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Am Ende des Hungers
Ich wußte, nicht eine würde kommen. Sie standen alle unter ihrem Befehl, die meisten freiwillig, und die Streberinnen fügten sich der Dynamik des Klassentriebs. Vergeblich würde ich in einer Stunde an den Schließfächern der Lady-Diana-Memorial-Library auf meine Schülerinnen warten. Sie würden keinen Fuß in diese Institution setzen, nicht einmal, um beim übergangslos in die Bücherei integrierten Inder vom Lammcurry zu naschen, wie ich ihnen in meiner knappen und wirklich sehr freundlichen Ansprache empfohlen hatte. Meine für nach der Mittagspause angekündigte Führung durch diese einmalige Bibliothek würde ich mir sparen können.
Während ich nette Worte an meine Schutzbefohlenen richtete, hatten sie sich komplett von mir abgewandt und ihre Aufmerksamkeit ganz den Freizeitgestaltungsplänen ihrer Klassenkameradin Concordia Sturmanger-Heltau gewidmet. Sie konnte unmöglich einen besseren Vorschlag für die zweite Hälfte dieses Londoner Regentags vorgebracht haben, aber sie war nun mal die Anführerin und ich nur der Lehrer. Sie die unumstrittene, ich der überaus fragwürdige.
Als Zehntkläßlerin hatte es Concordia Sturmanger-Heltau bereits zur Schulsprecherin des Sophie-Scholl-Mädchengymnasiums gebracht und das nicht als harmlose pubertierende Wichtigtuerin. Wäre meine eigene Position nicht so prekär und unglaubwürdig gewesen, hätte ich schon längst mein Kollegium vor ihr gewarnt. Doch die Bedenken der Rektorin galten ausschließlich meiner Persönlichkeit und nicht dem kaum verhohlenen Herrschaftsanspruch dieses jungen Raubtiers mit dem eigenartigen Ruf- und Doppelnamen.
Ihre Wortwahl damals hätte mich vorsichtig machen sollen. Statt dessen leistete ich mir einen Fehltritt, den einzigen in ihrer Gegenwart und den fatalsten. Sie hatte nicht ihr übliches und häufiges „Ich geh mal pissen“ hingenuschelt, um dann für 2o Minuten einfach meinem Englischunterricht fernzubleiben, sondern viel zu höflich gefragt, ob sie mal kurz den „Restroom“ aufsuchen dürfe. Diese Vokabel hatten wir noch gar nicht durchgenommen und in welcher grausam suggestiven Tönung sie das Wort dahinflötete, ließ mich die Contenance verlieren: „Selbstverständlich, Darling, aber nur, wenn du dort im Spiegel nachschaust, ob deine Brustwarzen mehr zur braunen oder zur rosa Farbgebung tendieren.“ Ihre fast schwarzen Augen schleuderten Blitze nach mir und sie erwiderte mit der Sanftmut eines Todesengels: „Hätte ich bis heute nicht nachgesehen, bräuchte ich dafür trotzdem keinen Spiegel. Meine Brustwarzen sind braun und ihre Nippel werden zu Radiergummis, wenn ich jemanden ranlasse, der sie küssen darf, Sie armer, kranker, hungriger Mann.“
Diesen Erkenntnisgewinn bezahlte ich mit dem Rest meiner Würde, die sie nun gepfändet hat. Sie weidet sie sich an meiner Ohnmacht, die ihre Macht nur noch vergrößert. Ich weiß nicht, was genau sie der Rektorin erzählte, aber ich wurde tags darauf im vertraulichen Gespräch vor die Wahl gestellt, nach einem Disziplinarverfahren mit Sicherheit suspendiert zu werden oder aber schleunigst bei der Schulpsychologin vorstellig zu werden. In höchster Sorge um meinen für mich äußerst wichtigen Beamtenstatus entschied ich mich für die Visite bei unserer hauseigenen Narrenkundlerin, und da ich ahnte, daß mein zukünftiges Schicksal nicht in ihren, sondern allein in den Händen Concordia Sturmanger-Heltaus lag, erzählte ich ihr die Wahrheit über mich:
