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Am Tag nach Ostern

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14.10.2001
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Am Tag nach Ostern

Am Tag nach Ostern machte sich Mona allein auf den Weg. Es war nicht weit: nur die Straße entlang und dann rechts.
Das Tor zum alten Friedhof stand offen. Geduckt unter dem feuchtkalten Wind lief sie die einsamen Wege entlang. Es war nebligtrüb. Die Büsche und die Blätter der riesigen Rhododendren trieften von Nässe, Gras und Blumen schienen ihre Farben verloren zu haben.
Monas Schritte wurden schneller. Dieses hoffnungsvolle Gefühl kannte sie gut, diese freudige Ungeduld, die von innen immer so kitzelte. Es war ein bisschen wie damals, vor Weihnachten, als sie noch ans Christkind glaubte. Schade, dass es das Christkind nicht gab. Und den Osterhasen auch nicht. Aber Feste würden sowieso nie mehr so sein wie früher.

***

„Was meinst du“, hatte Mutti ein paar Tage vor Ostern gefragt, „sollen wir das Eierverstecken dieses Jahr ausfallen lassen?“
Mona nickte. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ihr Eiersuchen Spaß machen würde.
Mutti sollte nicht sehen, dass sie wieder weinen musste, deshalb lief sie schnell ins Wohnzimmer. In einem Regal entdeckte sie zwei Fotos, die Mutti dort aufgestellt hatte.
Mona erinnerte sich noch genau, wann diese Aufnahmen gemacht wurden. An seinem Geburtstag. Damals ahnte niemand, dass es sein letzter war.
Vati lachte in die Kamera. Es sah so aus, als würde er ihr direkt in die Augen schauen. Fast so, als wäre er lebendig. Mona guckte schnell weg. Die Bilder machten sie zu traurig. Mit der Rückseite nach oben legte sie die Rahmen in eine Schublade.

Am liebsten wäre sie Ostersonntag einfach im Bett geblieben. Sie ging erst nach unten, als Mutti sie rief. Verwundert blieb sie im Türrahmen stehen. Der Tisch war wie an einem Festtag mit dem guten Geschirr gedeckt. Vor ihrem Teller standen große und kleine Schokoladenhasen und darum herum lagen viele bunte Ostereier. Das allerschönste war ein Ei aus leuchtendroter Pappe mit einer weißen Spitzenschleife.
Nach dem Frühstück nahm Mona die Süßigkeiten mit in ihr Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett und betrachtete das große Ei. Dieses kräftige Rot konnte man bestimmt von ganz weit weg sehen.
Ein Gedanke durchzuckte sie: Ja, das war eine prima Idee! Dieses Ei wollte sie Vati schenken! Sie würde es auf sein Grab legen und er konnte nachts heimlich vom Himmel herunterkommen, um es abzuholen. Warum sollte das nicht möglich sein? Vielleicht war das ja gar kein Wunder, sondern etwas, was ganz oft geschah, nur dass es niemand sah.
Mona wurde es ganz heiß. Was sollte sie in das rote Ei hineinpacken? Auf jeden Fall einen kleinen Schokoladenhasen. Der gehörte zu Ostern einfach dazu. Außerdem Marzipaneier. Die mochte er so gern. Und Nougat. Andererseits – Nougateier aß sie selbst am liebsten. Ob sie die für sich behalten konnte? Nein, sie wollte nicht geizig sein. Das Wichtigste war, dass Vati sich freute.
Während sie die Süßigkeiten, die sie für Vati ausgesucht hatte, in das Pappei füllte, fiel ihr noch was ein: Einen Brief würde sie ihm auch schreiben! Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, holte das schöne Briefpapier hervor, das sie zum Geburtstag bekommen hatte, das hellblaue mit den Blumenkörbchen in den Ecken, und fing an:
Lieber Vati!
Wie geht es dir? Mir geht es gut.
Was konnte sie noch schreiben? Mona legte ihren Füllfederhalter hin und malte erst mal ein paar rote Herzchen.
Zu Ostern habe ich viele Eier gekriegt und Schokoladenhasen.
Ja, das war gut. Und jetzt? Sie lutschte an der Füllerkappe und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, doch vom Rand des Himmels schob sich eine dunkle Wolkenwand heran.
„Mona! Lass uns zum Friedhof gehen, bevor es anfängt zu regnen!“, rief Mutti.
„Ja, gleich!“ Schnell schrieb sie weiter.
Ich muss jetzt gehen. Bitte hol das Ei ab.
Viele Grüße
Deine Mona
„Mona! Beeil dich!“
Hastig faltete sie den Briefbogen, steckte ihn in das Ei, stopfte das Ostergeschenk für Vati in ihren Rucksack und sprang die Treppe hinunter.
Schwarze Wolken bedeckten inzwischen den größten Teil des Himmels. Als sie am Grab ankamen, verschwand die Sonne. Der böige Wind nahm zu und die ersten dicken Tropfen fielen.
Verblühte Blumen standen in der Grabvase, aber sie hatten einen Strauß rote Tulpen mitgebracht.
„Lauf du schon zum Ausgang. Ich werfe die verwelkten Blumen noch eben auf den Komposthaufen.“ Mutti öffnete ihren Schirm und eilte davon.
Der Regen wurde stärker. Rasch holte Mona das rote Ei aus dem Rucksack, legte es mitten auf das Grab und rannte los.

