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Am Fenster

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03.10.2018
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Am Fenster

Paul saß am Fenster. Er konnte die Straße einsehen, die vor dem Haus die Innenstadt mit dem Bahnhof verband. Auf der anderen Straßenseite war der Metzger, der immer frisch schlachtete, und der Bäcker mit den feinen Bretzel, die ihn an gefaltete Arme erinnerten, und dem Streuselkuchen. Weiter rechts war noch der Spielplatz, auf dem sich die Kinder der Nachbarschaft tummelten, und die Ampel an der Kreuzung.

Wenn der Bus Paul nach der Schule nach Hause brachte, war der Platz am Fenster sein Lieblingsplatz. Natürlich hatte die Wohnung auch andere Fenster, aber von denen aus konnte man nur die Hintergärten der anderen Häuser der Siedlung sehen.

Manchmal zählte er Autos, die vorbei fuhren. Mal waren es blaue, dann rote Autos, mal die, die in die Stadt fuhren, dann die, die zum Bahnhof wollten. Manchmal zählte er Fußgänger oder Radfahrer. Dies tat er nach Lust und Laune. Und es wurde ihm nicht langweilig, weil auf der Straße, vor den Geschäften und dem Spielplatz immer was los war, was betrachtenswert war. Gegen Abend beruhigte sich das Leben auf der Straße und Paul musste ins Bett.

Seit gut einem Jahr war der Platz am Fenster für ihn vorgesehen und er betrachtete den Lauf der Jahreszeiten, wie die Bäume Blätter bekamen und der Schnee fiel.

Manchmal passierte auch ein Unfall, wenn die Ampel nicht beachtet wurde und Autos ineinander fuhren. Meistens passierte aber nichts, außer Blechschäden. Sein Vater, der als Fernfahrer häufiger unterwegs war, sagte, dass man das mit Geld regeln können und zum Glück nichts weiter geschehen wäre. Das läge an den sicheren Autos. Aber lange konnte sein Vater einen solchen Unfall nicht durchs Fenster ansehen und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen.

Einmal war aber mehr los, im letzten Sommer, an der Ampel an der Kreuzung. Er sah, wie ein Laster beim Abbiegen das Kind auf dem Fahrrad übersah. Das Kind war aus der Siedlung und auf dem Rückweg vom Bäcker. Er hörte die Sirenen und sah den geschockten Fahrer, der sich an seinem Wagen festhalten musste, er hörte die aufgeregte Menge, die sich ansammelte und sah das Blut.

Später hörte Paul, dass das Kind nicht mehr gehen könne.

Paul saß am Fenster. Auf dem Spielplatz spielten Kinder bis zum Abend Fußball. Er dachte, morgen schaue ich wieder hinaus. Blöd nur, dass man im Rollstuhl nicht mitspielen kann.

 

Hi, @Jon Antilles

Und willkommen hier!

Deine kleine Geschichte hat einen schönen (na ja, ob das jetzt so „schön“ ist) Twist. Das gefällt mir, denn Du schreibst nicht zu geradlinig, und am Ende bin ich doch irgendwie überrascht. Und für die kleinen Überraschungen leben wir ja, nicht wahr? Und wenn man die Geschichte ein zweites Mal liest, entdeckt man viele hervorragend eingestreute Feinheiten.

Nun muss ich aber auch sagen: Zuerst habe ich überlegt, ob ich anmerken soll, dass ja nun wirklich wenig passiert. Aber da die Geschichte so kurz ist, ist das okay. Nein, es ist sogar gut, schließlich ist sie mit vielen feinen Details angereichert. Trotzdem habe ich mich am Anfang leider sehr gelangweilt (und das auf so kurzer Strecke hinzukriegen, ist schon eher ein Kunststück). Ich glaube, das liegt an der Satzstruktur.

Er konnte die Straße einsehen, die vor dem Haus die Innenstadt mit dem Bahnhof verband. Auf der anderen Straßenseite war der Metzger, der immer frisch schlachtete, und der Bäcker mit den feinen Bretzel, die ihn an gefaltete Arme erinnerten, und dem Streuselkuchen. Weiter rechts war noch der Spielplatz, auf dem sich die Kinder der Nachbarschaft tummelten, und die Ampel an der Kreuzung.

Drei Sätze, in denen ich vier Relativsätze finde. Daran sehe ich zwei Probleme:

1) Es klingt ziemlich eintönig. Der Metzger, der …, und die Brezeln, die … Und so weiter. Eine Geschichte ist nicht nur spannend, wenn ihr Inhalt spannend ist. Beziehungsweise, ein inhaltlicher Spannungsbogen reicht dafür nicht unbedingt aus. Was Du außerdem tun müsstest, wäre, den Satzbau und die Satzlängen zu variieren, Deine Sätze unterschiedlich aufzubauen. Im Idealfall ist eine Geschichte so gestaltet, dass ich Lust habe, sie laut zu lesen. Hier habe auch Lust, sie laut zu lesen, aber nur, um Dir die Abgehacktheit der immer gleichen Formulierungen vorzuführen.

