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An der Grenze
14. Oktober. Als ich meiner zukünftigen Behausung vorhin das erste Mal ansichtig wurde, bereute ich sofort meinen leichtfertigen Entschluss. Die windschiefe abgelegene Hütte – ich wage einfach nicht, diesen Verschlag als Haus zu bezeichnen – ermangelt mit ihrem einzigen Zimmer ja jedweden Komforts. Äußerlich macht sie sogar einen regelrecht verfallenen Eindruck und in eben diesem Moment bin ich vollkommen überrascht, dass die alten Bretter die Wärme des von mir entzündeten Feuers in einem Maße halten, das meinen weiteren Aufenthalt hier überhaupt erst ermöglicht.
Auch das Meublement scheint eher dazu angetan, mich hier bald wieder zu vertreiben, denn mir meinen Aufenthalt angenehmer zu gestalten. Allein an dem klobigen Schrank, dort in der Ecke, habe ich mir heute zwei Splitter gerissen und der unförmige Stuhl, auf dem sitzend ich diese Zeilen niederschreibe, erwies sich früher am Tage als wahrhaftes Hindernis für meine Studien.
Doch was klage ich! Der Hauptgrund, warum ich der Großstadt den Rücken kehrte war ja, dass sich zu großer Luxus als noch viel fataler für mein Lernen erwies, als es abgeschiedene Einfachheit je könnte. Gerade eben erst schloss ich, nach gutem Vorankommen, meine Bücher. Vor allem aber die Natur wird mich mit ihrer kargen urtümlichen Majestät wohl für so einiges entschädigen. Am liebsten hätte ich gleich nach meiner Ankunft einen ersten ausgedehnten Spaziergang unternommen, doch dann besann ich mich, lieber bis zum morgigen Tage zu warten, da ein Streifzug in verlassener unbekannter Umgebung am Besten unternommen wird, wenn der ganze Tag noch vor einem liegt.
Gerade vollendet die Sonne, die hier eine ganz andere zu sein scheint, als die, die ich von zu Hause gewöhnt bin, ihre flache Bahn, dabei den ehedem mattgrauen Himmel in allen Farben von orange bis violett entzündend. Vom Meer her pfeift ein Wind heran, der sich schwer trägt mit Salzgeruch und der Melancholie der weiten See.
Nun werde ich mich aufs Neue meinen Studien der Physik widmen – bis zum Frühjahr habe ich noch einige Versäumnisse wettzumachen.
15. Oktober. Seltsam – meine Uhr zeigt mir, dass es nunmehr halb vier Uhr früh ist und dennoch verspüre ich noch keine Müdigkeit. Es ist ja, als wären mein Körper wie auch mein Geist aufgeweckt wie selten zuvor und auch spüre ich etwas, wie die schwachen Anzeichen einer gespannten Erwartung. Mittlerweile habe ich wohl gefallen an meiner Situation gefunden!
Wie dem auch sei, eine weitere halbe Stunde werde ich der Physik noch zugestehen und mich dann – mangelnde Müdigkeit hin oder her! – in jenes massive Bett unter dem Fenster legen, denn morgen ist auch noch ein Tag.
15. Oktober. Der zweite Tag meiner Anwesenheit hier neigt sich nun dem Ende zu. Wieder wandeln sich die ohnehin langen Schatten zu einer allumfassenden Dunkelheit und die Sonne verschwindet derart restlos und vollendet, dass es schwer fällt, sich ihrer zu erinnern.
Mit meinem selbstgewählten Exil freunde ich mich immer besser an. Als die Morgendämmerung gerade einsetzte, brach ich zu meinem begierig erwarteten Spaziergang auf und kann nun sagen, dass es nicht der letzte dieser Art gewesen sein wird. Denn wiewohl die norwegische Landschaft schroff und den Menschen gegenüber abweisend ist, so vermag sie doch einen jeden Charakter für sich einzunehmen – einem Romantiker vermag sie wohl das Herz zu brechen, das Heft eines Poeten mit ihren tausendfachen Schönheiten übervoll werden lassen und den Adepten des Übernatürlichen muss sie zwangsläufig in eine helle Begeisterung versetzen.
Fjorde schneiden hier weit hinein in dieses unveränderliche Land, ehrwürdige Bäume stemmen sich in festgefügten Gruppen gegen die Naturgewalten oder trauern still verlassen und tot dem eignen Leben nach. Der frostig beißende Wind gibt allem hier seine Form und drückt auch dem Vorübergehenden seinen Stempel auf, wenn er mit herrischer Stimme erzählt und gebietet. Das ganze Land wirkt wie durchdrungen von den Sagen und Legenden der wenigen hier Lebenden, als erhielten diese abergläubischen Worte und Schriften besondere Bedeutung allein durch das Fernsein dessen, was wir als moderne Zivilisation zu bezeichnen pflegen.
Doch so wundervoll dies alles ist, so wohnt ihm doch auch eine niederdrückende Traurigkeit inne, der sich nichts und niemand zu entziehen vermag. Fast mutet es seltsam an, dass hier am Polarkreis überhaupt Menschen leben können, ohne Tag aus Tag ein in stetigem Wehklagen zu verbringen. Indes, es gibt sie auch hier, die Menschen. Nur ein kleines Stück landeinwärts, hinter der sanften Wölbung eines grasbewachsenen Hügels befindet sich ja das kleine Dorf der alten Frau, die sich für ein geringes Entgelt dazu bereit erklärte, mich hier mit dem Nötigsten zu versorgen. Auf dem Rückweg von meiner Wanderung kam ich dort hindurch und ich muss doch feststellen, dass die Dörfler eine ausgesprochen enge und verschwiegene, ich möchte fast sagen, der Welt abgewandte Gemeinschaft bilden. So verwundert es mich auch nicht mehr ganz so arg, dass der vormalige Bewohner meiner Hütte die regelmäßigen Klänge der anbrandenden Wellen und die Laute der Natur dem Klang der stets geheimnistuerischen Stimmen seiner Mitmenschen vorzog.
