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Am Hispery
Du kannst alles richtig machen und trotzdem falsch liegen.
So beginnt es. Du merkst es nicht einmal.
Die Reifenspuren im Neuschnee vor mir reißen plötzlich nach rechts aus. Die lächerlichen Holzplanken, die die Bergstraße sichern sollen, sind zerbrochen. Ich lenke meinen Jeep an den Fahrbahnrand, schalte die Warnblinkanlage ein und steige aus.
Der Schneefall hat um nichts nachgelassen und der eiskalte Wind beißt mir ins Gesicht. Ich eile zum Rand der Straße.
„Mist.“
Mitten in den verschneiten Bäumen hängt der verfluchte Wagen über dem Boden. Das linke hintere Rad dreht sich noch. Kein Geländewagen, irgendein verdammter Kombi. Wer ist verrückt genug, bei einem solchen Wetter ohne geeignetes Fahrmittel hier den Berg hinaufzufahren?
Ich versuche vorsichtig den Hang hinunterzurutschen, um zur Baumgrenze zu gelangen und den Wagen zu erreichen. Mehrere dicke Äste haben sich durch die Frontscheibe gebohrt. Die Schnauze des Autos hat sich beinahe um den Stamm gewickelt. Ich hangle mich zur Fahrerseite und rüttle an der Tür.
Sie klemmt. Durchs Fenster erkenne ich eine Person, die regungslos im Gurt hängt. Ich klopfe gegen die Scheibe.
„Hey!“
Keine Reaktion.
Mit einem Bein stemme ich mich gegen das Auto, packe den Griff mit beiden Händen und ziehe mit ganzer Kraft. Das Metall knirscht protestierend und gibt ein wenig nach. Ich renke mir dabei fast die Arme aus. Muss kurz nachlassen. Ein zweites Mal – und diesmal ist das Glück auf meiner Seite. Geräuschvoll gibt die Tür nach.
Es ist ein Mann. Keiner der Äste hat ihn durchbohrt. Innerlich atme ich auf. Ich berühre ihn und füge ihm einen Schmerzreiz zu.
„Können Sie mich verstehen?“
Ich werfe einen Blick in den hinteren Teil des Wagens. Niemand drinnen. Der Gurt lässt sich nicht öffnen, trotzdem kann ich den Mann aus dem Auto ziehen, nur rutsche ich dabei fast aus.
Der Verunglückte ist nur mit einen Wollhemd und Jeans bekleidet. Das Gesicht ist blutüberströmt. Eine große Platzwunde über dem linken Auge. Kein Airbag, der sich geöffnet hat. Trotz allem lege ich ihn in den Schnee, überprüfe den Atem und tatsächlich, der Mann hatte Glück. Er lebt, ist nur ohne Bewusstsein. Ich packe ihn unter den Achseln und ziehe ihn den Hang hinauf.
Kaum bin ich von den Bäumen weg, machen der Wind und das Wetter die Aufgabe wieder zur Qual. Mehrere Male verliere ich den Halt und falle hin. Endlich zerre ich ihn über den Rand und schaffe es mit letzter Kraft, ihn in den Jeep zu hieven.
Der Motor springt sofort an und ich beeile mich, zu meiner Hütte zu kommen.
Fast hätte ich es doch nicht geschafft. Kurz vor dem Ziel, in der letzten Kurve, schlägt der Verletzte plötzlich die Arme in die Höhe und brüllt etwas von nein.
Vor lauter Überraschung verreisse ich das Lenkrad, erst im letzten Moment kann ich den Wagen wieder einfangen und muss dann auch noch das Straucheln korrigieren, um ihn nicht erneut ausbrechen zu lassen.
„Alles in Ordnung“, sage ich zu ihm und zu mir gleichermaßen. „Sie sind in Sicherheit.“
„Mein Auto…“
„Ganz ruhig. Sie hatten einen Unfall, sie sind von der Straße abgekommen. Wir sind auf dem Weg zu meiner Hütte. Dort werde ich Sie verarzten und dann die Polizei verständigen, okay?“
Mit einer fahrigen Geste wischt der Fremde sich das Blut aus dem Gesicht und starrt auf seine Hände.
„Ist das mein Blut?“, fragt er. Sein Blick ist glasig.
