Am Morgen
Das Schlafzimmer ist ohne Zweifel der schönste Teil der Wohnung. Liebevoll ist es mit verschiedensten Kleinigkeiten zu einem Ort der Ruhe und Geborgenheit gemacht worden. Auf dem dunkelbraunen, schon leicht abgenützten Nachtkästchen steht ein digitaler Wecker und ein Glas Wasser.
Exakt um 5 Uhr 30 läutet der Wecker und aus dem Bett ist ein leichtes Grunzen zu vernehmen. Verschlafen gibt Karl Müller die Bettdecke zur Seite und steht – mit dem linken Fuß zuerst, das hat er sich vor zig Jahren angewöhnt- gemächlich auf. Seine, spärlich vorhandenen, grauen Haare stehen nach allen Seiten. Er muss bald wieder zum Frisör, denn sie sind schon zu lang. Karl ist 1.74 groß, er ist früher bestimmt eine imposante Person gewesen, aber seine Figur musste dem Alter Tribut zollen. Sein Gesicht ist von Falten durchzogen und schreit förmlich nach Sonne, so blass ist es. Einzig die listigen, grünen Augen stechen heraus und bringen Leben in seine Erscheinung. Ansonsten ist er ein unscheinbarer Mensch, den man bald wieder vergisst.
Die Hände zittern ein wenig, als er das Glas zurück in die Küche bringt, dies ist auf seinen schlechten Lebensstil in früheren Jahren zurückzuführen. In der Küche angekommen, nimmt er einen Teller aus dem Regal und gießt etwas Milch hinein. Dann leert er Müsli in die Schale, seit seiner Kindheit hat er nichts anderes zum Frühstück gegessen. Während Karl frühstückt, sieht er sich im Fernsehen die Nachrichten an. Als er von Terroranschlägen hört, denkt er zurück an seine Jugend im zweiten Weltkrieg. Er hat Glück gehabt, dass er noch zu jung gewesen ist, um einrücken zu müssen.
Der Wetterbericht bringt in zurück in die Gegenwart. Der Regen, der angesagt worden ist, ist Gift für seine alten Knochen. Er wollte bereits vor einigen Wochen auf Kur fahren, doch er hat nicht genug Geld, seine Pension als einfacher Maurer ist zu wenig, seine zwei Kinder haben nichts für ihn übrig. Die Schmerzen werden mit jedem Tag größer. Während Karl den Fernseher abdreht, überlegt er, ob er noch einmal zum Arzt gehen soll. Das letzte Mal hat dieser gesagt, dass man als 70- jähriger nun mal Rückenschmerzen habe und er bei seinen Lebensstil froh sein müsse, keine anderen Probleme zu haben. Seit diesem Arztbesuch isst Karl nur mehr einmal Fleisch pro Woche und versucht auf Alkohol zu verzichten. Heute aber braucht er einen Schluck, um seine Schmerzen zu vergessen. Er fasst nach dem Flachmann, den er auf dem Küchentisch stehen hat und trinkt daraus.
Jetzt fühlt er sich besser und geht ins Badezimmer. Karl putzt sich gemächlich die Zähne, er ist stolz darauf, in seinem Alter noch fast alle zu haben. Einzig die zwei vorderen, unteren hat er bei einer Schlägerei vor über vierzig Jahren verloren. Er weiß den genauen Grund für die Prügelei nicht mehr, glaubt aber, dass er Schulden gemacht hat.
Nach dem Zähneputzen rasiert er sich gründlich den kaum vorhandenen Bart. Danach nimmt er eine – von der Putzfrau – fein gebügelte, zerschlissene, graue Hose aus dem Kasten im Schlafzimmer. Dazu zieht er sich einen Pullover an, den ihm sein einziger Sohn beim letzten Besuch vor einem halben Jahr mitgebracht hat. Karl merkt wieder, wie einsam er ist, seitdem seine Frau vor zwei Jahren gestorben ist und schaut wehmütig aufs Hochzeitsfoto, das vergilbt an der Wand der Küche hängt. Danach nimmt er noch einen Schluck und versucht seine Frisur in Ordnung zu bringen, doch er scheitert kläglich.
Wie gern hätte er jetzt Karten gespielt, er ist ein ausgezeichneter Schnapser, doch es ist niemand da, mit dem er spielen kann. Betrübt schaltet er den Fernseher wieder an, seinen einzigen Freund. Alle anderen, die er kennt sind entweder tot oder wohnen nicht in seiner Nähe, nicht nah genug für einen kurzen Besuch. Karl schiebt das Video seines Lieblingswesterns in den Videorekorder, setzt sich in sein altes Sofa und denkt darüber nach, wie kalt die Welt doch geworden ist für einen alten, einsamen Mann.