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Am Fenster
Ich habe nur noch drei Tage. Ein weißes, kaltes Zimmer. Die Minuten sind gezählt. Das Licht schimmert nur schwach durch das Fenster und ein leichter Windhauch lässt die Gardine tanzen.
Ich erinnere mich noch daran, wann es passierte. Ich war klein: ein kleiner Bub von gerade mal fünf Jahren. Auf einmal stand meine Mutter vor mir. Ihr Gesicht war blass - wie eine Leiche -, steif und unberührt stand sie da und sah mich an. Ich versteckte mich unter der Heizung, welche genau vor dem großen Terassenfenster stand. Sekunden vergingen, bevor meine Mutter ihren Kopf zu mir drehte und ich ihre toten Augen und ihr ausdrucksloses Gesicht wieder zu sehen bekam. Momente vergingen, danach folgten Minuten. Endlich kam meine Schwester nach Hause. Doch sie sah genauso blass aus wie meine Mutter. Blass, steif und ausdruckslos. Ich hielt meinen Atem an als sie sich an den Küchentisch setzte. Ich verfolgte ihre steifen Bewegungen mit meinen Augen, nicht im Stande auszuatmen. So saß sie da; meine Mutter am anderen Tischende stehend und sie anstarrend. Sie schauten sich an, schwiegen. Die Sekunden zogen sich zu Minuten in die Länge. Plötzlich öffnete sich die Terassentür. Das Quietschen der Scharniere war mir ein bekannter Klang. Ich drehte mich von der Seite auf den Rücken und schaute die Decke an. Zwei Arme traten in das Bild. Sie waren ausgestreckt und parallel nebeneinander. In ihren Händen hielten sie einen Ziegelstein. Das ist das letzte was ich sah, bevor mir Schwarz vor Augen wurde.
Seit diesem Tag nehme ich die Welt anders wahr. Meine Mutter behandelt mich wie ein Kind, meine Schwester redet überhaupt nicht mehr mit mir. »Nein Mutter, ich will das nicht essen. Ich esse doch kein Haferschleim, wer bin ich denn? Ich bin 22 Jahre alt!«, doch die Worte prallen von meiner Mutter ab. Wie immer. Langsam gebe ich auf.
Ich liebe den Sonnenschein am Morgen, der meine Nase kitzelt. Auch liebe ich die morgendliche Begrüßung meines Hundes. Er ist ein kleines und verspieltes Wesen. Jeden Morgen leckt er mir durchs Gesicht und lässt sich auch nicht von mir davon abbringen. Ich würde gerne wieder mit ihm durch die Wälder streifen, doch ich komme so selten dazu.
Die Wochenenden sind am schlimmsten. Ich habe keine Freundin oder Freunde mit denen ich mir die Zeit vertreiben könnte. Nur mein Hund ist für mich da. Manchmal liege ich am Fenster und er stellt sich auf meine Brust und bellt mich stundenlang an. Letzten Samstag hat er mir sogar in die Nase gebissen, dieser blöde Hund! Mama kommt meistens erst abends gegen 20 Uhr vorbei und kümmert sich stets vorbildlich um mich. Sie streichelt mir immer sanft über den Kopf und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Die Beule ist schon vor Jahren abgeklungen, aber Mutter scheint diesen Vorfall nicht vergessen zu wollen oder zu können. Samstags bringt sie mir immer eine Bratwurst vom Imbissstand um die Ecke mit. Sie ist meistens noch recht heiß, wenn ich sie esse. Oft verbrenne ich mich sogar daran. »Der Euro macht alles teurer! 1,50 € verlangt der Willi sogar schon für die Bratwurst!« Mama schimpft meist sehr viel über den Euro oder über Willi. Aber das ist okay, ich habe gelernt sie zu überhören. So schnell wie sie gekommen ist, geht sie auch wieder. Montag schaut sie wieder vorbei. Jule dagegen nehme ich nur noch als Schatten wahr. Meistens läuft sie einfach so in der Wohnung umher, knallt die Türen und brüllt herum. Wenn Mama nicht da ist, dreht sie sogar die Musik so laut auf, dass sich die Nachbarn beschweren. Sie kommt dann immer vorbei und fragt mich: »Na Bruderherz? Magst du die Musik? Oder ist dir das zu laut?« - »Ja! Ja, verdammt! Dreh die Musik endlich leiser!«, brülle ich sie an. Aber sie fängt nur an zu lächeln und steichelt mir dann kurz über den Arm und verschwindet wieder. Sie ist oft weg. Oft mit ihrem neue Freund Alex. Sie lässt dann die Musik an und knallt die Tür hinter sich zu und verschwindet im Treppenhaus. Ich weiß nicht warum ich mir das immer gefallen lasse. Aber andererseits liebe ich sie auch. Es ist meine Familie und alles was ich habe.
