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An einem vorbei ziehen

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23.02.2004
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An einem vorbei ziehen

Es war ein regnerischer Tag im Dezember. Das Geräusch des vorbeifahrenden Autos zog sich in die Länge und wurde zu einerm Rauschen, während einige braune Ahornblätter im Fahrtwind wippten. Einige fielen in wilden Spiralen von den Bäumen am Rande der Straße.
Der Asphalt war an einigen Stellen dunkel vor Feuchtigkeit. Eine graue Wolkenschicht bedeckte den Himmel. Nicht untypisch für diese Jahreszeit. Der letzte Regen lag nicht lange zurück.
Er ging den gleichen Weg, wie jeden Tag. Soweit er denken konnte war er immer schon diesen Weg gegangen. Als er jung war und die Schritte mit Schwung lenkte. Niemals hastig oder zu schnell, doch voller Neugier und Tatendrang. Als die Blätter noch grün waren an den Bäumen am Straßenrand und von der Frühlingssonne beschienen wurden. Er hatte das Gezwitscher der ersten Vögel gehört und Schneeglöckchen am Wegesrand gefunden.
Langsam setzte er nun einen Fuß vor den anderen, beinahe andächtig. Er dachte daran, wie oft er hier gewesen war.
Lange würde er diesen Weg nicht mehr gehen können, das Wetter hatte sich zusehends verschlechtert. Es wurde kalt, stürmisch und nass. Manchmal bekam er auch schon den ein oder anderen Tropfen ab. Das war nicht gut, das spürte er in den alten Knochen.
Über die Jahre hatte auch der Weg gelitten. Die Löcher im Asphalt waren größer geworden. An einigen Stellen war nachgebessert worden, doch der Weg war alt und lag abseits und die Stadt hatte nicht genug Geld, um neu teeren zu lassen. Und so wich er nun den Pfützen und dreckigen Stellen aus, so gut es ging und erinnerte sich an den Sommer. Als die Straße nicht nass und schmutzig gewesen war, sondern trocken und heiß.
Er hatte es genossen wie die Sonne ihm ins Gesicht geschienen hatte und er in den kühlen Schatten der Ahornbäume eingetreten war, jedes Mal. Wie er barfuss die kleinen warmen Steinchen gespürt hatte unter seinen Sohlen, die rauen und die glatten Stellen.
Er lauschte. Die Vögel sangen schon lange nicht mehr. Damals, im Frühling, im Sommer, waren die Hecken und Bäume belebt gewesen vom Gesang der Rotkehlchen und Sperlinge.

Mit den Vögeln schien im Laufe des Herbstes auch die Lebendigkeit gegangen zu sein. Seither war der Himmel wolkiger, die Luft kälter und der Weg einsamer geworden.
Der Mann seufzte und blieb stehen. Im Frühling, im Sommer war der Weg voller Menschen gewesen. Menschen, die ihn begleitet hatten und die, die er ab und an getroffen hatte. Freunde und Bekannte, die mit ihm gegangen waren. Die spielenden Kinder und der Hund, oder der Postbote mit seinem Fahrrad.
Er hatte den Leuten zu gewunken, die in den Vorgärten Blumen hegten oder den Rasen pflegten. Er kannte die Menschen, junge und alte und sein Gruß wurde stets freudig erwidert. Eine kleine Gemeinschaft auf dem Weg.
Früher war er mit seinem Sohn hier gegangen. Doch der war nun fort. Wo genau, das wusste er nicht. Vielleicht hatte er seinen eigenen Weg gefunden, den er ging, dort wo er war. Vielleicht war der Weg ähnlich wie dieser. Vielleicht war es gerade Frühsommer, dort wo er war. Vielleicht nahm er nun schon seinen eigenen Sohn mit sich auf seinen Weg.
Wie gern würde er die Beiden nun bei der Hand nehmen. Er hatte seinen Enkel nie kennen gelernt.
Schwer auf seinen Stock gestützt ging der Mann einige Schritte weiter. Bis zur Abzweigung konnte er sehen, dort mündete der Feldweg, der ihn über den Hügel und zurück nach Hause brachte. Ein endloser Weg, wie ihm schien, aber es war ihm keine Last.
Für einen Augenblick flog ein Lächeln über sein Gesicht, als er sich erinnerte. Einige Male hatte er den Weg im Laufschritt zurückgelegt, zu seiner sportlichen Zeiten und dann hatte er zu Hause kehrt gemacht und war ihn noch einmal gelaufen. Mit dunklem Fleck auf dem T-Shirt war er dann heimgekehrt und hatte sich gut gefühlt.
Als der alte Mann den Kopf in den Nacken legte und den Himmel betrachtete schwebte die erste zarte Schneeflocke auf ihn zu und landete auf seiner Stirn. Er lächelte und hielt die behandschuhte Hand auf, noch eine oder zwei der spärlichen Winterboten zu fangen. Er lachte wieder, doch fiel in ein Husten und schnell zog er den Schal um seinen Hals wieder zu Recht und die Schultern hoch.
Auf den wenigen Meter zur Abzweigung fiel mehr Schnee und als er sich umdrehte, die Straße zurückblickte, erkannte er den Weg nur durch einen Vorhang aus Schneeflocken. Es war ein guter Weg gewesen, dachte er bei sich. Alles wurde weiß, die Zäune, die parkenden Autos, die Häuser. Die Hecken und die Briefkästen und die leeren Ahornbäume. Die Menschen wurden zugedeckt und die Erinnerungen an die Menschen.