„Sie haben da eine Platzwunde an der Stirn.“
Er nickt nur.
Ich lege Holz im Kamin nach und sehe dann zum Herd, wo der Teekessel bereits pfeifend um Aufmerksamkeit buhlt. Ich fülle zwei Tassen voll und bringe sie zu dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes.
Von den prasselnden Flammen geht eine angenehme Wärme aus, doch der Mann, Eric, zittert trotzdem unter der Decke, die um seine Schultern geschlungen ist. Ich reiche ihm den Tee und er nimmt die Tasse dankend an. Ich gehe zurück und hole das Verbandszeug.
„Was haben Sie überhaupt bei so einem Wetter und mit so einem Auto auf dem Hispery verloren?“, frage ich, während ich beginne, die Wunde zu säubern.
„Ich wollte rüber nach Hannah.“
„Muss aber dringend gewesen sein, wenn Sie sich einem solchen Risiko aussetzen. War ganz schön gefährlich und Sie haben auch ein riesen Glück gehabt.“
„Ich weiß. Ach, hey … ich hab mich bei Ihnen noch gar nicht bedankt, Kevin. Danke.“
Ich winke ab, aber er beharrt darauf.
„Nein ehrlich, Sie haben mir das Leben gerettet. Ich wäre sicher erfroren in meinem Auto.“
„Das wird jetzt weh tun“, sage ich.
Er zuckt kurz zusammen. „Mist. Ist es schlimm?“
„Nicht ganz so schlimm, wie es anfangs ausgesehen hat, aber es muss genäht werden. Ich werde die Wunde nur so gut es geht abdichten, damit sie sauber bleibt und sobald das Wetter besser wird, bring ich Sie nach St. Canda zum Arzt.“
„Danke vielmals.“
„Nichts zu danken.“ Ich verstaue das Verbandszeug wieder im Kasten.
Ich gehe zum Herd und setze neues Wasser auf, um eine Suppe anzurühren.
„Wollen Sie irgendjemanden verständigen, dass Sie es heute nicht mehr schaffen?“, frage ich ihn.
„Ich glaube nicht, dass mich wer vermissen würde.“
„Hm, das klingt nicht gut.“
„ So ist das Leben.“
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Schneefall hat immer noch nicht nachgelassen und dann und wann höre ich neben dem Prasseln der Flammen auch das Heulen des Windes.
„Warum leben Sie denn allein hier draußen, Kevin?“
Ich muss lächeln. Beinahe jeder, mit dem ich hier einmal Kontakt habe, hat mich bereits danach gefragt.
„Selbst gewähltes Exil“, sage ich. „Meine kleine Zuflucht. Ist Ihnen schon wärmer?“
„Ja, danke. Schon viel besser. Das Zittern hat auch schon nachgelassen.“
Kurzes Schweigen.
Dann: „Keine Frau?“
„War alles einmal, früher. Ist schon ewig vorbei. Hat nicht sollen sein.“
„Und bei Ihnen, Eric?“
Er schüttelt nur den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich sie vermisse.“
Ich warte, rühre die Suppe um. Er spricht wirklich weiter.
„Nein, ich glaube, ich vermisse ihre Haut nicht. Oder die Art, wie sie gewisse Dinge zu sagen gepflegt hat. Kennen Sie das?“
„Ich glaube schon.“
Ein freudloser Lacher kommt ihm aus. „Ich hab mich dauernd in ihr verloren. In ihre Person, ihren Augen … so himmelblaue, wunderschöne Augen.“
„Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht wollen, Eric.“
Aber er hört mich gar nicht. Eric steht auf und hockt sich vor den Kamin. Er zittert schon wieder.
Er sagt: „Hab mir ihren Namen in den Arm geschnitten … ihr Auto.“
Dreht sich zu mir um und flüstert: „Sie ist so weit weg, meilenweit entfernt, aber wissen Sie Kevin, es kommt mir immer noch so vor, als wäre sie hier. Genau hier, zwischen uns.“
Er macht einen Schritt auf mich zu und lächelt. Mir fällt ein dunkler, feuchter Fleck an seiner rechten Hosentasche auf. Eric breitet die Arme aus.
Ist das mein Blut?
Und er sagt: „Nie werde ich ihre makellosen Augen aus meiner Tasche geben.“