„Gnädigste, seien Sie ausnahmsweise einmal aufmerksam, denn Sie werden meine Geschichte nicht ein zweites Mal hören wollen. Seit meiner ersten Pollution habe ich Träume, für die ich mich schäme, und ich schäme mich sonst für gar nichts. Ich will Ihnen Details ersparen, aber seit dem Erwachen meines sexuellen Empfindens wird mein Schlummer Nacht für Nacht von Bildern der Schändung und des Mißbrauchs heimgesucht, und das, wo ich doch keinem Menschen etwas zuleide tun kann. Die Schuldgefühle sind auch nicht mein Problem, sondern daß mir die abartige Träumerei auf den Magen schlägt. Ich habe nicht mehr gefrühstückt, seit ich zwölf Jahre alt bin. Als Jugendlicher waren meine Träume in ihrer Widerwärtigkeit weniger intensiv als heute, deswegen war ich schon zum Mittagessen wieder nahrungsaufnahmefähig und meine Eltern haben kein Drama draus gemacht, daß ich mit leerem Bauch zur Schule ging. Doch inzwischen dauert es nach jedem Aufwachen 1o Stunden oder länger, bis ich etwas bei mir behalten kann außer Wasser mit Vitamin- oder Magnesiumbeigabe. Für einen traumlosen Schlaf habe ich mir sogar harten Stoff injiziert, aber mit einem Heroinstoffwechsel hatte ich natürlich morgens keinen Appetit und, was schlimmer war, die Droge erstickte meinen Eros, die einzige Kraft, die den Hunger überdeckt, die mich irgendwie am Leben hält und durch den Tag bringt, ohne daß ich komplett erstarre, wahnsinnig werde oder etwas Schlimmes anstelle. Außerdem wird man von Heroin süchtig und ich sollte als Pädagoge schließlich ein Vorbild sein. Ich konnte bisher in der Schule mein Magenknurren und dessen Ursachen verbergen, außer vor Concordia Sturmanger-Heltau, die mit ihren 16 Jahren eine bessere Psychologin ist, als Sie es je sein werden. Sie hat doch nur auf den Tag gewartet, an dem ich Schwäche zeige und ihr ins offene Messer laufe. Ich war nämlich der einzige, der sich nicht ihrer Kontrolle unterworfen hat, der letzte freie Mensch am Sophie-Scholl-Mädchengymnasium. Jetzt hat sie mich im Würgegriff und ihre Rache für meinen Widerstand wird fürchterlich sein. Bei allem Respekt, ich denke nicht, daß Sie mir irgendwie helfen können.“
Während meines Monologs war das professionell verständnisvolle Lächeln aus dem Gesicht der Schulpsychologin verschwunden: „Sie sind verrückt, und das habe ich noch nie einem Patienten gesagt. Die Rektorin brachte ein völlig verstörtes und in Tränen aufgelöstes Mädchen zu mir. Sie hätten niemals Lehrer werden dürfen und ich werde dafür sorgen, daß Sie es bald nicht mehr sind.“
Am nächsten Morgen vor Unterrichtsbeginn paßte mich die Schulleiterin im Lehrerzimmer ab und zog mich in ihren Besprechungsraum. Sie wirkte ausgesprochen erleichtert: „Concordia hat sich für Sie eingesetzt. Vielleicht hat das gute Mädchen da auch etwas von Ihnen ein bißchen falsch verstanden. Sie hofft, daß Sie ihr nicht böse sind und hat Sie sogar als betreuende Lehrkraft für die Klassenfahrt nach London vorgeschlagen. Auch die Schulpsychologin gibt ihr Einverständnis, nachdem sie noch einmal mit Concordia gesprochen hat. Möchten Sie einen Keks?“ „Nein, danke“, krächzte ich.
Was hätte ich gegen die Listen der erbarmungslosen Amazone ausrichten sollen? Ich mußte mich fügen und stand nun im Nieselregen, sah meinen lieben Mädels nach, die sich von Concordia Sturmanger-Heltau ich weiß nicht in welche Katastrophe führen ließen. Um ihre Strafe an mir zu vollziehen, würde sie vor keiner Untat zurückschrecken.