Als Beispiel sei hier nur einmal jene bereits erwähnte Alte angeführt: Heute morgen, als sie mir in aller Frühe ihren ersten Besuch abstattete, um wie vereinbart einen Laib Brot abzuliefern, sprach sie kaum ein Wort über die Begrüßung hinaus! Sie betrat einfach in ihrer schlurfenden Art meine Kammer, legte das Brot ab und war dabei beinahe auffallend unauffällig – fast schien es, als zöge einfach ein schwacher Lufthauch durchs Zimmer und nicht als ginge hier eine lebende Person.
So schrak ich auch gehörig zusammen als sie – ohne das Zittern in der Stimme, das ich ihr aufgrund ihres eingefallenen, gebeugten Aussehens schon gedanklich verordnet hatte – zu sprechen anhob. Sie sagte nicht viel, eigentlich sogar nur ein Wort und auch dies nicht laut. Doch aufgrund ihrer vormaligen Wortkargheit und vielleicht auch aufgrund einer bei mir bereits einsetzenden Entwöhnung von menschlichen Stimmen, erschien mir dieses eine Wort erschreckend bedeutsam. Es war der Name des einsiedlerischen Fischers, der diese Hütte erbaut und bis zu seinem Tode bewohnt hatte: „Matias Askildsen.“
Darauf stand sie einen Augenblick lang mit leicht gebeugtem Kopf in der Tür. Gerade wollte ich sie ansprechen und sie fragen, warum sie diesen Namen genannt habe, da spannte sich plötzlich ihre schmächtige Gestalt und sie blickte sich in einer Art um, die mich glauben machte, sie sei über ihre eigenen Worte erschrocken. Dann war sie fort.
18. Oktober. Noch habe ich offenbar gewisse Schwierigkeiten mich hier einzugewöhnen. Zwar erfüllt mich mein eigener Arbeitseifer mit einem eitlen Stolz und auch die lieblos hingezimmerte Hütte hat schon einen vertrauten Zug angenommen, wenn ich sie, von einer Wanderung zurückkehrend noch aus der Ferne erblicke, wie sie gebeugt und dennoch trotzig sich den peitschenden Winden entgegenstemmt und sich in Richtung der rollenden Wellen lehnt – ja, sogar an die verhärmte Alte habe ich mich leidlich gewöhnt! Doch eine andere Sache bereitet mir ein gewisses Ungemach: Seit ich hier bin habe ich, das erste Mal überhaupt in meinem Leben, mit Schlafproblemen zu kämpfen.
Dies äußert sich dergestalt, dass ich zunächst bis spät in die Nacht hinein nicht das geringste Bedürfnis verspüre mich zur Ruhe zu legen. Dabei hätte ich eigentlich angenommen, dass die andauernde pechschwarze Düsternis an diesem Ort ganz dazu angetan sei, auf einen Menschen, der sie nicht gewöhnt ist, einschläfernd zu wirken.
Wahrhaft befremdlich werden diese meine Anwandlungen jedoch erst, wenn ich dann doch beschließe mich zur Ruhe zu begeben, wie es auch in der vergangenen Nacht der Fall war.
Denn kaum schlüpfte ich unter die Bettdecke, da überkam mich endlich eine beinah überwältigende Müdigkeit, die sich in einer plötzlichen Schwerfälligkeit des Geistes und dem Erschlaffen des gesamten Körpers äußerte. Dieser Umschwung in meinem Empfinden überraschte mich regelrecht, doch ehe ich noch einen klaren Gedanken dazu fassen konnte, umfing mich bereits die Dunkelheit und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Dieser aber währte nicht lange. Denn bald schon fand ich mich bei vollem Bewusstsein wieder, in die Finsternis über mir starrend. Wiederum war ich hellwach, meine Sinne gespannt, als sei es mitten am Tage und ich völlig ausgeschlafen. Mir war, als hätte mich etwas geweckt – doch was vermochte ich nicht zu sagen. Eigentlich kam ja nur ein lautes Geräusch in Frage, doch konnte ich mich eines solchen nicht entsinnen und so angestrengt ich auch lauschte: Draußen war nichts als die gleichmäßigen Harmonien von Wind und Wasser.
Eine ganze Weile horchte ich, von der unerklärlichen Überzeugung beseelt, dass es etwas zu hören geben musste, dass da etwas war – doch blieb solches Forschen ergebnislos. Im Dunkeln liegend überlegte ich, ich sann über die Ursache meines Erwachens nach. Ich dachte und dachte und so fruchtlos meine Überlegungen auch blieben, sie dauerten fort, als unterlägen sie einem mir unbekannten Automatismus.
Bald schienen sie mir gar immer verworrener zu werden, mir selbst in ihren Strukturen fremd. Letztlich wollten sie, so schien es mir, sogar Bahnen nehmen, die durch keine Beobachtung oder Erfahrung durch mich geebnet waren und ich wurde immer unruhiger.
Das Ganze bereitete mir mittlerweile ein steigendes Unbehagen und so sprang ich schließlich förmlich aus dem Bett auf die Füße.
Selbstverständlich kam ich mir in der Folge schrecklich albern vor, wie ich schlotternd und frierend um Gott weiß wie viel Uhr mitten in meiner Hütte stand. Was mich eben noch in Unruhe versetzt hatte war nun fort, erschien unwirklich fern und so legte ich mich wieder hin.
Kurz darauf war ich wieder eingeschlafen.
So oder so ähnlich lief es bisher jede Nacht – bloß dass in keiner der bisherigen Nächte diese befremdliche Erscheinung von einer solchen Intensität gewesen war.
Wäre ich mir nicht so sicher, gegen jede Form von derartigem primitiven Grusel immun zu sein, müsste ich mutmaßen, dass meine Schlafstörung mit der mir bekannten jüngeren Geschichte meiner Behausung zusammenhinge. Doch da meine Natur eben keine solch einfältige ist und ich auch nicht über die schwärmerische Art Jonathan Smith’ verfüge, der mir dieses bescheidene Heim zuschanzte, muss ich wohl nach anderen Ursachen forschen.