Dieses letzte Stück des Weges, jenes Stück abseits der Straße über den Hügel, lag vor ihm. Wo hinter ihm der Asphalt und die Menschen waren, da lagen vor ihm die Ruhe und die Natur. Hinter ihm das Leben, das Erleben, das Tanzen und Singen. Hinter ihm Verkehr, die Stadt, der Trubel.
Schritt für Schritt betrat der Mann den Feldweg. Es wurde stiller um ihn und friedlicher. Das Graue, Harte, die scharfen Konturen der Stadt, er ließ sie zurück und stapfte dahin. In das, was weiches Grün zu sein pflegte, einst, im Sommer. Die hohen Gräser am Wegesrand, die im Vorbeigehen an den Beinen strichen, der Löwenzahn, verschmitzt zwischen den Steinen hervor wachsend. Schmetterlinge, die ihn ein Stück des Weges begleiteten. Der wilder Hafer, der sich im lauen Spätsommerwind wog. Schotter hier und da auf dem Weg, einmal ein Geldstück, dass jemandem verloren gegangen war.
Hier war ihm, als würde die Zeit etwas langsamer vergehen als in der Stadt. Dieser Teil des Weges war leise und andächtig. Hier vergingen die Sorgen, wenn der Blick über das Land glitt. Lärm wurde hier leiser gedreht und so hörte man das Zirpen der Grillen, oder das Rascheln im Gras. Obwohl der kürzeste Teil des Weges, so dauerte dieser gewöhnlich etwas länger, bevor er durchschritten war. Nicht, weil er unwegsam war, nein! Vielmehr, weil man hier gerne stehen blieb, dem Flüstern der Natur lauschte, etwas langsamer ging.
Doch jetzt lag alles unter einer weichen Schneedecke und selbst der kleine Pfad war kaum noch auszumachen. Nur die Erinnerung leitete ihn, wie all die Jahre. Leitete ihn sicher die Steigung hinauf, von wo aus man den Überblick hatte, über die Straße, den Weg, das Leben.
Etwas mühsam war es doch, den Hügel zu erklimmen für den alten Mann. Mehrmals hielt er inne, Atemwolken ausstoßend und mit schweren Schultern. Gedachte gar einmal daran umzukehren, doch diesen Weg nicht zu Ende gehen zu können brachte er nicht übers Herz. In seinen alten Lungen schmerzte die eisige Winterluft, es wurde kalt in seiner Brust. Seine Beine, er konnte kaum mehr das Bein heben, das Knie anwinkeln und seinen Körper stützen.
So zog er sich an seinem Stock hoch, langsam Stück für Stück den weißen Hügel hinauf, inmitten weißer Flur.
Das war kein gutes Zeichen, er spürte die Jahre, die auf ihm lasteten. Er spürte, als er den Hügel erklommen hatte, dass es Zeit war heimzukehren. Anzukommen, endlich. Und so zwang er sich noch einmal aufzusehen. Die Schneeflocken trieben ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Sicht, doch er sah alles so klar, wie noch nie.
Wann war er den Weg zum ersten Mal gegangen? So genau konnte er das nicht sagen, aber er wusste, es war lange, lange her und die Sorglosigkeit von einst kehrte auf einmal zurück. Nichts war mehr wie damals, aber das war in Ordnung.
Noch einmal stach es ihm in der Brust, als müsste sie zerspringen. Er keuchte.
Noch einmal blickte er zurück auf den Weg, seinem Weg.
Er lächelte und ging. Lächelte und kehrte, alt und müde wie er war, endlich und für immer heim. Da ward es abend und morgen. Und es wurde wieder Januar.

-Urheberrechte liegen bei mir-

 
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Ich konnte nicht sicher einordnen unter welche Rubrik ich die Geschichte stellen soll. Ich bitte um eure Einschätzung und gegebenenfalls zu verschieben, falls mein Motiv des Seltsamen und Surrealistischen sich nicht deutlich genug aus der Geschichte hebt.

 
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Ich danke dir für deine ehrliche Meinung.
Mir scheint, ich muss mehr über den Mann erzählen, um Sinn hinein zu bringen und die Geschichte interessanter zu gestalten und dann schließlich konkreter meinen Surrealismus zur Geltung bringen, der die "Aussage" untermauern sollte.
Dir braucht nichts leid zu tun, ich bin dankbar.
Gruß
Sam

 

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