Im Grunde gab es für mich nichts mehr zu entscheiden, also betrat ich alleine die Bücherei. Die Lady-Diana-Memorial-Library hatte für jeden ruhelosen Geist ein Angebot. Neben dem bereits erwähnten Inder fügten sich ein Pub, eine Sauna, ein Fitneßstudio, ein Friseursalon und viele andere Dienstleister nahtlos in das Gesamtensemble. Zwischen Lesesesseln wurde Boule gespielt und ein Änderungsschneider nahm in der Krimiabteilung Maß.
Was mich jedoch wirkungsvoller faszinierte, war eine hervorragend präsentierte Schreibmaschinenmesse. Modelle mit Schönschreiblettern, ein japanisches Unikat mit 1.945 Tasten, Maschinen mit Aufziehkurbel, auf denen sich kraftsparend tippen ließ, diese und etliche mehr wurden von einer reizenden Vertreterin erklärt und vorgeführt. Was diese an ihrem Körper trug, beschwor in mir die Vorstellung einer Stewardeß in höheren Angelegenheiten. Pumps mit Absätzen wie Dolche, ein Minirock von illegaler Kürze, ein Jackett in Edelblau über einer eierschalfarbenen Bluse und dazu noch ein windschnittiges Käppi auf ihren schwarzen Locken ließen auf einen beispiellosen Diensteifer schließen. An ihrem Revers prangte ein Schild mit ihrem Vornamen. Ich fachsimpelte mit Jolyn eine ganze Weile, um sie dann von einem zeitnah beabsichtigten Laptopkauf zu unterrichten. Sie zischte vor Wut, fing sich wieder und nickte nur noch verzerrt grinsend mit dem Kopf, wie man es bei Querulanten zu tun pflegt, gegen die sich handgreifliche Gegenwehr leider nicht geziemt.
Nach diesem vielversprechenden Flirt stand mir der Sinn nach einer Erfrischung. Ich schlenderte um ein paar Ecken und gelangte schließlich in den Vorraum der Büchereidusche. Nachdem ich mich entblättert hatte, öffnete ich eine Tür, auf der ein Piktogramm mit Zöpfen abgebildet war. Sofort hob ein wüstes Gezeter an, doch ich setzte eine besorgte Miene auf und behauptete, meine behinderte Tochter unter keinen Umständen allein lassen zu dürfen. Zum Glück befand sich tatsächlich unter dem Dutzend keifender Weiber auch eine junge Anmut, die in aller Seelenruhe ihre braunen Haare schamponierte. Die Damen schienen mir fürs erste zu glauben und wandten mir grummelnd ihre Hinterbacken zu, alle, bis auf das Mädchen. Für ihr Alter – ich schätzte sie auf zwölf – war sie von eher kleinem, aber muskulösem Wuchs. Ansätze von Brüsten minderten etwas den Eindruck von Knabenhaftigkeit und über ihrer noch kindlich klar strukturierten Scham sproß ein zarter Flaum, heller als ihr glattes Haupthaar. Die Ähnlichkeit mit Concordia Sturmanger-Heltau war beklemmend, doch in den dunklen Augen der Nackten loderte nicht das Feuer fiebrigen Hochmuts. Vielmehr strahlte aus ihnen eine entwaffnende Neugierde, mit der sie ohne eine Spur von Argwohn oder Verständnislosigkeit abwechselnd mein Gesicht und meinen Maschinenraum musterte. Mein Blut geriet in Wallung und ich ließ die Hoffnung für dieses Mal im künstlichen Regenschauer zurück.