Oder aber es dabei bewenden lassen und darauf vertrauen, dass in Bälde Besserung eintritt.
20. Oktober. Diese unselige Alte! Nicht nur, dass sie es mit ihrer schleichenden, nuschelnden und verschwiegenen Art immer noch aufs Trefflichste versteht, mir die Nerven zu rauben, nein, jetzt scheint sie sich auch noch das Laster der Unpünktlichkeit zu eigen machen zu wollen!
Am gestrigen Tage kam sie zwei Stunden später als üblich, so dass sie mich gerade noch im Fortgehen antraf. Doch damit nicht genug, blieb ihr Besuch am heutigen Tage einfach gänzlich aus. Zum Glück brauche ich deswegen keinen Hunger zu leiden, da mein Verbrauch bislang recht sparsam war. Vielmehr erzürnt mich solches Fehlverhalten an sich: Ist es denn so schwer, an einem so kurzen Tage die rechte Stunde zu treffen?
Wahrscheinlich trägt zu meinem Unmut aber auch nicht unerheblich die Tatsache bei, dass meine Uhr – ein nicht billiges französisches Fabrikat – mir, als wolle sie der Unpünktlichkeit der Alten einen Anschein von Normalität verleihen, den Dienst versagte. Indes, auch mein Ärger darüber hält sich in erträglichen Grenzen, da Zeit für mich hier sowieso keine wichtige Rolle spielt. Wie sollte sie auch, hier oben, wo sich doch nur Dämmerung und Dunkelheit abwechseln und einem geregelten Tag kein Raum bleibt? Wo ich in keine Gesellschaft eingebunden bin, die eine funktionierende Uhr zur Notwendigkeit machte?
Doch trotz dieser beiden kleineren Ärgernisse habe ich auch Erfreuliches zu verzeichnen. So sah ich mir, es muss gegen Nachmittag gewesen sein, das Boot des alten Fischers an, das hier noch am Ufer liegt, als beweine es im Angesicht der Fluten seinen ehemaligen Besitzer. Ich fand es zwar gezeichnet von allem, was das Alter einer solchen hölzernen Konstruktion bescheren kann, doch wie mir scheint dennoch völlig seetauglich.
Der Wind hat deutlich nachgelassen, in diesem Augenblicke dringt sein mattes Streichen übers Dach ja kaum noch an mein Ohr und so überlege ich nun ernsthaft, am morgigen Tage eine Fahrt darin zu wagen.
21. Oktober. Meine Nerven scheinen sich in einem höheren Zustand der Angespanntheit zu befinden, als ich es bislang annahm. Mein Geist, den ich eigentlich für außerordentlich prosaisch und mit wenig Fantasie begabt erachtete, spielte mir heute einen bösen Streich, der mich immer noch schaudern macht, wenn ich nun vernehmen muss, wie das wiedererwachte Tosen an meinem Hause rüttelt, als handle es sich um eine riesenhafte Hand.
Wiederum geht ein kurzer Tag zur Neige, träumt sich davon in die Fänge der Nacht, die ihn in ungewisser Absicht umfangen. Um so wichtiger ist es nun, da alles Licht aus der Welt weicht, dass ich meine Erlebnis nüchtern und klar niederschreibe, um mir entweder vor Augen zu führen, dass sie auf einer bloßen Sinnestäuschung beruhen oder aber den Naturgesetzen unterliegen wie alles andere auch.
In aller Frühe erhob ich mich am heutigen Morgen, was mir, aufgrund der Tatsache, dass ich vergleichsweise gut geschlafen hatte, keine Schwierigkeiten bereitete. Als gerade die ersten rot-gelben Sonnenstrahlen in forschem Vorstoße sich ihren Weg von einem Horizont zum anderen erkämpften, stand ich bereits mit meinen festen Stiefeln im dunkel-klammen Sand und besah mir noch einmal das Fischerboot. Nie sah ich ein Gefährt, auf das die Bezeichnung „Nussschale“ derart zuzutreffen schien!
Doch so genau ich es auch prüfte, so gewissenhaft ich es auch testete, es schien, trotz seines abgewrackten Äußeren, nur darauf zu warten, dass ich eine Fahrt in ihm unternähme.
Auch das Wetter schien sich meinem Vorhaben gegenüber gnädig zeigen zu wollen. Nur gelegentlich spürte ich eine schwache Böe an meinen Kleidern zerren. Und ließ ich meinen Blick über die salzigen Fluten gleiten, so zeigten sich nur an ihren Rändern zerrissen wirkende Wolkengebilde.
Durch die Aussicht auf meine bevorstehende Unternehmung in beste Laune versetzt und ein Liedchen pfeifend, kehrte ich noch einmal in meine Hütte zurück, um zum einen auf die säumige Alte zu warten und mir zum anderen meine wärmste Kleidung anzuziehen. Mir war nämlich durchaus bewusst, dass das Wasser die Kälte der vergangenen Tage zu speichern vermochte, auch wenn die Luft momentan eher mild war.
Beinah zu meiner Überraschung erschien meine Versorgerin letztlich doch noch, wenn auch mit leichter Verspätung. Sie war zwar schon wieder drauf und dran, mich in Rage zu bringen, mit ihrem unablässigen Gemurmel und dadurch, dass sie einfach nicht eingestehen wollte, am letzten Tage nicht erschienen zu sein. Letztlich aber beschloss ich, zu nehmen, was sie mir brachte und sie dann so gut es eben ging zu ignorieren, bis sie die Tür wieder hinter sich zuzog.