Ich habe nicht mehr viel Zeit. Nur noch zwei Tage. Der Regen ist eine schöne Abwechslung zu der Heavy Metal Musik, der mich meine Schwester immer aussetzt. Dieses harmonische Prasseln lässt mich ermüden. Jule ist die ganze Zeit in ihrem Zimmer. Ab und an huscht ihr Schatten über den Flur, den ich in meinen Augenwinkeln wahrnehme. Ich habe heute keine Lust mit ihr zu sprechen. Ich lausche lieber dem prasselnden Trauerspiel an meinem Fenster. Morgen kommt Mutti endlich wieder. Bis dahin schläft mein Hund auf mir und sein leises Jaulen wiegt mich in den Schlaf.
Es ist Montag. Morgen ist es endlich soweit. Mama ist wieder da. Wie immer streichelt sie mir über den Kopf und küsst mir auf die Stirn. »Mama, das ist mir peinlich, hör auf damit!«, bitte ich sie und schaue tief in ihre Augen. »Ach ich weiß dass du das nicht magst, mein Sohn. Aber ich bin deine Mutter. Wenn du mich schon nicht umarmst, dann lass mir wenigstens diese Neckigkeit.« - »Na gut«, denke ich. Nur noch ein Mal, dann bin ich hier sowieso weg.
»Was hast du heute schönes vor?«, fragt mich meine Mutter. »Wollen wir heute Abend einen Film zusammen schauen? Die neue Videothek um die Ecke hat ein ganz passables Angebot. Ich war letzte Woche kurz da und hab mich mal umgeschaut. Was hälst du von diesem Film mit Johnny Depp, hast du den schon gesehen?« Ihre Augen sind braun und lassen mich an frühe Kindheitstage erinnern. Ich muss um die fünf Jahre alt gewesen sein. Ich hatte damals noch nicht diese große Beule auf dem Kopf, die ich ein halbes Jahr mit mir herum trug. Es war ein herrlicher Sommer. »Nein«, gebe ich ihr zu verstehen und schüttele meinen Kopf. »Den kenne ich noch nicht. Wo ist eigentlich Jule?«, frage ich sie. »Mhm. Seltsam, sonst ist Jule doch nie so unzuverlässig. Hast du übrigens ihren neuen Freund Alex kennengelernt? Ein sehr netter Typ, oder?«, fragt sie mich. »Mhm, Alex.«
Ich kann Alex nicht ausstehen. Er ist ein dummer Spacken, der mich ebenfalls wie ein Kind behandelt. Erst letztens kam er vorbei und fragte mich: »Na? Sind wir denn schon ein großer Junge? Nun mach mal Happa! Happa! und iss brav auf, sonst muss ich die Jule holen!« Ich hätte ihm am liebsten den Haferschleim ins Gesicht geschmissen. »Dein Happa! Happa! kannst du dir sonst wo hin stecken.« Danach sah er ziemlich beleidigt aus und verschwand in Jules Zimmer.
»Ja, geht.«, antworte ich Mutter. »Wechsel das Thema.« - »Mhm, na ja. Soll ich dir was kochen?« Kochen? Ja, ja! Bitte! Ich kann diesen Haferschleim nicht mehr sehen! »Was denn? Kartoffelbrei? Nudeln? Reis?« - »Nudeln«, antworte ich ihr.
Den Rest des Tages schaue ich Fernsehen. »So Schatz«, erklingt es aus der Küche. «Ich gehe eben zur Videothek. Ach ja, denk daran: morgen kommt der Handwerker und repariert dein Fenster. Wir müssen also nachher etwas aufräumen», sagt sie und verschwindet aus der Wohnung. Ich nehme ihre Worte kaum wahr, da ich meinen Plan wieder und immer wieder durchgehe. Handwerker – Fenster – Scheibe. Wieder und immer wieder bis Mama wieder Heim kommt. Sie macht heute sogar extra Popkorn. Zusammen schauen wir uns den Film an bis ich am Ende einschlafe.
