich es jedoch besser.
Ich fragte mich, was in dieser einen Nacht mit ihm passiert war. Was konnte es sein, dass unser Leben von einem Moment zum anderen so sehr veränderte.
„Ich habe Angst.“ Die Worte lassen mich noch immer erschauern. Die Art und Weise, wie er sie gesagt hatte, war so endgültig, so durchdringend. Etwas war in dieser Nacht geschehen, dass ich nicht verstand und das unsere Beziehung auf eine Art veränderte, dass es zu so etwas wie einer Ohrfeige kommen konnte. Ich will mich nicht entschuldigen, aber was hätte ich tun sollen? Ich war verzweifelt. Ich konnte nicht mehr. Die Decke und selbst der weite Himmel stürzte über mir zusammen und begrub mich unter sich. Ich erstickte. Ich hatte Panik. Ich wollte so ein Leben nicht führen, in dem mein Mann sich nur noch einfach in unserem Haus aufhielt und mich nicht beachtete. Worte prallten von ihm ab, drangen nicht zu ihm durch. Ich wusste nicht mehr was ich sagen sollte, also verstummte ich und beobachtete, wie er immer mehr von seinem Leben in diesen Text den er schrieb, verlor.
Liebe ist ein hervorragender Nährboden. Die Bücher zeigen und erzählen es. Es gibt so viele Geschichten über Eifersucht, Hass und Neid. Und all dies sind Gefühle, zu deren Beginn nur die reine, unabdingbare Liebe existierte. Die Liebe trägt auch Böses in sich. Hat es die Literatur nicht gelehrt? War nicht das Monster Dracula, der Vampir, auch nur ein Produkt der Liebe? Das Verlorene hat ihm schlussendlich zu dem Untoten gemacht, der über Jahre hinweg den Menschen das Leben nahm. Er nahm ihnen das Blut. Herzblut.
Wo Liebe ist, da ist auch immer eine dunkle Seite, die man vielleicht nicht sieht, wenn man mitten in ihrem Licht steht. Aber es gibt sie. So gibt es keine Liebe ohne Trauer. Wenn man etwas verliert, das den Mittelpunkt des Lebens darstellt, dann fällt man in ein tiefes Loch, aus dem man vielleicht nie wieder hervorkommt. Die Zeit heilt Wunden, aber schließen kann sie sie nie.
Es gibt diese Momente, die leben in der Erinnerung. Man sieht sie klar wie einen Film vor sich, wenn man daran zurückdenkt. Der See war ein solcher Moment und auch das Ende seiner Geschichte war so ein Augenblick. Ich lag im Bett. Es war früher Abend. Das bleiche Licht des Computerbildschirms fiel matt auf sein Gesicht und ließ ihn wie ein Gespenst erscheinen. Er hielt inne, setzte einen Punkt und lehnte sich zurück. Ich las gerade „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ und wunderte mich, wie sehr die Geschichte des Homer Wells doch auf vieles übertragbar war. Selbst der Titel des Buches trug so viel Wahrheit in sich, dass er nicht nur in der Welt der Abtreibung einen Sinn ergab, sondern auch in meinem eigenen Leben.
Patrick sah mich an. Das Funkeln war erloschen und damit war auch das letzte Zeichen für mich, dass er noch lebte, verschwunden. Sein Blick war ruhig. Still. Traurig. Eine Träne lief aus seinem linken Auge und malte eine glitzernde Spur auf seine Wange.
„Was ist los?“, fragte ich ihn. Jetzt weinte er. Dämme brachen.
„Ich bin fertig“, antwortete er schluchzend und faltete die Hände in seinem Schoß.
„Das Ende ist geschrieben.“
Ich legte das Buch weg und der große, rote Apfel auf seinem Einband leuchtete strahlend unter dem hellen Licht der Nachttischlampe.
„Das ist doch gut.“ Ein Lächeln wanderte von mir zu ihm. Ich schenkte ihm mit diesem Lächeln alle Herzlichkeit, hoffte ich doch, dass sich nun alles ändern würde, aber ich verstand in diesem Augenblick nicht was er meinte.
„Du verstehst nicht“, sagte er so, als habe er meine Gedanken gelesen. „Die Geschichte hat ein Ende. Sie ist vorbei.“
„Dann kannst du jetzt aufhören zu schreiben.“
„Ich habe schon aufgehört. Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt!“
Die Tränen flossen nicht mehr. Er schloss seine Augen und kippte vorwärts aus dem Schreibtischstuhl.
Ich schrie auf und stürzte zu ihm. Ich rief seinen Namen. Wieder und wieder, während ich ihn wie ein Kind in meinen Armen wiegte.
Liebe gibt es nicht ohne Trauer.
Mein Mann war tot. Ich wusste es. Und er? Er hatte es schon vorher gewusst.
Es war ein Tumor. Laut Aussage der Ärzte war es erstaunlich, dass er überhaupt so lange hatte überleben können. Man sagte mir, es müsse etwas gegeben haben was Patrick so lange am Leben gehalten hat. Ich dachte an sein Buch. Als das Ende geschrieben worden war, als das Ende aller Worte erreicht war, erst da, hatte er sich seinem Schicksal ergeben. Da hatte ihn der Tod geholt.