***

Seitdem hatte Mona oft an ihr Ostergeschenk gedacht. Auch jetzt, während sie an den Grabreihen entlanglief, stellte sie sich wieder vor, wie Vati vom Himmel heruntergekommen war und das schöne Ei und ihren Brief gefunden hatte. Sie lächelte.
Der kräftige Wind vertrieb die diesigen Schwaden und es wurde heller. Sie begegnete dem Friedhofsgärtner, der eine leere Schubkarre vor sich herschob.
Mona bog in den schmalen Weg ein, der zu Vatis Grab führte. Sie lief so schnell, dass sie schon ganz aus der Puste war. Plötzlich zuckte sie zusammen. Auf dem Grab sah sie etwas Rotes leuchten. Hatte Vati das Ei doch nicht abgeholt? Aber nein, das war doch nicht das Ei, sondern bloß der Tulpenstrauß!
Als Mona das Grab erreichte, jauchzte sie laut auf. Das Osterei war verschwunden. Sie hatte es gewusst! Es gab sie also doch, die Wunder, an die die Erwachsenen nicht glaubten! Das musste sie Mutti unbedingt erzählen! Sicher wollte sie auch einen Brief an Vati schreiben. Und wer weiß – vielleicht antwortete er ihnen eines Tages sogar!
Die Sonne kam heraus und hüllte sie sofort ganz in ihre Wärme ein. Mona hüpfte vor dem Grab hin und her zu und begann leise zu singen.
Auf dem Weg zum Ausgang kam sie am Komposthaufen vorbei.
Sie blieb so plötzlich stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Das Lied, das sie gerade summte, blieb in ihrer Brust stecken. Auf dem Komposthaufen, ganz oben, lag das rote Ei. Die Pappe war vom Regen durchweicht und die weiße Spitzenschleife schmutziggrau geworden.
Ohne nachzudenken stürzte Mona davon und lief nach Hause.
Sie rannte in ihr Zimmer und stellte sich ans Fenster. Die Vögel am Himmel sahen aus wie winzige schwarze Punkte. Sie schaute zu, wie die Sonne unterging und es langsam dunkel wurde. Der erste Stern kam zum Vorschein. Er war so fern, so unerreichbar weit weg.
Sie ging zu Mutti ins Wohnzimmer hinunter.
Die Fotos von Vati lagen immer noch in der Schublade, mit der Rückseite nach oben. Mona nahm sie heraus und betrachtete sie. Hinter ihren Augen brannte es heiß.
„Kann ich eins davon haben?“, fragte sie schließlich.
„Natürlich!“
Sie suchte sich das Bild aus, auf dem Vati sie ansah, und stellte es auf ihren Schreibtisch.