Schließlich verließ auch ich wiederum meine Behausung und machte mich daran, das Fischerboot ins Wasser zu ziehen. Obwohl ich selten zuvor in meinem Leben gerudert war, empfand ich es nicht als besondere Mühsal, zumal das Wasser noch immer nahezu unbewegt dalag. Ein gutes Stück fuhr ich hinaus und dann weiter und wiederum weiter und schon bald hatte mich diese Unternehmung ganz in ihren Bann geschlagen. Denn mir war hier ja nicht, als ruderte ich schlicht vom Ufer fort, eine gewisse nicht all zu große Distanz aufs Meer hinaus, nein, vielmehr war mir, als begäbe ich mich in eine andere Welt. Die Hütte und der raue Strand, die in den vergangenen Tagen mein eng abgegrenzter Lebensraum gewesen waren, schrumpften zu überschaubaren Ausmaßen zusammen, der düster dräuende Wald, der bislang mein Horizont gewesen, ward nunmehr nichts als eine unvollkommene Linie. Der salzig herbe Geschmack der See füllte jeden meiner Atemzüge und das gemächliche Rauschen des Wasser, wie auch das leise Pfeifen des Windes wurden mir zu einer zweiten vollendeten Stille.
Meine Gedanken, bislang grimmig in die Rätsel der Physik verbissen, lösten sich im Anblick einer Majestät, die sich unendlich aus der Leere zu speisen vermag. Bald war ich erfüllt von einer schwankenden und still enthusiastischen Verzückung.
Auch die Sonne schien meinen Übergang von einer Welt in die andere begünstigen zu wollen und breitete die wenigen traumgleichen Farben, die sie diesen Regionen vorbehält, über alles aus, wie eine schwere Decke.
Schließlich gefiel ich mir darin, das Rudern bleiben zu lassen und mich meinen Beobachtungen und Überlegungen hinzugeben. Nur selten war mein Eingreifen von Nöten, um meine relative Position zum Ufer zu halten.
Es ist erstaunlich, welche Wendungen menschliche Gedanken dort draußen in der dunkel undurchsichtigen Einsamkeit nehmen können! Andererseits scheint dies auch nur zu plausibel: Denn kaum ein Gedanke wurde dort bereits gedacht, an keiner gewichtigen Philosophie wurde dort gefeilt und keine Spinnerei tat dort je einer als eine solche ab.
Beinah war mir, als speisten sich meine wandelbaren und exotischen Fantastereien direkt aus den sich unter mir zusammenballenden und sich selbst umströmenden Tiefen. Auch meine Studiererei tat wohl ihr Übriges, so dachte ich etwa: Ist denn die Zeit nicht nur ein Hirngespinst des Menschen? Eine abstruse, erst durch ihn aufgestellte Verhältnismäßigkeit? Die Natur kennt keine Verhältnisse, kein Maß und keine Vernunft, wie soll es also anders sein? Und wenn dem so ist, müsste dann die Zeit nicht auch ganz schauerlichen Wandelbarkeiten unterworfen sein, wenn der Mensch, der in ihr lebt über sie in höchste Verwirrung gestürzt wird, so wie ich hier am Rande der Welt? Und letztlich: Wenn es mit der Zeit sich so verhält, wie ist es dann mit all den Dingen in der Welt, wo doch die Zeit, wie jüngst vermutet wird, in einer ganz eigenen engen Verbindung zu Raum und Materie steht? Waren es vielleicht solche Schlussfolgerungen die flatterhafte Naturen wie mein Freund Jonathan Smith ständig anstellten und die ihnen dann als Grundlage für ihre beunruhigenden Thesen dienten?
Irgendwann jedoch wurde mir solch seltsames Sinnen selbst unangenehm, wollte aber dennoch nicht so recht von mir weichen, als handle es sich um einen Albdruck. Ich versuchte mit aller Macht mich abzulenken, meine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, doch das Resultat war nur noch erschreckender, als dass es in einem aufkeimenden Gefühl der Beklemmung bestand. Mir war, als sei ich nicht mehr Herr über mein Schicksal, als sei ich nunmehr schutzlos dem urtümlichen gewaltigen Element, das auch das Schicksal des stolzen Atlantis besiegelte, völlig ausgeliefert.
So schreckte ich endlich doch noch aus meinen Überlegungen hoch und siehe da, dies geschah gerade noch rechtzeitig. Aufgrund meiner Unachtsamkeit war ich schon ein gutes Stück von meiner angestrebten Position abgetrieben. Überdies erstarkte der ehemals schwache Wind und zielte in eine für mich denkbar ungünstige Richtung.
Überhastet schüttelte ich also die letzten Reste meiner Verträumtheit ab und machte mich daran, zur Küste zurück zu rudern. Zuerst ging dies noch gut voran, doch als sich bereits die erste Anspannung von mir löste, legte der Wind noch deutlich zu. Immer größer wurden nun die blanken Wellenleiber und immer kräftiger wurden die Stöße, die sie meinem Gefährt versetzten. Der Schweiß trat mir aus allen Poren und ich bereute bereits, mich derartig warm angezogen zu haben. Das Licht um mich stürzte förmlich ins dunkelrote, als hielten nun die Urgewalten Gericht über mich, für meine mangelnde Umsicht im Umgang mit ihnen.
Kurz darauf schon war es nur noch ein einziges Treiben und Rütteln, das mich mit echter Panik erfüllte.
Bootslänge um Bootslänge rückte ich dem rettenden Ufer näher, doch fürchtete ich schon, dass meine Kräfte bald erschöpft sein würden. Ganz war ich so in meinen Kampf mit den Fluten verstrickt, da wurde ich einer eigentlich recht unscheinbaren Erscheinung an der Küste gewahr, die mir unerklärlicher Weise und trotz der unmittelbaren physischen Gefahr, das Blut in den Adern gefrieren ließ. Etwas noch nicht genauer zu erkennendes, längliches dunkles, befand sich dort, direkt neben meiner Hütte.
Angestrengt starrte ich hin, doch das heftige Schaukeln machte es mir unmöglich, genaueres zu erkennen. So erhöhte ich noch einmal meine Anstrengungen, denn obwohl dieses etwas dort mich instinktiv beunruhigte und verunsicherte, war ich doch gleichzeitig erpicht darauf, zu erfahren, worum es sich handle.