Tage und Wochen vergingen. Der Sand der Zeit rieselte nicht einfach nur durch ein schmales Nadelöhr, sondern er rauschte durch die Finger meiner weit gespreizten Hand. Das Leben hatte seinen Sinn verloren. Die Trauer und der Schmerz übermannten mich. Es war wie ein tosendes Meer, dessen Wellen über mir zusammenschlugen. Ich erinnerte mich an den Tag am See. Da wollte ich nur hinein in das kühle Nass. Wollte, dass es sich über mir schloss und die Ruhe alles war, was um mich herum existierte.
Nach Patricks Tod war es ähnlich. Nur gab es keine Ruhe. Die Wellen rissen mich fort. Strömungen umfingen mich, zogen mich hinab in eine undurchdringliche Schwärze und trugen mich wieder hinauf, wo das Licht mit einem Mal so sehr blendete, dass ich nichts mehr sehen konnte.
Wenn man sich liebt, dann beginnt man weit mehr als nur das Bett miteinander zu teilen. Man übernimmt Eigenarten des Partners und weiß irgendwann, wie er denkt und was er denkt. Man ergänzt sich, teilt Launen und Gefühle. Wir teilten auch das, was er ein Geschenk nannte. Und er hatte mir wirklich ein Geschenk gemacht. Sogar zwei.
Als der Strom der Trauer mich einmal mehr mit sich fort riss und Hoffnung nur zu einem einfachen Wort wurde, von einem Schriftsteller erfunden, ohne Bedeutung und ohne Bezug zur Wirklichkeit, da nahm ich seine Geschichte und druckte sie aus.
Als ich zu lesen begann und alle Gefühle wieder in mir erwachten, nicht nur Angst und Trauer, da geschah es, dass ich mich schämte, mir selbst eine Frage in meinem Leben gestellt zu haben. Ich hatte mich zweimal gefragt, ob mein Mann verrückt gewesen war. Er war es nicht. Die Worte durchströmten mich. Mein Herz schlug laut und voller Kraft.
Die Wände verschwanden und um mich herum wuchs eine Landschaft heran, die so echt war, dass ich glaubte, eine Blume direkt von den weiten Wiesen pflücken zu können. Und ich konnte es auch. Alles war echt. Ich las weiter. Aus Worten wurden Farben und Formen. Das Leben steckte in diesen Zeilen. Es war sein Leben. Unser Leben. Ich weinte. Weinte vor Freude, denn er hatte mir das Geschenk gemacht, an das ich bis dahin nicht einmal geglaubt hatte. Ich war ein Geschichtenmaler. Viele Menschen können Bücher lesen, doch nur wenige können sie erleben. Ich erlebte, ja, ich lebte in einem Buch, dass mein geliebter Mann geschrieben hatte. Er stand wieder neben mir. Ich konnte ihn anfassen, ihn riechen und mit meiner Seele erfühlen. Deshalb hatte er geschrieben. Er hatte es gefühlt, dass er sterben musste und so spendete er seiner Geschichte alles an Leben, was er noch besessen hatte. Umso echter, umso wirklicher war all dies. Ich konnte ihn wieder lieben. Nicht nur in meiner Erinnerung und in dem Platz in meinem Herzen, an dem er immer leben würde, sondern ich konnte ihn wieder so lieben, wie es Verliebte im Leben taten. Wir drückten uns aneinander und nun erlebten wir all seine Abenteuer gemeinsam. Ich stand mit auf Deck und hielt Ausschau nach dem weißen Wal. Ich rette mit ihm die Kinder von Derry vor dem bösen Clown. Und zwischen allen Geschichten gab es auch unser Leben. Die Abende gemeinsam im Bett. Die Nächte, in denen wir eng umschlungen sogar unsere Träume teilten. Das Glück, das ich empfand, war nicht zu beschreiben. Man hatte mir die Chance gegeben, mein Dasein noch einmal zu leben. Nicht nur meins, sondern auch seines und somit selbst noch ein drittes, unser gemeinsames.
Aber das Ende der Geschichte kam irgendwann. Dort stand geschrieben, wie er mich anblickte, wie er weinte, wie er mir sagte, dass er mich liebte und wie er schließlich vornüber, ohne Leben, auf den Boden fiel. Mein Mann hatte den Tot für einige Zeit besiegt, um mir diese Geschichte zu schreiben. Ich war ihm so dankbar. Meine Liebe zu ihm hatte sämtliche Grenzen überschritten. Mein Herz war weit und groß und doch gefüllt.
Aber es musste nicht enden. Ich lachte. Lachte mir einfach alles von der Seele. Es gab keine Trauer mehr, sondern nur noch Frieden, denn er hatte mit mir die Gabe geteilt und so begann ich zu schreiben. Ich erzählte unsere Geschichte weiter, machte sie lebendig und erlebte sie selbst.
So sitze ich hier und schreibe alles auf. Ich spüre, wie mein Leben in die Worte fließt, die ich für die Ewigkeit hinterlasse. Ich spüre mit jedem Buchstaben, wie ein Stück von mir verschwindet, in eine andere Welt, in eine andere Form des Seins. Aber es macht mich nicht traurig. Ich will nicht mehr traurig sein. Ich will einfach lieben. Ich weiß noch nicht, wie der vorletzte Satz unserer Geschichte lauten wird, aber ich kenne den letzten Satz, das vielzitierte Ende aller Worte. Ich liebe dich, wird dort stehen. Endlos und wahrhaftig.