 

Hi Jakobe,

die Idee der Geschenke auf dem Freidhof kommt mir ja irgendwie bekannt vor. ;)
Schade, dass die Friedhofsgärtnerei bei dir so unsensibel mit der Entsorgung vorgegangen ist. So können tröstliche Illusionen zerstört werden.
Kinder haben oft einen viel selbstverständlicheren mystischen Zugang zum Tod, durch den sie auch den Verlust verarbeiten. Sie lassen die Trauer zu, finden aber auch Trost. Das hast du in deiner Geschichte schön aufgezeigt.
Auch, dass es manchmal eben fraglich ist, ob die Zerstörung fatasievoller Vorstellungen durch Rationalität immer sinnvoll und gut ist.

Lieben Gruß, sim

 

Lieber Sim,
danke für deine Interpretation! Ich wollte in der Geschichte zeigen, dass durch solch ein Erlebnis die Kindheit sehr plötzlich enden kann. Ob die Entwicklung, die das Kind durchmacht, gut oder schlecht ist - ich weiß es nicht.
Dass dir die Geschichte bekannt vorkommt, liegt wahrscheinlich daran, dass sie eine Neubearbeitung von "Ein rosa Osterei für Vati" ist. Diesen Text hatte ich auch in diese Rubrik gestellt, und Katzano hat ihn jetzt auf meine Bitte hin gelöscht.
Viele Grüße
Jakobe

 

Hallo Jakobe!

Geduckt unter dem feuchtkalten Wind lief sie die einsamen Wege entlang. Es war nebligtrüb, die Büsche und die Blätter der riesigen Rhododendren trieften von Nässe, Gras und Blumen schienen ihre Farben verloren zu haben.
Einerseits eine schöne ausmalende Beschreibung, aber durch die Kommas bekommt sie eine gewisse Hastigkeit, die vielleicht zu Monas Laufen passt, mich aber verwirrt. Ich musste den Satz mehrmals lesen um ihn ganz zu verstehen und gerade am Beginn einer Geschichte mag so ein Bandwurmsatz abschrecken und das wäre für die Geschichte schade.

Am Tag nach Ostern machte sich Mona allein auf den Weg
heisst es zu Beginn. Am Ende schreibst du dann
Seitdem hatte Mona oft an ihr Ostergeschenk gedacht.
Vielleicht ist es nur das Seitdem, aber ich hatte hier den Eindruck, dass seit dem Grabbesuch mehrere Tage vergangen sind. Das ist ja aber gar nicht der Fall.

Zum inhaltlichen: Eine gut geschilderte Begebenheit mit einem positiven Ende. Es gibt ja solche Erlebnisse, die einerseits ein Stück kindlichen Glauben zerstören, aber eben nicht mit dem Scherbenhaufen enden, sondern neue Sicht- und Verstehensmöglichkeiten eröffnen. Das hast du gut dargestellt. Nur die Figur des Friedhofsgärtners stört dieses Bild. Du sagst ja nicht, dass der Friedhofsärtner das Ei entfernt hat und ich würde ihn deshalb auch ganz weglassen. Denn nach allen meinen Erfahrungen (und ich habe häufiger mit friedhöfen zu tun) nehmen Friedhofsgärtner nur dann etwas vom Grab, wenn sie einen entsprechenden Auftrag haben. Selbst der völlig zerfledderte Teddybär oder die zerbrochene Porzellanfigur bleiben auf dem Grab. Wenns ganz schlimm wird, werden die Angehörigen aufgefordert, ihr Grab zu pflegen, aber ein Eingriff der Friedhfsverwaltung findet gewiss nicht statt.
Vielleicht streichst du den Gärtner und stellst dar, dass Mona das ausgeplünderte Ei auf dem Müll findet. Denn das kommt leider vor, dass verwertbare Dinge gestohlen werden.

Liebe Grüße

Jo

 

Hallo Jakobe,

deine Geschichte strahlt eine angenehme Subtilität aus (ohne überflüssige Sentimentalität), sie hat mir gut gefallen, nicht zuletzt wegen dem realistischen Schluss. Hier wird zwar ein Wunschtraum zerstört, doch er wird - was nicht unbedingt zu erwarten war – in positive Akzeptanz umgewandelt, eine schöne Variation der Initiationsthematik.