Schwer atmend und keuchend und inzwischen völlig durchgeschwitzt verkürzte ich die Distanz immer weiter. Schließlich bestand kein Zweifel mehr, so unmöglich mir diese Erkenntnis auch rein emotional schien: Das dort am Ufer, war ein Mensch. Einer von recht hoher Statur, mit breiten Schultern, ganz in schwarze Kleider gehüllt. Die Hände hatte er zu den Augen geführt, wahrscheinlich, um sie gegen die glühenden Strahlen der Sonne zu schirmen, denn eins war klar: Er beobachtete mich.
Ein neuerlicher Schauer unliebsamer Erkenntnis lief mir den Rücken hinab und dennoch: Ich bis die Zähne zusammen und arbeitete mich mit aller Kraft meinem Ziel entgegen.
Naheliegende wie auch unsinnige Fragen, rationale wie auch verstörende Antworten auf diese durchwanderten meinen Geist, was es wohl mit dem Fremden auf sich habe.
Nun aber machte ich ein weiteres Detail aus und dies verdoppelte mein Unwohlsein noch einmal: Die Gestalt nämlich stand zwar durchaus zu mir gewand und auch ruhten seine Hände an seinen Augen, doch taten sie dies nicht etwa, weil er mich beobachtete. Vielmehr lagen seine Hände flach auf seinem Gesicht, so, als versuche er es vor mir zu verbergen!
Beinah hätte mich ob dieser Beobachtungen die Schwäche übermannt, doch fing ich mich gerade noch. Bis ich das Ufer fast erreicht hatte, heftete ich meine Blicke nun auf meine Füße, um mich meinerseits gegen jedweden weiteren Eindruck zu verwehren.
Letzten Endes grub sich mein Schiff mit einem vernehmbaren Knirschen in den Sand, ich atmete aus. Dann wappnete ich mich, sah auf und – erblickte lediglich meine Hütte, die stumm und verlassen dastand, wie eh und je.
Ich zitterte am ganzen Leibe und das nicht nur aufgrund der Anstrengung, als ich mein Boot an Land zog. Und obwohl sich darauf schon eine unwiderstehliche Taubheit meines Körpers zu bemächtigen suchte, raffte ich mich noch einmal auf und schritt die ganze Umgebung ab. Doch alles lag verödet und still da, der Fremde war verschwunden.
Ein unbedarfter Leser dieser Niederschrift müsste sich nun natürlich fragen, was mich jetzt einige Stunden später noch so in Erregung versetzt, wo dieser Vorfall zwar zweifelsfrei ungewöhnlich, aber doch alles andere als unerklärlich oder furchteinflößend ist. Und auch ich wäre nur zu bereit, mir diese Einstellung zu eigen zu machen, wäre da nicht ein unscheinbares aber merkwürdiges Detail.
Als ich nämlich nach meiner Rückkehr noch einmal den Strand abschritt, zeigte sich dort kein Abdruck eines fremden Schuhwerks.
24. Oktober. Die beiden letzten wie auch den heutigen Tag verbrachte ich in der Hauptsache mit dem Versuch, mein seelisches Gleichgewicht zurückzuerlangen. Der Physik indes widme ich mich nun kaum mehr. Vielmehr verlasse ich schon in aller Frühe – während das Land noch unter schwersten Finsternis begraben liegt – das Haus und durchstreife trotz des nasskalten Wetters raschen Schrittes die umliegenden Wald- und Hügellandschaften.
Es ist auch wirklich nötig geworden, sich früh auf den Weg zu machen, denn der eigentliche Tag ist nur noch von einer kaum zu ertragenden Kürze. Die Sonne geht ja gar nicht mehr richtig auf, sondern lugt nur noch verstohlen über den Rand der Welt!
Eigentlich hatte ich es mir zum Vorsatz gemacht, die Alte, die mich hier mit Lebensmitteln versorgt, ob ihrer immer schlimmer werdenden Säumigkeit zur Rede zu stellen, mehr noch, mich vielleicht im Dorf nach einer zuverlässigeren Person umzusehen. Doch muss ich gestehen, dass diesen Vorhaben etwas ebenso unerklärliches wie auch beunruhigendes entgegen steht: Ich wage es ja kaum noch, die Ankunft der alten Frau bei mir abzuwarten und auch um das enge nach innen gewandte Dorf mache ich mittlerweile einen großen Bogen. Und dies aus dem wunderlichen Grund, dass ich eine zunächst schwache nun aber bereits zu beträchtlichen Ausmaßen angewachsene Abscheu gegen beide verspüre. Seltsamerweise aber vermag ich hier für keine Ursache festzustellen, auch wenn mir das stumme Eigenbrötlertum der Einheimischen, wie ich schon einmal bemerkte, gehörig auf die Nerven fällt. Doch, so muss ich mir eingestehen, ich habe ja inzwischen ganz ähnliche Neigungen entwickelt…
Tatsächlich, die verödeten Wälder, im tiefen Schlummer ihrer seufzenden, ich-fixierten Trauer, sind mir zu einem letzten Quell der Kraft und der inneren Ruhe geworden. Stundenlang kann ich zwischen den alten Stämmen wandeln, wie geborgen unter den komplexen Bogenkonstrukten, die ihre Äste über mir errichten. Dort atme ich diese volle mit Mysterien geradezu aufgeladene Luft, die mich, so ich mich einen Augenblick lang auf ihren eigentümlichen Geruch besinne, die Bedeutungslosigkeit der Zeit, seien es Sekunden, seien es Äonen, begreifen lässt und den Wald wie auch das gesamte Universum in einem ganz anderen Lichte erstrahlen lässt. In solchen Momenten ist mir dann wiederum, als habe alles um mich nur die Bedeutung, die ich ihm in Gedanken zumesse, als könne ein Mensch sich allein Kraft seines Willens von aller Materie lösen oder aber sich für alle Zeiten an sie binden, als verlöre die Entfernung, der Raum an sich, jede Gewalt über mich und als liege hinter diesem Hügel dort hinten nicht das schattig enge Dorf, sondern… etwas anderes.
