Am Küchentisch
Er saß wie immer an seinem Küchentisch mit Blick auf den Spielplatz. Das Haus in dem er wohnte hatte 20 Stockwerke. In den letzten Jahren waren immer mehr Menschen ausgezogen, so dass im Augeblick nur noch in der Hälfte der Wohnungen jemand wohnte. Ein langsamer schleichender Aderlass, den er an seinem Küchentisch nicht wahrnahm.
Jeden Tag nach dem aufstehen, kochte er sich Kaffee, schüttete etwas Müsli in seine Schale und setzte sich an den Küchentisch. Dabei hörte er keine Radio, sah nicht fern oder lass etwas. Einfach am Küchentisch sitzen und in die Leere starren.
Trapp, trapp, trapp das war früher einmal gewesen. Kinder waren durch die Wohnung gelaufen, hatten dort gespielt, gelärmt, geweint und miteinander gestritten. Es waren seine Kinder gewesen. Aber lange war es her. Zum letzten Mal hatte vor 10 Jahren von ihnen Besuch erhalten. Es war ein kurzer Besuch gewesen, der sehr enttäuschend für alle war und besser nicht stattgefunden hätte. Seitdem hatte er nichts mehr von seinen Kindern gehört. Wenn er daran dachte, musste er immer tief Luft holen, wie um sich zu beruhigen. Dann versank er wieder in Lethargie. Dieses tiefe atmen war die einzige Regung die jemand an ihm wahrnehmen konnte, wenn er ihn beobachtete. Sonst wirkte er auf einen Zuschauer leer und völlig teilnahmslos.
Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, ging er zum Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Bier heraus. Aus dem Schrank der direkt neben dem Kuhlschrank stand holte er sich einen Flachenöffner. Dazu musste er eine Schublade herausziehen. Er öffnete die Flasche, legte den Öffner wieder zurück, schloss die Schublade und setzte sich wieder an seinen Platz.
Der Spielplatz vor seinem Fenster hatte sich mitweile gefüllt. Mütter mit ihren Kindern, Schulschwänzer, Arbeitslose allen Alters, saßen auf den Bänken oder standen herum. Die meisten der Menschen auf diesem Spielplatz hatten den gleichen leeren Blick wie der Mann am Küchentisch hinter dem Fenster. Nur die Kinder belebten die Szene mit ihrem Spiel und dem was sie zu zueinander sagten oder sich zu riefen. Dieses Schauspiel wiederholte sich Tag für Tag, ob Sommer oder Winter, es waren kaum Veränderungen festzustellen. Nur die Kleidung der Menschen änderte sich. Statt der ausgebleichten T-Shirts im Sommer, trugen die Menschen auf dem Spielplatz im Winter eine abgetragene Jacke oder einen alten Mantel.
Die Wohnungsklingel meldete sich, aber er ging nicht zur Wohnungstür. Kurze Zeit später hörte man wie die Tür von außen mit einem Schlüssel geöffnet wurde. Herein kam eine ältere Frau. Sie ging in die Küche öffnete den Schrank und den Kühlschrank und stellte Müsli, Milch und Bier hinein. Dann schaute sie noch kurz ins Bad, nahm schmutzige Wäsche aus dem hinter der Tür hängenden Wäschesack und verstaute diese in eine Plastiktüte. Anschließend legte sie gewaschene Kleidung in den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Schaute noch einmal in die Küche, nicht zu dem Mann, sondern es war ein prüfender Blick, ob sie denn alles erledigt hatte. Dann verließ sie die Wohnung mit der Plastiktüte, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben.
Vor 8 Jahren hatte der Mann aufgehört einzukaufen oder sich um etwas in der Wohnung zu kümmern. Er hatte sich damals per Anzeige eine Haushälterin gesucht und eine gefunden. Seitdem brauchte er seine Wohnung nicht mehr zu verlassen. Mit der Frau hatte er vereinbart, welche Dinge sie zu erledigen hatte und außerdem hatte er sie gebeten, ihn nicht anzusprechen und so zu tun, als sei er nicht anwesend. In der ersten Zeit ihrer Tätigkeit hatte sie es einige Male versucht, mit ihm ein Gespräch zu führen, aber nachdem er sie einige Male recht scharf an ihre Vereinbarung erinnert hatte, gab sie diese Versuche auf. Seitdem erledigte sie ihre Aufgaben und verließ anschließend die Wohnung ohne ihn zur Kenntnis genommen zu haben.
Er trug seine Unterwäsche oft 1 bis 2 Wochen, das gleiche galt für seine Hemden. Er stank. Selber nahm er es nicht mehr wahr und wenn, so hätte es ihn nicht gestört. Ihm war es egal, wie alles, was ihn und seine Umwelt betraf. Er fühlte sich nicht einsam, Zorn und Wut spürte er nicht. Freude kam nicht in ihm auf. Nur hin und wieder dieses tiefe Atem holen, wenn er an seine Kinder dachte.
Seine Frau hatte er vollständig aus seinem Gedächtnis getilgt. Sie hatte ihn schon vor 15 Jahren verlassen und war einen Tages einfach gegangen. Er kam nach Hause und fand auf dem Küchentisch einen Zettel: „Es geht nicht mehr. Paula.“ Das war es. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Zunächst war er betroffen, aber schon kurze Zeit später hatte er angefangen sie zu vergessen. Das war ihm gelungen. Nun saß er am Tisch schaute nach draußen und sah nichts. Dann wieder dieses tiefe Atem holen, damit sollte jetzt Schluss sein. Er fiel vom Stuhl und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf. Seine Umgebung nahm er nur noch verschwommen war. Schmerzen spürte er nicht. Dann schloss er die Augen und am nächsten Tag wurde er von seiner Haushälterin gefunden. Er war kalt, stank und sein Mund war so geöffnet, als wollte er gerade tief Luft holen.