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Am seidenen Faden
Wie bitte? Wie es mir geht? Fragen mich, wie es mir geht? Na hören Sie mal! Das können Sie sich doch denken. Wie wäre Ihnen zu Mute, wenn Ihr Leben an einem seidenen Faden hinge? Wenn Sie wüssten, dass der beste Spezialist gebeten wurde alles zu versuchen, zu retten, was nur zu retten ist? Ich hoffe inständig, dass es ihm gelingt. Ich will nicht, dass mein Leben schon zu Ende geht. Es war noch viel zu kurz. Wenngleich ich auch viel erlebt, viel geleistet habe. Aber trotzdem, das darf einfach noch nicht alles gewesen sein. Ich habe noch so viel Energie. Was um alles in der Welt ist es, was mich hemmt?
Ratlos stehen sie um mich herum. Sehen einander an, zucken mit den Schultern, telefonieren, wälzen dicke Bücher. Nichts! Keine Idee, keine Erleuchtung! In Bayern gibt es den Engel Aloisius, den der liebe Gott mit dem göttlichen Ratschlag für die Regierung auf die Erde geschickt hat. Leider ist dieser jedoch in seinem ehemaligen Stammlokal versumpft und so wird Gott einen weiteren Versuch wie diesen, nicht noch einmal wagen. Vielleicht sollten es diese Herren einmal bei den vierzehn Nothelfern versuchen. Zumindest bei einem. Dem Richtigen! Wer aber ist für solche Fälle zuständig? Als sie erfunden wurden, hatte die Welt noch andere Sorgen und so werden manche in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht mehr so dringend gebraucht. Zum Beispiel der heilige St. Achatius, der dem christlichen Volk helfen soll. Den könnte man doch gut umfunktionieren als Heiligen für den täglichen Verkehr, in dem immer so etwas wie Chaos herrscht. Er müsste mal beim himmlischen Arbeitsamt einen Antrag auf Umschulung stellen. Dann hätte er wieder eine sinnvolle und umfangreiche Aufgabe. Oder Sankt Cyriacus, der ursprünglich den vom Teufel Besessenen helfen sollte. Der wäre heute wunderbar für Computerbesessene einsetzbar. Vielleicht könnte der in meiner Sache die entscheidende Wende bringen.
Wie bitte? Wieso in meiner Sache? Ich habe Ihnen doch schon ein paar Mal gesagt, wer ich bin. Nein? Wirklich nicht? Da sehen Sie mal, wie weit es mit mir gekommen ist. Ich, der mir alles, aber auch wirklich alles merken kann. Lachen Sie nicht! Wirklich alles! Wie das? Na dafür sind Computer doch da! Ich? Ja, ich bin ein Computer. Leider zurzeit ein Computer i.K. (im Krankenstand). Dabei hätte ich so viel zu tun. In unserer Abteilung, zweiter Stock, Polizeipräsidium, bin ich ständig im Einsatz. Dauerstress. Vermutlich liegt hierin auch die Ursache meines Zusammenbruches nach diesem Unfall. Völlige Überarbeitung und totale Erschöpfung. Früher hätte ich so einen Sturz locker weggesteckt. Aber nun, Kurzschluss! Menschen schickt man zur Erholung nach Hause. Doch wer denkt schon daran, auch einer Maschine eine Erholungspause zu gönnen. Kein Wunder, dass meine Bits und Bytes dies zum Anlass genommen haben, um in Streik zu treten, und sich eine Auszeit zu nehmen. Es ist wirklich kein Wunder. Und dann der gestrige Tag. Das war einfach zu viel.
Ich sehe ihn noch sitzen. Dieses Häuflein Mensch. Ganz schmal saß er auf dem Stuhl. Den Kopf gesenkt. Die Augen auf dem Boden gerichtet. Die Schultern nach unten gedrückt, als ob die ganze Last der Welt auf ihnen läge. Sicher nicht die der Welt, aber die seiner Familie, seiner Angehörigen. Dieses Urteil. Von Menschen gefällt, für Menschen. Wie bitte? Natürlich ist der Prozentsatz derer, die wirklich gegen Verfolgung in unser Land flüchten, verschwindend gering im Vergleich zu denen, die aus wirtschaftlichen Erwägungen kommen. Aber wer kennt die Wahrheit! Möchten Sie ein Urteil sprechen?