Ich versuche mich derartigen Überlegungen jedoch nicht all zu häufig hinzugeben, da ich glaube, dass sie wohl nicht dazu angetan sind, meinem Verstand die nötige Entspannung zu verschaffen. Stattdessen schüttele ich sie einfach ab, gehe noch ein wenig schneller und versuche nicht mehr zu denken, nach Möglichkeit auch nicht mehr zu sehen. Meistens habe ich Erfolg. Ich gehe einfach so lange, bis im Keilwasser der Dunkelheit die Kälte folgt. Dann kehre ich zurück in meine Hütte und falle, völlig erschöpft ins Bett.
Aber zu meinem Leidwesen ist es kein ruhiger tiefer Schlaf, in den ich dann verfalle, sondern nur ein schwaches Dösen, dass sich lediglich wie ein seidenes Tuch über mein Bewusstsein legt und jederzeit zerreißen kann. In solchen Momenten fühle ich mich oft wie beobachtet, als befände ich mich im Fokus einer fremdartigen Aufmerksamkeit. Ein heftiges Zittern bemächtig sich meiner mit einer Plötzlichkeit, als käme es nicht aus meinem innern hervor, sondern als sei von weit draußen hereingeflattert, gleich einer riesigen Fledermaus mit schwarzen unruhig schlagenden Flügeln. Auch wage ich nicht, zum Fenster hinaus zu spähen, aus einem Gefühl urtümlicher wie unbegründeter Angst heraus.
Noch ein letztes, das mich bedrückt, muss ich, der Vollständigkeit halber aufschreiben, bevor ich mich heute der Macht des unbarmherzigen Hypnos ergebe. Denn so gut mir meine Spaziergänge auch tun, so sehr sie mich vom Grübeln über unheilsamen Ideen abhalten, auch dort bin ich nicht ganz gefeit gegen die Ausgeburten meiner eigenen Phantasie.
Erst heute nämlich, schon spät am Nachmittag, als nur noch die höchsten Wipfel der Bäume das vergehende Abendrot zu erheischen vermochten, sah ich ihn wieder. Jene schmale ganz in schwarz gewandete Gestalt, die ein Stück weiter am Rande meines Weges stand. Unbeweglich wartete sie dort, als habe sie schon ewig gewartet und hielt die Hände vorm Gesicht. Ich fühlte mich zu nichts weiter im Stande, als von einem sengenden Entsetzen gepackt die schreckliche Figur anzustarren, wie sie dort stand, gleich einer Markierung, in den Boden gerammt, mir schwärzlichstes Unheil zu verkünden.
Und ich weiß nicht, ob ich noch in der Verfassung wäre, dies zu schreiben, wenn ich nicht, von übermächtiger Furcht übermannt, den Blick abgewandt hätte, nur um darauf festzustellen, dass die Erscheinung verschwunden war, als ich wieder hinsah. Mehr noch, sie war nicht nur verschwunden, sondern ich wurde sogar gewahr, dass dort, wo ich die schauerliche Vision gehabt hatte, sich ein dunkler, moosbewachsener, in etwa mannshoher Baumstumpf befand.
Vor Erleichterung und gleichzeitigem Erschrecken über das Ausarten meiner Überspanntheit wollte ich schon auf die Knie sinken, doch beschloss ich – und auf dieses seltene Zeichen von Willensstärke bin ich recht stolz – mir nichts mehr durchgehen zu lassen und stattdessen ging ich festen Schrittes weiter.
Und so werde ich es auch weiterhin handhaben: Mir nichts durchgehen lassen und festen Schrittes weiter.
27. Oktober. Wie hatte ich nur so einfältig sein können, wie, wie frage ich, hatte ich so leichtfertig auf die Robustheit meines seit jeher so empfindlichen Wesens vertrauen können? Warum floh ich nicht schon vor Tagen aus dieser entsetzlichen, nervenzerreißenden, verschlingenden Einsamkeit?
Und noch weiter muss ich mich fragen: Wie hatte ich damals, in jener Zeit, die mir heute so fern scheint, als hätte ich sie nicht selbst miterlebt, nur so dumm sein können, mit Jonathan diese verhängnisvolle Wette zu schließen? Diese kindische Mutprobe, die mich nun näher und näher heranstößt, an diesen Abgrund des Irrsinns?
Die letzten beiden Tage lang glaubte ich ja, das Schlimmste sei nun endgültig überstanden, frische Luft und Erholung hätten mich geheilt von jenem selbstverschuldeten Fieber brütender Gedanken. Doch weit gefehlt!
Noch immer, obwohl die Sonne der kargen Ödnis um mich gerade die Gnade ihrer ersten zarten Strahlen gewährt, kann nichts den unbeschreiblichen Albdruck von meiner Seele nehmen, den die vergangene Nacht hinterließ.
Eben war ich von meinem gewohnten ausgedehnten Spaziergang zurückgekehrt und war beseelt von jener gesunden Müdigkeit, die mir einen erquicklichen Schlaf zu verheißen schien. So entledigte ich mich rasch meiner Kleidung und schloss alsbald die Augen. Doch weder Schlaf noch eine recht Gemütlichkeit mochten sich bei mir einstellen, da sich alsbald ein heftiges Frösteln meiner bemächtigte. Der Raum war beherrscht von einer ganz außergewöhnlichen Kälte.
Einen Augenblick lang überlegte ich, mich erneut zu erheben und nach den Schwefelhölzern zu suchen. Dann jedoch gewann die Vorstellung im Dunkeln auf und ab zu gehen und nach den Hölzern tasten zu müssen für mich etwas unvernünftig schauerliches und so unterließ ich es. Überhaupt versuchte ich mich zu überzeugen, dass es heute gar nicht kälter sein könne, als in den vergangenen Nächten, dass solches Empfinden also bloße Einbildung sein müsse und ich mir derartiges nicht dürfe durchgehen lassen. Doch, was soll ich sagen, die Kälte blieb.
Und nicht nur dies, nein, sie schien, so aberwitzig dies auch klingen mag, ganz darauf bedacht zu sein, mir ein möglichst großes Unbehagen zu bereiten. Sie kroch förmlich zu mir unter die Decke und umhüllte mich wie eine zweite stechende, ziehende Haut.
