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Am Thema vorbei
„Markus“, sagt der Lehrer, „Lies du heute vor.“
Ein leichtes Erröten gleitet über seine Wangen, als er sich erhebt, sein Heft verkrampft in den Händen haltend. Sechsundzwanzig Augenpaare richten sich auf das Opfer, teils Mitleid, teils Häme im Blick. Doch Markus reißt sich zusammen und beginnt mit fester, lauter Stimme:
„Das Morgengrauen zaubert eine stimmungsvolle Atmosphäre in das lang gestreckte Tal. Die leicht und dünn anmutende Wolkenschicht wird durchlässig. Das schwache Licht lässt die seitlichen Berge erahnen, die, sich langsam verengend, hoch aufragend, in einer Bergwiese treffen. Ein Meer von Gräsern und Blumen tritt langsam aus dem Dunkel. Die Natur ist bereit für einen neuen Abschnitt.
Zögernd, fast schüchtern steigt die Sonne auf. Erste, wärmende Strahlen durchdringen die Wolken, treffen auf eine vereinzelt stehende Blütenknospe und verdrängen die lange Finsternis, eröffnen den Blick auf unberührte Wildnis. Die Zeit des Schlafens ist vorüber, die Wiese beginnt zu leben. Grashalme und Blüten richten sich auf, heben die Köpfe in Erwartung des Kommenden. Die Knospe spürt die Wirkung des roten Lichtes, warm, anregend, elektrisierend. Unendlich langsam beginnt der sich ewig wiederholende Zyklus von Neuem. Verhalten prüfend bewegt sich die schützende Hülle, Bruchteile von Millimetern gibt sie frei, lässt kleinste Mengen äußerer Einflüsse in ihr Innerstes. Dann, wie durch die ersten Empfindungen angeregt und von Zweifeln befreit, öffnet sich die Knospe bereitwillig. Der Schutzwall, lang genug hat er seine Dienste erledigt, bricht auf, spreizt seine Pforten und gibt eine Schicht rosaroter, zart verlockender Blätter frei.“
Unruhiges Fußscharren, leises Kichern aus der hintersten Reihe. Der verweisende Blick des Lehrers bringt die Unruhe schnell wieder unter Kontrolle.
„In weiter Ferne rührt sich ein leiser Hauch, streicht belebend über die seitlichen Hänge und nähert sich der Wiese. Umschmeichelnd trifft er auf die ersten Gräser, die sich in harmonischem Gleichklang seiner Bewegung anpassen, wenige erst, dann immer mehr. Auch die Blüte kann sich dem Rhythmus nicht entgegenstellen und gibt, sich leicht wiegend, der Sonne weitere Facetten ihrer Schönheit zu erkennen. Noch weiter öffnet sich das zartrosa Gebilde, als wolle es, Segel setzend, sich dem Wind widersetzen, die Bewegungen selbst kontrollieren. Doch zu drängend wird das Wogen. In steter, unmerklicher Steigerung wächst der Windhauch an, gibt den Rhythmus der Wellen vor. Die Wolken verdichten sich, der Sonne, der Wiese fokussierend eine verbindende Lücke bietend und dabei statische Spannung aufbauend. Weder das spürbare Knistern der Ladung, das drohend erscheinende Kumulieren der Wolken, noch das stakkatoförmige Hin und Her der Gräser und der Knospe vermag die Eleganz und die Harmonie des Zusammenspieles zu stören. Abrupter, hektischer werden die Bewegungen, erscheinen von Moment zu Moment kaum noch steigerungsfähig. Die Spannung erreicht eine magische Marke und ein überspringender Funke erzeugt den Blitz. Die Entladung erfolgt in unkontrollierten konvulsischen Zuckungen, ein grelles Licht, das die Nacktheit der Natur offen legt, die kleinsten, verborgenen Winkel erleuchtet, der Donner ein Schrei der Erlösung. Sekunden später folgt das ersehnte, Leben spendende Nass, wie befreiend, ein Sturzbach der Freude, begierig aufgesogen als Gabe des Himmels. Dann Stille, erschöpfte Bewegungslosigkeit, befriedigte Ruhe.“
Markus setzt sich, den Blick starr auf sein Heft gerichtet. Sechsundzwanzig Augenpaare pendeln schweigend zwischen Schüler und Lehrer hin und her.
„Markus,“, donnert der Lehrer nach einem Moment der Besinnung, „´Der Liebesakt´ hieß die Aufgabe. Meinst du nicht auch, das war ja wohl total am Thema vorbei?“
„Nein,“, erwidert Markus, „das meine ich nicht.“