Bei ihm lautet es Ausweisung, Abschiebung! Rückführung wäre ein schöneres Wort, hätte aber die gleiche, grausame Bedeutung. Rückführung in ein Land, in dem ihn Gefängnis, und seiner Familie Elend und Not, erwarten.
Als das Urteil zugestellt wurde, versuchten sie zu fliehen. Mit ihrem Hab und Gut, dass sich mühelos in einer Tasche und ein paar Tüten verstauen ließ. Sie kamen nicht weit. Die Polizei griff sie auf. Seine Frau, seine Schwester und die Kinder wurden zurückgebracht in das Lager und er zum Verhör in unser Büro. Nein, er leistete keinen Widerstand. Deshalb wurden ihm auch keine Handschellen angelegt. Er hatte keine Kraft mehr. Da saß er nun auf unserem Stuhl. Die Arme hingen neben seinem Körper reglos herunter. Er reagierte weder auf die Fragen unserer Beamten, noch auf die beruhigenden Worte unseres Polizeipsychologen. Erst als unser Chef ihm klarzumachen versuchte, dass er wegen Fluchgefahr bis zur Abschiebung in Gewahrsam bleiben müsse, ging eine Veränderung in ihm vor. Er setzte sich gerade, hob den Kopf, streckte wie abwehrend die Arme und blickte voller Verzweiflung um sich. "Nicht Gefängnis, bitten nicht Gefängnis", stieß er immer wieder hervor. Dann ging alles ganz schnell. Der Arzt hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt, zur Beruhigung. Diese Berührung war wohl der Auslöser. Der Verzweifelte sprang auf, rannte um den Schreibtisch herum, in Richtung Fenster. Dabei stolperte er über meine Kabeln, die zwischen Arbeitsplatz und Steckdose über den Boden lagen.
Ich kann Ihnen sagen, er riss mir buchstäblich die Beine weg. Der Monitor kippte vom Tisch. Das Kabel zwischen ihm und mir spannte sich, ich hatte keine Chance. Ich stürzte ebenfalls krachend zu Boden. Aber noch nicht genug. Der Ausländer hatte nun das Fenster erreicht, öffnete die Flügel, benutzte mich als Sprungbrett und stürzte sich in die Tiefe. Hinunter, mitten in den Hof des Präsidiums. Der Beamte hatte ihn noch an der Jacke gepackt, konnte ihn jedoch nicht halten. Das Geräusch des Aufpralls werde ich lange nicht vergessen. Wenige Minuten später hörte ich die Sirenen des Rettungswagens. Ich weiß wirklich nicht, was ich diesem armen Menschen wünschen soll. Zu Überleben, um dann abgeschoben zu werden?
Nun, vorerst hängen unsere beiden Leben am seidenen Faden. Zuerst blieb ich in meinem Unglück völlig allein gelassen. Selbstverständlich ging das Schicksal eines Menschen vor. Als die Versorgung dieses gewährleistet war, kamen unsere Beamten zurück. Ich habe sie alle schon in den verschiedensten Situationen erlebt. Es waren erfahrene Leute, alte Hasen im Beruf, die so leicht nichts mehr erschüttern konnte. Nun jedoch, stand ihnen Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Natürlich wurde diskutiert wie das passieren konnte und dass es hätte vermieden werden müssen. Ja, es würde Untersuchungen geben, aber den größten Vorwurf machten sie sich selber.
Und dann standen sie vor mir und betrachteten den Schaden. Der Monitor war hinüber. Ein Sprung quer über seinen Bildschirm. Und ich? Mein Gehäuse, das "Sprungbrett", hatte eine mächtige Delle. Die Abdeckung auf der Rückseite war aufgesprungen. Ein Kabelsalat quoll aus meinem Inneren. Als sie mich vorsichtig aufhoben und auf den Tisch stellten, gab es einen Knall. Funken sprühten und ein Gestank von verschmorten Kabeln breitete sich aus. Kurzschluss!
Das war vor einigen Stunden. Seit dem, wird verzweifelt um mein Leben gekämpft. Um all die Daten, die ich mitnehmen würde, sollte ich nicht mehr zum Laufen kommen. Die Mienen der Gesichter um mich herum, werden immer zweifelnder und ich mache mir ernsthaft Gedanken, was sein würde, wenn...!