2) Der Inhalt der Relativsätze stört mich auch. Ein Metzger, der immer frisch schlachtet? Echt. Warum ist das wichtig zu wissen? Gibt es auch Metzger, die unfrisch schlachten? Und eine Straße, die die Innenstadt mit dem Bahnhof verbindet? Wäre es nicht viel knackiger und leichter zugänglich zu schreiben, es sei eine vielbefahrene Straße? Auf dem Spielplatz spielen die Kinder aus der Nachbarschaft – welche Überraschung! Zu mir sagte hier auch mal eine Kommentatorin, dass in meinen Geschichten fast jeder Relativsatz ausschließlich unnötige Informationen enthält, die man anders knackiger, leichter zugänglich verpacken kann oder die man überhaupt nicht braucht (= unnötig). Das gleiche würde ich hier auch fast jedem Relativsatz zusprechen.

Genug zum ersten Absatz. Der zweite Absatz hat mich dann direkt verwirrt:

Wenn der Bus Paul nach der Schule nach Hause brachte, war der Platz am Fenster sein Lieblingsplatz. Natürlich hatte die Wohnung auch andere Fenster, aber von denen aus konnte man nur die Hintergärten der anderen Häuser der Siedlung sehen.

Beim ersten Satz wollte ich rufen: Der Platz am Fenster? Ein größerer Schulbus hat etwa vierzig Fensterplätze. Und natürlich will jede/r am Fenster sitzen. Was soll diese Info? Welchen Platz von den vierzig meinst Du genau? Und dann … Was haben die Fenster der Wohnung damit zu tun? Ich verstehe also erst beim zweiten Lesen: Nach der Schule saß Paul am liebsten am Fenster. Mit dem Bus hat das nichts zu tun. Und warum „der Fensterplatz“ sein Lieblingsplatz ist, dann aber ins Spiel kommt, dass es noch weitere Fenster, also auch mehrere Fensterplätze gibt … Hui. Ich würde den gesamten zweiten Absatz umschreiben, und zwar so:

Nach der Schule saß Paul am liebsten am Fenster zur Straße. Natürlich hatte die Wohnung auch andere Fenster, aber von denen aus konnte man nur die Hintergärten sehen. [Wozu die Hintergärten gehören, ist auch egal. Ich meine, dass sie zu irgendwelchen Häusern gehören und dass die Häuser sich wohl kaum in einer weit entfernten Siedlung befinden, das ist alles klar, das musst Du nicht extra sagen.]

So wäre es sehr viel knackiger und deutlich weniger verwirrend mit Bussen und Fenstern und anderen Fenstern und mehreren Fensterplätzen. Eigentlich ist es ja ganz einfach. Also bitte ich Dich, es weniger kompliziert auszudrücken. Du schreibst schließlich keine aufgeblasene Hausarbeit, mit der Du Deine Dozent/inn/en beeindrucken und durch überladene, lange Sätze verschleiern willst, dass der Inhalt eigentlich echt trivial ist, sondern einen literarischen Text, den Deine Leser/innen gerne lesen wollen sollen. ;)

Er sah, wie ein Laster beim Abbiegen das Kind auf dem Fahrrad übersah.

Das „wie“ ist hier halbwegs fehl am Platze, schließlich geht es ja nicht um die Art und Weise, auf die der Lastwagenfahrer das Kind übersieht, sondern darum, dass er das Kind übersieht.

Er hörte die Sirenen und sah den geschockten Fahrer, der sich an seinem Wagen festhalten musste, er hörte die aufgeregte Menge, die sich ansammelte und sah das Blut.

Hier tummeln sich wieder zwei Relativsätze. Wenigstens den zweiten „die sich ansammelte“ würde ich streichen. Das ist ja völlig klar, dass die Menge erst nach dem Unfall dort angekommen ist, aber für das aufgeregte Gemurmel, das Paul hört, macht das nun wirklich keinen Unterschied, wann genau die sich da gesammelt haben. Außerdem hängt sich dadurch das "und sah das Blut" so hässlich an, genauso wie oben schon "und dem Streuselkuchen". Da stolpere ich einfach beim Lesen so durch. Ich würde empfehlen, dass Du Deine Texte laut liest, dann fallen solche Stolpersteine leichter auf.

Blöd nur, dass man im Rollstuhl nicht mitspielen kann.

Das ist wirklich herzzerreißend. :cry: Kurz habe ich überlegt, ob Paul das Kind auf dem Fahrrad war, aber das kann ja nicht sein, denn da steht ja ausdrücklich, dass er es vom Fenster aus beobachtet. Außer das ist so eine außerkörperliche Erfahrung, inklusive Rückblick. Und ich vermute eher, das ist so ein indirektes Wiedererleben, ein Beobachten davon, wie sich die Ereignisse wiederholen. Offenbar ist das da eine wirklich gefährliche Kreuzung.