Deine Beschreibungen sind gelungen, weil anschaulich und situationsgerecht:

„Außerdem Marzipaneier. Die mochte er so gern. Und Nougat. Andererseits – Nougateier aß sie selbst am liebsten. Ob sie die für sich behalten konnte? Nein, sie wollte nicht geizig sein. Das Wichtigste war, dass Vati sich freute.“

- Treffend, dieser Konflikt.

„Ja, das war gut. Und jetzt? Sie lutschte an der Füllerkappe und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, doch vom Rand des Himmels schob sich eine dunkle Wolkenwand heran.
„Mona! Lass uns zum Friedhof gehen, bevor es anfängt zu regnen!“, rief Mutti.
„Ja, gleich!“ Schnell schrieb sie weiter.
Ich muss jetzt gehen. Bitte hol das Ei ab.
Viele Grüße
Deine Mona
„Mona! Beeil dich!““

- Wie aus dem Leben gegriffen - die Versunkenheit des Kindes, das Drängen der Mutter.

„Hatte Vati das Ei doch nicht abgeholt? Aber nein, das war doch nicht das Ei, sondern bloß der Tulpenstrauß!“

- dieses „bloß“ wertet zwar das Geschenk der Mutter ab, wer würde es dem Kind nicht verzeihen?


„Mona wurde ganz heiß“

- Mona wurde es ganz heiß.

Vielleicht kannst du Mona äußerlich noch beschreiben, ihr Alter wäre auch wichtig.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hallo, Jo,
auch dir vielen Dank.
In den ersten Satz habe ich einen Punkt eingefügt.
Zu den zeitlichen Zusammenhängen: Anfang und Ende der Geschichte gehören zusammen. Dort wird erzählt, wie Mona nach Ostern zu dem Grab zurückgeht, um nachzusehen, ob ihr Vater das Ei abgeholt hat. Der Mittelteil ist eine Rückblende. Dieser Teil handelt von Ostern und erklärt, warum Mona nach Ostern zum Friedhof geht.
Mit deinem Einwand den Friedhofsgärtner betreffend hast du eigentlich Recht. Aber aus irgendeinem Grund kann ich mich (noch) nicht davon trennen. Ich finde, er passt in die Szene hinein. Ich sage ja auch nicht, dass er das Ei weggeworfen hat.
Viele Grüße
Jakobe

 

Hallo, Woltochinon,
ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat!
"Mona wurde es ganz heiß" habe ich geändert.
Über deinen Vorschlag, Mona zu beschreiben und ihr Alter zu nennen, habe ich nachgedacht. Das wird schwierig. Die Geschichte ist ja ganz aus ihrer Sicht erzählt, enthält nur ihre Gedanken, was sie sieht usw. Aber sie würde nicht über ihr eigenes Aussehen oder ihr Alter nachdenken. Wenn ich z. B. schriebe: "Sie strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn.", dann würde der Erzähler von außen auf Mona gucken. Das wäre ein Bruch in der Perspektive.
Vielleicht ist es auch nicht ganz so wichtig, welches Alter Mona genau hat. Sie befindet sich auf der Schwelle zwischen Kindheit und dem, was danach kommt. Das reicht vielleicht, zumal jedes Kind zu einem anderen Zeitpunkt an diese Schwelle kommt.
Auch dir vielen Dank für deine Rückmeldung und viele Grüße
Jakobe

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jakobe,

"Über deinen Vorschlag, Mona zu beschreiben und ihr Alter zu nennen, habe ich nachgedacht. Das wird schwierig. Die Geschichte ist ja ganz aus ihrer Sicht erzählt, enthält nur ihre Gedanken, ..."

Das ist richtig. Es gibt natürlich Möglichkeiten (u. a. nach dem ersten Absatz), z.B. wenn die Mutter im Gedanken sich daran erinnert, wie schnell ihre Tochter seit dem 12ten Geburtstag letztes Jahr gewachsen ist, wie stolz sie auf ihre blonden Locken ist. Aber natürlich ist das deine Entscheidung.

Viel Erfolg!

Tschüß Woltochinon

 

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