Wie bitte? Natürlich wurde bei unserer Produktion darüber gesprochen was mit uns passiert, wenn wir mal das Zeitliche segnen. Und dass ich da besonders aufgepasst habe, das dürfen Sie mir glauben! Wir landen nicht einfach auf dem Müll und schon gleich gar nicht heimlich im Wald. Nein, wir werden entsorgt. Recycelt! Wie bitte? Na wiederverwertet! Dafür gibt es Spezialisten, Firmen für Elektronik, Entsorgung und Verwertung.
Ebenso, wie wir zusammengebaut werden, so werden wir auch wieder zerlegt. Per Hand. In alle Einzelteile. Streng getrennt nach den verschiedenen Materialien. Dabei werden wir jedoch nicht mehr sorgfältig und liebevoll behandelt wie bei der Herstellung oder einer Reparatur. Mit roher Gewalt nimmt man uns auseinander und wir gehen verschiedener Wege.
Der PVC Anteil landet in einer Müllverbrennungsanlage. Wenn man sich das vorstellt! So manch heißer Ofen zu Hause, verdankt seine Hitze einem ausgeschlachteten Computer! Der Anteil an wertvollen Kunststoff wird in einer Kunststoffmühle zu Granulat verarbeitet und kommt zusammen mit neuem Rohmaterial wieder in die Produktion. Ja, tatsächlich! Auch Sie sind bestimmt schon einmal auf einem Bodenbelag aus Computerresten gegangen. Da haben Sie Recht, da muss man erst einmal darauf kommen!
Meine Metallteile, wie zum Beispiel die Laufwerke, werden in einer Stahlfabrik zerlegt, zerkleinert, vermischt und verkauft.
Für sämtliche Kabeln interessiert sich der Schrotthändler. Die dünnen bestehen nur aus Kupferfasern und sind echt Müll. Die dicken hingegen, haben einen ganzen Kupferstrang und erzielen einen guten Preis.
Da sind noch die Leiterplatten, sehr wertvoll. Sie gehen an Ihre Herstellerfirma zurück,
zumeist nach Holland oder England und werden dort in ihren ursprünglichen Rohstoffen, Edelmetalle und Keramik, zerlegt. Ich war ganz stolz, als ich damals zum ersten Mal hörte, dass ich so was Edles wie Gold, in meinem Körper berge.
Was wird die Zukunft wohl für mich bereithalten? Ich finde, als Computer habe ich meine Schuldigkeit getan. Einmal in der langen Reihe der einzelnen Leben, muss das genügen. Im zweiten, müsste es etwas anderes sein. Etwas ganz anderes! Natürlich habe ich mich noch nicht ausführlich mit Zukunftsplänen auseinandergesetzt. Ich dachte, dazu würde noch genügend Zeit, ich hätte noch mein halbes Leben vor mir.
Müssten meine Zukunftspläne etwas bescheidener ausfallen, wäre ich auch als Teilchen einer Brückenkonstruktion aus Stahl und Eisen, majestätisch einen großen Fluss überspannend, zufrieden. Aber es müsste etwas großes sein. Und in frischer Luft! Sechs Jahre stickige Büroluft, dass muss reichen. Nicht, dass jemanden einfällt und mich als Kunststoffteil in die Bügeleisenproduktion steckt. Eine grauenvolle Vorstellung. Und mit handwerklicher Kunst habe ich auch nichts am Hut. Also bitte, kein Goldteilchen in einem Schmuckstück an der Hand einer dicken, reichen Lady.
Am Besten wäre, diese Spezialisten würden endlich die richtige Medizin, beziehungsweise den richtigen Draht und die richtige Schraube finden und mich wieder einsatzfähig machen. Ich glaube, ich wäre doch noch ganz gerne, eine kleine Weile ein Computer.
Haben Sie das auch gehört? Der Techniker hat noch eine Idee, die ein Versuch wert wäre. Wenn diese jedoch auch nichts bringt, dann wäre ich nicht mehr zu retten. Haben Sie das gehört! Nicht mehr zu retten! Das klingt so endgültig. Und sie fragen mich, wie es mir geht?
Nur noch ein Versuch, dann entscheidet sich mein Schicksal. Drücken Sie mir die Daumen? Oder noch besser, wenn Sie auf einer Wolke zufällig den Engel Aloisius sehen, bitten sie ihn doch, bei den vierzehn Nothelfern ein gutes Wort für mich einzulegen. Ja?