Ans Einschlafen war nun kaum noch zu denken, zu etwas anderem jedoch fühlte ich mich auch nicht in der Lage. So blieb ich liegen. Ich lag da und starrte in jene unheilvoll vollkommene Finsternis über mir, die nichts, aber auch gar nichts, erkennen ließ. Beinah schon fiebrig starrte ich hinauf, als suchte ich etwas, etwa einen Ausweg aus meinem Dilemma.
Das einzige Licht im Zimmer war das der Sterne und auch dieses ist kaum der Rede wert, da es eher die Dunkelheit leicht grau zu färben schien, als sie tatsächlich zu durchdringen. Für einen Moment war ich versucht, aus dem Fenster zu blicken, das sich dort groß und fast quadratisch rechts über mir befinden musste. Dies allerdings war mir nicht möglich, denn so sehr dies auch allen Maßgaben der Vernunft widersprechen mag, ich spürte urplötzlich eine heftige Aversion gegen solches Tun, als sei in meinem Kopf ein schwerer eherner Riegel ins Schloss gefallen und es mir somit versagt.
Es ist nun aber eine eigenartige Lage, in der sich einer wiederfindet, der einerseits von einer solch unbegründeten Phobie ergriffen wird, andererseits aber mit sich überein gekommen ist, standhaft zu bleiben gegen jedes Hirngespinst, das er noch ersinnen mag.
Auf der einen Seite denkt er: Jetzt sieh schon hinüber zum Fenster, blicke hinaus und überzeuge dich, dass dort nichts ist, was deine Furcht lohnt.
Eine andere Stimme aber spricht mit ähnlicher Überzeugungskraft: Schau nicht hin. Damit machst du dich nur zum Sklaven deiner Einbildungen, indem du sie für wert erachtest, widerlegt zu werden.
Dann aber wieder die erste Stimme: Dieses Argument führst du nur an, weil du dich fürchtest, hinaus zu blicken. Schau hin!
Und so geht es weiter in einem fort, während der Betroffene weder ein noch aus weiß und immer nervöser und ängstlicher wird. Noch einige Minuten lang schmorte ich so im eigenen Saft. Schließlich jedoch hielt ich es nicht mehr aus, unmöglich war es mir, diesem inneren Drang zu widerstehen. Ich richtete mich leicht auf und wandte den Blick dem Fenster zu.
Zunächst war nicht viel zu erkennen. Die Dunkelheit starrte mich eindinglich an, wie sie es bisher auch von überall anders her getan hatte. Dann begann das Mondlicht vor meinen Augen mit silberner Farben die Konturen des Fensters nachzuzeichnen und sie mir immer deutlicher werden zu lassen. Innerhalb dieses Rahmens jedoch stand nach wie vor nur die altbekannte schwere belastende Düsternis.
Doch da! Gerade hatte ich mich entschieden mich abzuwenden und erneut die Augen zu schließen, da glaubte ich etwas hinter dem dünnen Glas erkannt zu haben. Vielleicht eine Bewegung oder eine Reflexion des geisterhaften Lichts dort draußen…
Bald jedoch erwiesen sich auch solche Thesen als unzureichend, während mein Starren zunehmend krampfhaft, mein Herzschlag immer schneller wurde.
Denn dort vor dem Fenster rührte sich nichts, sondern dort war einfach etwas, etwas unbewegtes, aber dennoch gegenwärtiges.
Ich glaube, dass mein Herz mir für einen kurzen Augenblick den Dienst versagte, als jeder Zweifel ausgeräumt war und mir die ganze Dimension des Schreckens begreiflich wurde: Dort draußen, direkt vor meinem Fenster stand, in diabolischer Ruhe und teuflischem Schweigen die Schreckgestalt, die ich seit meinem merkwürdigen Bootsausflug so oft zu sehen geglaubt hatte. Ohne jede Bewegung stand sie da, den Körper leicht nach vorn gebeugt, als schaue sie auf mich herab, doch wie sollte sie, denn wie immer bisher, hielt sie ja ihre Hände vorm Gesicht!
Mit einem markerschütternden Schrei blanken Entsetzens sprang ich aus dem Bett auf meine Füße. Erneut hefteten sich meine Blicke auf das Fenster oder viel mehr auf das dahinter – und somit in die gähnende Leere einer harschen Polarnacht.
Kaum jedoch hatte ich auch nur dazu angesetzt, erleichtert auszuatmen und alles meiner Fantasie zuzuschreiben, da brach ein fürchterliches Getöse los: Gleichzeitig das mir unnatürlich laut erscheinende Rascheln von Kleidern, das tiefe Ächzen des schweren Dachbalkens meiner Hütte, ein Surren, wie von einem Tau, dann ein durchdringendes Krachen. Und als wäre all dies noch nicht verstörend genug, zerriss ein widerhallender unirdischer Schrei die Nacht und obwohl er beinah so fort wieder abbrach und einer nachdrücklich lastenden Stille das Feld räumte, glaubte ich zu wissen, dass er noch weit übers Meer hinweg zu vernehmen sein müsse.
Ob solch unerwartenden Infernos taumelte ich zwei Schritte vorwärts. Weiter kam ich jedoch nicht, da ich, etwa in der Mitte des Zimmers, auf einen schweren schlaffen Körper traf, der von der Decke hing!
Ich teilte mir die Kammer mit einem Erhängten und soeben hatte ich seine kalte tote Hand berührt. Der Schock, den ich erlitt, war derart heftig, dass ich zu nichts mehr in der Lage war, als in den Winkel des Zimmers neben der Tür zu sinken und dort stumpf blickend kauern zu bleiben. Noch eine Weile glaubte ich den Schemen des Toten gleich einem Pendel vor und zurück schwingen zu sehen, letztlich drehte er sich nur noch hin und her. Zum Schluss aber schienen meine ungläubigen Blicke ihn ganz und gar aufzulösen und ich fand mich wieder allein in der Dunkelheit – sofern man denn in Gegenwart eines Leichnams nicht ohnehin allein ist!
