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Amazonas
Licht drang durch seine geschlossenen Augenlider, als er erwachte. Das beständige Dröhnen der Flugzeugmotoren war verstummt und wurde durch einen Wasserfall von Geräuschen ersetzt, die er zunächst nicht zuordnen konnte. Er setzte sich mit einem Ruck auf und öffnete die Augen. Kälte und Nässe umgaben ihn. Erst jetzt bemerkte er, dass er halb im Wasser lag. Er kletterte mühsam und mit schwerer, wassergetränkter Kleidung aus seinem Sitz, der sich in einer merkwürdigen Schräglage befand, und sah sich mit einem außergewöhnlichen schiefen Boden konfrontiert, bis seinen noch ziemlich verwirrten Sinnen klar wurde, dass nicht der Boden, sondern das Flugzeug schief lag: Es war abgestürzt.
Er setzte sich auf den Boden, konzentrierte sich ganz auf sich selbst und versuchte durch seine Erinnerungen zu rekonstruieren, was passiert war. An den Flughafen in Berlin konnte er sich erinnern. Ein ganz normaler Tag war es gewesen, als er heute morgen zu dieser Geschäftsreise aufgebrochen war. Er war eingestiegen, hatte seinen Platz aufgesucht und Zeitung gelesen, ab und zu einen Blick aus dem Fenster geworfen. Was war die letzte Aussicht, an die er sich erinnern konnte? Bilder von Südamerika schossen ihm durch den Kopf, die nördliche Hälfte des Kontinents. Das Flugzeug war über den Amazonas geflogen, ein Ort, den er mit Wildnis, unberührter, menschenfeindlicher Natur verband. Er hatte sich noch mit seinem Sitznachbarn kurz darüber unterhalten ...
Die anderen Passagiere! Schlagartig war er hellwach. Er musste mit ihnen reden! Aber was, wenn... Er wagte es nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Er überwand seine Furcht und warf einen kurzen, vorsichtigen Blick auf seine Umgebung. Nichts regte sich, bis auf das Wasser, das sich in ringförmigen Wellen um ihn herum ausbreitete. Er wünschte sich, er wäre in der Lage, irgendjemanden anzufassen, zu schütteln, festzustellen, ob er noch lebte, aber er konnte es nicht. Und wenn er der einzige Überlebende war? Er wurde von Panik überfallen, eine eiserne, tiefe Furcht ergriff ihn und drohte die Kontrolle über ihn zu erlangen. Das Wasser lähmte seine Schritte wie Bleigewichte, als er, ohne nach links und rechts zu blicken, den Gang entlanghastete. Es war ein Gefühl wie jenes, in einem Zementklotz zu stehen und von Gangstern in die Themse geworfen zu werden, dachte er und versuchte, irgendetwas zu finden, was ihm helfen konnte. Er hatte das Gefühl, dass er sein Gepäck brauchte, wusste aber nicht, wo er suchen sollte; er war vollkommen orientierungslos.
Plötzlich bemerkte er ein gurgelndes, saugendes Geräusch, Gluckern von Wasser, dann ein kaum spürbarer Ruck. Er hatte nur einen Gedanken: Das Flugzeug war im Begriff, im schlammigen Grund des Amazonas zu versinken, und er konnte es nicht aufhalten. War der Wasserpegel im Wrack nicht schon einen Zentimeter gestiegen, oder zwei? Wie hoch hatte das Wasser vor einigen Minuten gestanden? Er erinnerte sich nicht, aber in dem abgestürzten Flugzeug hielt ihn nichts mehr, er wollte nur noch nach draußen.
Wo und wie hätte er hinterher nicht mehr sagen können, aber er fand schließlich einen Werkzeugkoffer. Er riss ihn auf und ergriff mit zitternden Händen irgendein stabil aussehendes Gerät und hieb verzweifelt mit fahrigen Bewegungen auf eine Fensterscheibe ein, wieder und immer wieder, bis sie splitternd zerbrach. Erst jetzt bemerkte er, dass die Fenster zu klein zum Durchschlüpfen waren. Panisch kämpfte er sich durch das immer tiefere Wasser vor bis zur Tür, betätigte die Notöffnevorrichtung und riss die Tür auf. Hastig stürzte er aus der unheilvollen Maschine.