Ein eigenartiges Hochgefühl hatte plötzlich von mir Besitz ergriffen. Ich war zu einem noch tollkühneren Anschlag bereit. Nachdem ich mich mit einem roten, nach Frau duftenden Badetuch abgerieben hatte, stieg ich ungeduldig in meine Kleider und tigerte zurück zur Schreibmaschinenausstellung. Die schöne Jolyn saß vor einer vorsintflutlichen Reiseschreibmaschine und klapperte sichtlich genervt auf den Perlmuttasten herum. Lautlos schlich ich von hinten an sie heran und drückte ihr meine zuckende Unterleibsschwellung ins Genick. Das Klappern hörte auf. Männer werden attraktiv, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben. Zumindest für Jolyn. Wortlos erhob sie sich, rauschte an mir vorbei und verschwand im Labyrinth der Bücherregale. Ich fand sie, weil sie wollte, daß ich sie fand. In einer abgelegenen Nische ging sie vor mir auf die Knie und brannte ihre Mandeln an meinem heißen Zuckerhut, der ungewöhnlich rasch karamelisierte. Denn ich mußte an die Kleine aus der Dusche denken, was meine Ekstase überpünktlich zum Überschwappen brachte, jedoch auf eine Art, die eigentlich mein Herz mehr erregte als meine Leibesmitte. Vor Überraschung quetschte ihre linke Hand meine Schulglocken, während sich der Zeigefinger ihrer rechten noch tiefer in hintergründige Stollen bohrte. Mir entfuhr ein Grunzen und die Kniende schluckte artig den Nektar meiner Seele, nicht gerade gierig, sondern wohl eher mit der pragmatischen Erwägung, ihre Dienstbluse unbefleckt zu wissen. Danach sah Jolyn ihr Tagwerk als erfüllt an und nahm mich mit zu ihr nachhause. Sie kredenzte mir Fish & Chips und ich konnte tatsächlich davon kosten, denn es war spät geworden. Nach dem Dinner zerrte sie mich auf die Matratze und ritt mich zuschanden.
Irgendwann fiel ich in tiefe Bewußtlosigkeit, die in einen Schlaf überging, der auch diesmal nicht von Traumsequenzen verschont blieb, in denen sich ein etwas ausgezehrt wirkender Englischlehrer an einer wehrlosen, wimmernden Concordia Sturmanger-Heltau vergeht. Als sich meine Augen endlich öffneten, war mir übel und meine Bettgenossin längst aus den Federn und am Herd. Ein gesunder Mensch hätte sich sicher auch mit einem English Breakfast arrangiert, aber wie die Dinge bei mir lagen, mußte Jolyn alleine mit ihren deftigen Schmankerln zu Rande kommen. Es tat mir aufrichtig leid um den verdorbenen Abschied.
Für mich führt kein Weg nach Deutschland zurück. Auch in London bin ich vor Concordia Sturmanger-Heltau nicht sicher, aber hier biete ich ihr weniger Angriffsfläche. Da ich inzwischen überhaupt kein Essen mehr vertrage, sind meine Ausgaben niedrig, sie wird nicht so einfach meine oft wechselnden Verstecke entdecken und ich bin keiner mehr, den sie noch weiter ruinieren könnte. Und die Gnadenlose weiß nichts von meinem still gedeihenden Glück in Schuluniform. Diesmal war ich vorsichtig genug und wollte nur das Nötigste herausfinden. Die Kleine verschwindet dreimal pro Woche in der Lady-Diana-Memorial-Library und kommt mit frisch gewaschenen Haaren wieder heraus.
Wenn sie ungefähr so alt ist wie Concordia Sturmanger-Heltau zur Zeit der Klassenfahrt, werde ich noch einmal zu ihr in die Damendusche gehen. Weil ihr ganz und gar gutes Wesen Schutz gewährt vor meinen nächtlichen Gespinsten, wird sie keinen Augenblick an mir zweifeln, sondern einfach meine Hand nehmen und mich aus dem Grab meiner Gegenwart emporziehen. In einem teuren Hotelzimmer wird sie das lang Gehütete preisgeben. Doch es wird ihr unermeßliche Lust verschaffen, ihren Namen zu offenbaren und aus freien Stücken ihre Magdschaft zu opfern, um einen Menschen zu retten. Wenn wir uns oft genug ineinander umarmt haben, weine ich ein wenig vor Freude und schlafe neben ihr ein, meine Lenden an ihrem Po, eine Hand auf ihrem Bauch, und ich werde träumen von grünen Hügelketten, von einsamen Stränden und vom Meer. Wir wachen gemeinsam auf, verschmelzen wieder zu einem Paar ohne Makel und gehen frühstücken. Dann fliehen wir aus der Stadt in wärmere Länder und ein neues Leben beginnt, in dem das alte nichts mehr ist als ein böser Traum, der sich vom Sonnenschein gestellt in die Leere zurückzieht, um von dort niemals wiederzukehren. Ich werde die Jahre ohne Frühstück, Mittag-, Abendessen durchstehen, dann dämmert mir eines Morgens der Tag der Befreiung und am Ende des Hungers Liebe.