Aber lange konnte sein Vater einen solchen Unfall nicht durchs Fenster ansehen und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen.

Auch das finde ich wirklich gut gemacht, wie der Vater die Tränen vor dem Kind verbirgt, und es gelingt ihm sogar. Er ist bestimmt sehr mitgenommen davon, was seinem Sohn passiert ist, und oh, vielleicht war er’s sogar selbst, der Paul angefahren hat, denn er fährt ja auch LKW. Krass! Also, diese Subtilitäten bringst Du wirklich extrem gut unter. Good job! Du verfügst über Feingefühl, das ist super. :thumbsup:

Ich würde sagen, damit es eine wirklich sehr feine Geschichte wird: Schau Dir nochmal genau an, welche Dinge, vor allem in Nebensätzen, Du wirklich brauchst. Gerade am Anfang solltest Du die Sätze stärker variieren, weniger auf Relativsätze setzen, sodass es sich abwechslungsreicher liest. Das wird später im Text besser, also bin ich sicher, dass Du das schon kannst. Du musst es nur tun. Make it work!

Und viel Spaß hier im Forum.

Herzzerreißende Grüße,
Maria

 

Hallo @Jon Antilles ,

Glückwunsch! Du kriegst ja schnell Aufmerksamkeit im Forum. Und nicht zu Unrecht. Schön geschrieben und mMn eine echte Flash Fiction.
Anders als Maria ahnte ich sofort, dass der Junge am Fenster einen besonderen Grund hat, dem Leben anderer zuzuschauen statt selber teilzunehmen. Ich tippte aber eher auf Krankheit, Kinderlähmung oder so. Welches gesunde Kind würde ohne Not seine Zeit am Fenster zubringen?
Der Hinweis auf den sensiblen Vater als Fernfahrer zeigte mir schon, dass ein Unfall in dieser Familie eine tragische Rolle spielt. Keine Mutter weit und breit.
Gespannt war ich auch, ob ein Zusammenhang mit dem beobachteten Unfall besteht. Ich finde, du hast das gut gelöst. Der Leser darf sich einiges dazudenken.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Jon Antilles und ein ganz herzliches Willkommen, schöne kleine Geschichte hast du dir da ausgedacht.
Gefällt mir wirklich gut. Klar, was dran machen kann man immer, aber so einen wirklich richtig fetten Klopper, der mich leserisch aus der Bahn geworfen hätte, habe ich nicht gefunden.

Mir gefällt das Auf und deiner Sätze, die kleinen Beobachtungen, die du eingestreut hast. Es entsteht eigentlich von ganz allein das Bild eines Jungen, der krank ist, nicht mehr laufen kann, der an das Zimmer gefesselt ist. Die Erwähnung des Vaters, der keinen Unfall sehen kann, zeigt dem Leser, dass sein Sohn durch einen Unfall leiden muss. Der Vater würde nicht so reagieren, wäre Pauls Zustand nur vorübergehend. Das alles bahnst du an und führst den Leser geschickt heran. Man spürt und weiß, dass der Junge krank, gelähmt, ist und dass ein Unfall dabei die Ursache war. UNnd dann kommt der Satz, den ich echt blöd fand.

Paul saß am Fenster. Auf dem Spielplatz spielten Kinder bis zum Abend Fußball. Er dachte, morgen schaue ich wieder hinaus. Blöd nur, dass man im Rollstuhl nicht mitspielen kann.
Ich hab ihn markiert. Erst machst du alles fein und sensibel und geschickt und dann kommt dieser Kloppersatz. Ich komm mir da vor, als wäre ich als Leser zu blöd zu kapieren, dass der Bub wohl im Rollstuhl sitzen wird. Das ist viel zu vordergründig, sehr mit der Nas reingestupst. Echt schade.
Ich weiß nicht, wie der Text wirken (und ob er das bei allen tun) würde, ließest du den Satz weg. Vielleicht kannst du ihn ersetzen. Aber so jedenfalls wirkt er wie eine pointenmäßige Auflösung, so nach dem Motto, habt ihrs immer noch nicht gerafft. Würde ich nicht machen, die leise Beunruhigung oder Unsicherheit, was mit diesem Vater, mit dem Jungen ist, die Schwebe, die du so schön aufgebaut hast, die machst du durch den Satz jedenfalls gründlich kaputt.

Ansonsten ... bis zum allerletzten Satz wirklich wirklich gerne gelesen.
Bis dann
Ach ja und ein Edit schicke ich hinterher. Die wieselmaus hats schon gesagt. Das ist ein schöner Flash Fiction Text.
Gerne würde ich den Text dorthin verschieben.
Novak

 

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