Draußen erwartete ihn eine grüne Hölle. Er stand bis zu den Schultern im Wasser, der Untergrund war schlammig. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Zurück zum Flugzeug ganz sicher nicht. Allein der Gedanke löste ein beklemmendes Gefühl in ihm aus. Zur Flussmitte, zum anderen Ufer schwimmen? Um ihn herum waren nichts als Bäume. Ein Gewirr aus Gehölzen, Büschen, blühenden Sträuchern und Pflanzen aller Art, die meisten kannte er nicht. Dazwischen flatterten Vögel, Schmetterlinge und Insekten, Millionen, Milliarden, unzählige. Schon nach wenigen Sekunden wusste er die heimlichen Herrscher des Regenwalds kaum noch abzuwehren. Hilflos stand er im Fluss, als er Bewegungen im Wasser entdeckte. Vergeblich versuchte er sich zu entsinnen, in welchen Gebieten der Erde Piranhas vorkamen, sein Gehirn war leer, überschwemmt von den Sinneseindrücken der letzten ... Stunden? Oder waren es nur Minuten gewesen, die seit dem Absturz der Maschine vergangen waren? Er schob den Ärmel seines Anzugs zurück, hob seine linke Hand vor sein Gesicht und stellte fest, dass seine Uhr stehengeblieben war. Durch den Absturz, durch das Wasser, er wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Selbst wenn es keine Piranhas waren, irgendwelche Krokodilarten waren sicher in Südamerika verbreitet. Er wusste nicht, was ihn im Dschungel erwartete, aber im Wasser wurde ihm unwohl, nicht nur wegen der Kälte. Zitternd watete er auf das Ufer zu, gegen die Strömung der Fluten des fremden Gewässers ankämpfend.
Endlich erreichte er das Ufer. Er warf einen Blick zurück, auf das Flugzeug, das in einiger Entfernung dicht unter der Wasseroberfläche in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch das Blattgewirr der dichten Baumdecke drangen, silbern glitzerte, und schauderte. Außer ihm schien kein Passagier entkommen zu sein.
Dem exotischen Wald schutzlos ausgeliefert und völlig allein stand er da. Wie sollte er aus dem Regenwald herausfinden? Wo sollte er hin, konnte er überhaupt überleben? Welche Richtung führte zu zivilisiertem Leben, welche immer tiefer in die tödliche Natur? Er begann zu rufen, sah aber bald ein, dass es keinen Sinn hatte. Hier war niemand, der ihn hören konnte.
Gerüchte von Naturvölkern kamen ihm in den Sinn, Gesprächsfetzen, Erinnerungen. Unzivilisierte Wilde, fest im Aberglauben an Geister und die Lebendigkeit des Dschungels verwurzelt ... Noch ein Wort fiel ihm ein.
Kannibalen.
Es war ein lächerlicher Gedanke, aber in der Einsamkeit des wilden Regenwaldes, fernab jeglicher Zivilisation, erschreckend. Die eiserne Furcht umklammerte ihn mehr und mehr. Er konnte längst nicht mehr klar denken. Von Furcht und Verzweiflung getrieben streifte er durch das Gebüsch. Ein Hoffnungsschimmer erfasste ihn, als ihm der Gedanke an Siedlungen in den Sinn kam. Vielleicht traf er Forscher, oder ein Naturvolk, das von irgendwelchen Missionaren zumindest ansatzweise zivilisiert worden war. Die abwegigsten und absurdesten Gedanken kamen ihm, nur auf der Suche nach etwas, an dem er festhalten, auf das er hoffen konnte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch, das sich von den anderen unterschied. Es klang anders als die Geräusche der Vögel, der Insekten und der anderen Bestien, die noch in dieser Wildnis lauern mochten. Es war nicht das leise Plätschern des Wassers, das Rauschen des Windes oder das Rascheln der Bäume. Er hielt inne und lauschte. Was war das? Ein speerbewaffneter Kannibale? Eine Schlange? Ein Alligator? Oder der Suchtrupp einer nahe gelegenen Missionarsstation, die den Flugzeugabsturz beobachtet hatte? Seine Rettung oder sein Tod?
In der nächsten Sekunde wusste er es.