Bis gerade eben zum Beginn der Dämmerung saß ich so von meinem Erlebnis nahezu aufgezehrt in jener Ecke des Zimmers. Dort brütete ich, zuerst taub und langsam, dann immer reger und analytischer über dem Erlebten. Und das Ergebnis solchen Überlegens ist nur eins: Was ich in der letzten Nacht hörte, was ich in der letzten Nacht sah, war keine Einbildung. Es war die Realität in ihrem hässlichsten Gewand.
27. Oktober. So sind denn meine bizarren Erlebnisse an diesem Ort, am Rande unserer Welt – vielleicht in mehr als einem Sinne – zu einem ebenso überraschenden wie auch scheußlichem Ende gekommen. Ich werde von hier fortgehen und auch wenn es schon dunkelt, mir soll es egal sein. Irgendein Zimmer und sei es auch noch so klein und unbehaglich, wird sich in dem weltfremden engen Dorf schon noch finden lassen. Doch auch wenn ich auf der Straße schlafen muss – hier bleibe ich nicht länger.
Aber nun von Anfang an.
Nach der letzten nervenaufreibenden Nacht war mein erster Impuls natürlich, gleich dem jedes vernünftigen Menschen in meiner Situation, sofort zu verschwinden.
Etwas jedoch, sei es eine unbestimmbare Kraft oder auch nur eine gewisse Verschrobenheit, die mir durch meine Erfahrungen hier zu eigen geworden sein mag, hinderte mich an solch überstürzter Flucht. Gleich einer unsichtbaren Kette band mich eine bis dahin unbekannte Obsession oder auch ein temporärer Wahn an diese vermodernden Balken, die mir bislang eine trügerische Zuflucht gewesen waren.
Auch meine wohl verständliche Unruhe verringerte sich alsbald auf ein Minimum gespannter Erwartung und mittlerweile weiß ich dieses seltsame Gefühl, das mich an der Flucht hinderte, zu deuten: Es war dasjenige, das einer erfährt, der ein spannendes Buch in wilder Hast bis zur letzten Seite verschlingt und es nun plötzlich, vor dem Lesen der entscheidenden letzten Worte, weglegen und nie wieder anrühren soll.
Und so bleib ich. Auf einer rein rationalen Ebene war ich mir der Unvernunft meines Verhaltens voll und ganz bewusst – doch erwies sich dieses verfluchte Nicht-anders-können einfach als stärker als jede Vernunft.
Und so gingen die Stunden dahin, schienen förmlich zu schleichen. Das Haus verließ ich heute nicht, vielmehr versank ich in ein zunehmend banges Warten.
Fast schon wollte ich doch meine Sachen packen und gehen, auf die letzten Seiten des ohnehin anrüchigen Buches verzichten, als ich eine Entdeckung machte. Ein augenscheinlich unwichtiges, wenn auch sonderbares Detail nur, doch wusste ich sofort, dass es für die Sache, in die ich hier hineingeraten war, von enormer Brisanz war.
An einer der Wände nämlich lag, zusammengerollt und unscheinbar, ein kurzes Stück Seil. Sofort sprang ich hinzu und untersuchte es genauer, nur um festzustellen, dass das Stück zu einem längeren Tau gehörte, das hier hinter einem Brett der unregelmäßigen Wand hervorragte. In aller Hast und mit der Frage im Kopf, warum mir das Tau nie zuvor aufgefallen war, machte ich mich an dem losen Brett zu schaffen und entfernte es.
Dahinter kam ein kleines Fach zum Vorschein und aus diesem zog ich einen Stoß Papier.
Eifrig und mit vor Aufregung zitternden Fingern warf ich die Bögen auf den hölzernen Tisch und machte mich dann sofort an die Lektüre. Die Handschrift war gedrängt und zeigte, besonders anfangs, alle Zeichen mangelnder Übung, die Rechtschreibung war miserabel. Zunächst mutete das Ganze wie eine Art Journal an, doch bald stellte sich heraus, dass der Verfasser es begonnen hatte, um sich bestimmte Beobachtungen, die er in letzter Zeit seinen Angaben nach immer öfter machte, von der Seele zu schreiben.
Meine Kehle schnürte sich mir förmlich zu, als ich die verstörenden Ähnlichkeiten zu meinen Erlebnissen bemerkte. Den Urheber dieser Aufzeichnungen schienen seine Visionen jedoch noch ärger heimzusuchen, als mich die meinen. Anfangs, so schrieb er, wäre da lediglich das schwache Gefühl gewesen, nicht allein zu sein, beobachtet zu werden. Dann folgten auch visuelle Erscheinungen zunächst nur in der Nacht und in Form konturloser Schatten.
Letztlich aber – und ab hier wurde die Schrift immer unleserlicher – sei jene Schattengestalt ohne Unterlass anwesend gewesen und habe immer deutlicher menschliche Züge angenommen, ja sogar menschliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt. Die Figur habe sich des Nachts zur Ruhe gelegt – zum äußersten Entsetzen des Verfassers in seinem Bett! – und habe sich jeden Morgen erhoben und relativ regelmäßig das Haus in Richtung Wald verlassen.
Dann jedoch folgten die wahrhaft traumatisierenden Zeilen der Niederschrift, die mich wohl bis ans Ende meiner Tage verfolgen werden und die auch der Verfasser in einem Zustand völliger seelischer Aufgelöstheit verfasst haben muss. Er beschrieb die mittlerweile deutlich erkennbare Gestalt der Erscheinung und – kaum mehr vermag ich fortzufahren, so tief sitzt mir das Grauen noch immer – er beschrieb in allen Einzelheiten genau meine Gestalt und meine Züge!
Letztlich folgen noch einige nicht mehr zu entziffernde, mit zitternder Hand geschriebene Sätze, dann muss der Schreiber vor lauter Grauen endgültig die Kontrolle über sich verloren haben.
Die Unterschrift auf dem letzten Bogen letztlich mag als „Matias Askildsen“ zu lesen sein.
Datiert ist der letzte Eintrag auf den 27. Oktober des letzten Jahres, den Todestag des Selbstmörders.