Endlich ist es soweit. Mama hat tatsächlich noch aufgeräumt als ich gestern schon eingeschlafen bin. Der Handwerker ist sogar schon da! Er ist in der Küche und plaudert anscheinend mit meiner Mutter. Seit Vater sie verlassen hat, ist sie manchmal sehr einsam. Sie freut sich über jeden sozialen Kontakt den sie hat. Sie hat sogar Kaffee gemacht, es ist Vaters Lieblingsmarke. Ich greife die Gelegenheit beim Schopf und ziehe mein Bett mit meinem rechten Arm zum Fenster herüber. Das Bett, welches mich seit über siebzehn Jahren gefangen hält. Jule meint ständig: »Es ist besser für einen Krüppel wie dich, wenn du dich aus dem Fenster schmeißen würdest.«
»Was ist mit ihrem Sohn, wenn ich das fragen darf?«, fragte der Handwerker die Frau Meyer. Er war an dem heutigen Tag zu ihr gestoßen um eine kaputte Fensterscheibe bei ihr auszuwechseln, die von ihrer Tochter zerbrochen wurde. »Ach wissen Sie: Als Stephan noch klein war hat es einen schrecklichen Unfall gegeben. Mein Sohn hat sich unter der Heizung im Wohnzimmer versteckt, welche direkt an der Terassentür endet. Meine Tochter Jule und ich waren damals beim Kosmetiker. Stephan war total verschreckt als er unsere Gesichtsmasken erblickte, also ließen wir ihn unter der Heizung liegen. Dies war sein Lieblingsversteck, wenn er sich vor etwas fürchtete oder wenn er einfach nur allein sein wollte. Mein Mann kam mit einer Lieferung Ziegelsteine nach Hause. Er ist Maurer und wollte für unser Haus eigens einen Kamin bauen. Leider stolperte er beim Eintreten über die Schiene und ein Ziegelstein fiel direkt auf Stephans Kopf. Er war nicht mehr ansprechbar und sein Kopf blutete wie verrückt. Wir fuhren sofort ins Krankenhaus und ... Nun ja. Er hat sich nie mehr von diesem Unfall erholen können. Er kann seinen rechten Arm eingeschränkt bewegen, ist aber sonst von Hals abwärts gelähmt. Es ist ein Wunder, dass er seinen Arm noch bewegen kann. Nur leider hat er seit diesem Unfall nie mehr ein Wort gesprochen, obwohl aus organischer Sicht kein Schaden vorliegt, meinten die Ärzte. Er ist seitdem bettlägrig und braucht meine ständige Pflege. Wochenends muss ich jedoch arbeiten und meine Tochter kümmert sich derweil um ihn. Mein Mann hat sich von diesem Unfall leider auch nie erholen können. Nach diesem Vorfall sind wir von einer Wohnung in die nächste gezogen, doch der Umgang mit Stephan fiel ihm sehr schwer. Letzten Endes haben wir uns scheiden lassen, er konnte einfach nicht mehr mit Stephan zusammenleben, er hat sich diesen Unfall nie verzeihen können. Nun denn. Wie weit sind sie denn jetzt mit dem Fenster? Darf ich ihnen noch etwas Kaffee einschenken?«, fragte Frau Meyer den Handwerker. »Oh nein, vielen Dank Frau Meyer. Das Fenster ist derweil offen, ich musste es ganz aushängen. Ich werde gleich die neue Scheibe einsetzen und es wieder einhängen. Das sollte kein Problem sein.« - »Oh, das ist ja wunderbar. Wissen Sie«, sagte Frau Meyer, doch ihre Worte wurden durch einen dumpfen Schlag und einem entsetzlichen Schrei unterbrochen. Sofort lief Frau Meyer in Stephans Zimmer um der Ursache nach dem Schrei nachzugehen. Doch sie blieb noch im Türrahmen stehen und erblickte ein schreckliches Bild: Direkt unter dem Fenster stand Stephans leeres Bett. Von Stephan selbst fehlte jede Spur.