Anarchist
Ja, dass ist dann wohl das Ende. Irgendwie kann ich es immer noch nicht ganz glauben. Warum ist es soweit gekommen und vor allem wie? In den letzen Minuten bevor der Henker (oder soll ich Scharfrichter sagen) kommt, weiß ich es immer noch nicht. Vielleicht sollte ich besser Henkerin oder Henker oder Scharfrichterin und Scharfrichter sagen, die ganze Doppelformen haben mir ja den Kram erst eingebrockt. Irgendwie zumindest. Fang ich mal von Vorne an:
An einem regnerischen Abend im April saß ich im Büro meiner eigenen Firma. Vor ein paar Jahren hatte ich mich selbstständig gemacht und das Geschäft lief ganz gut. Vor allem das Auslandsgeschäft, die Software meiner Firma fand reißenden Absatz in Malaysia und Australien. Nun als ich dort noch hockte und über einen Fehler im globalen Exception-Handling nachdachte, der immer dann auftrat wenn die Java-Version 5 verwendet wurde und ... ok, ich lass den ganzen technischen Kram weg. Auf jeden Fall arbeitete ich noch, als ich im Radio die Nachrichten mit halbem Ohr anhörte.
Berlin: Die Konferenz der Innenministerinnen und Innenminister hat eine Verschärfung der Abhörmaßnahmen beschlossen. Künftig kann jede Art der elektronischen Kommunikation auf Verlangen von Polizei oder Geheimdienst in Echtzeit abgehört werden. Der Sprecher der Innenministerinnen- und Innenminsterkonferenz bezeichnete dies als einen notwendigen Schritt um die Bürgerinnen und Bürger vor Terroristinnen und Terroristen sowie vor Kriminellinnen und Kriminellen aller Art zu schützen.
Diese Nachricht überraschte mich weniger, Paranoia war in letzter Zeit ein Wesenszug unserer Regierung. Viel erstaunlicher fand ich die Uhrzeit: 22 Uhr und 5 Minuten! Ich war seit mehr als 14 Stunden im Büro! So konnte es nicht weitergehen, ich hab, oder besser gesagt hatte, Frau und Kind. Da die Geschäfte ja ziemlich gut liefen, wollte ich noch jemanden für die Technik einstellen. Für die Buchhaltung hatte ich schon Claudia, die kümmerte sich um den ganzen Kram der Rechnungen und Steuern. Heutzutage lief ja eine Menge über das Internet und so hatte ich dann auch die Stellenanzeige über das Internet veröffentlicht, in so einer öffentlichen Jobbörse, wo ich auch Claudia gefunden hatte. Meine Stellenausschreibung veröffentlichte ich in Englisch und als Gesuch gab ich Software-Engineer with main focus on distributed computer systems an. Dazu noch eine kurze Auflistung der gewünschten Qualifikationen und eine Beschreibung meiner Firma, fertig. Zufrieden mit mir selbst ging ich nach Hause und bekam von meiner Frau einen Satz heiße Ohren verpasst.
Am nächsten Morgen ging ich dann erst relativ spät ins Büro, so gegen 11 Uhr. Im Briefkasten war der übliche Postkram: Werbung für Back-Up-Dienste, Software-Abonnements. Und etwas sehr Ungewöhnliches: Ein Schreiben der Staatsanwaltschaft! Ich dachte natürlich zuerst, dass es sich um einen Irrtum handeln muss, denn ich hatte doch nichts verbrochen. Leicht irritiert, aber gar nicht beunruhigt, nahm ich das Schreiben mit zu meinem Schreibtisch und öffnete es. Dann musste ich mich erst mal hinsetzten. Der Brief war tatsächlich für mich und es handelte sich um die Benachrichtigung, dass gegen mich eine Anzeige lief wegen "Verstoß gegen das Anti-Diskriminierungsgesetz". Genauer gesagt, wird mir vorgeworfen, dass meine Stellenanzeige nicht den Anforderungen des Anti-Diskriminierungsgesetzes genügt, da ich nicht deutlich gemacht hatte, dass sowohl Frauen als auch Männer sich auf die Stelle bewerben könnten. Das Schreiben endete mit der Bemerkung, dass ich einen Gerichtstermin in den nächsten Tagen zugeschickt bekomme. Eines musste ich den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten schon lassen, die sind verdammt fix. In einem Zeitraum von etwa 13 Stunden finden die einen Regelverstoß, nehmen die Ermittlungen auf, schließen die Ermittlungen ab und schickten mir darüber einen Brief. Respekt! Und da sag noch einer die Staatsdienerinnen und Staatsdiener würden langsam arbeiten. Inzwischen mehr amüsiert als irritiert machte ich mich wieder an meine Arbeit, immerhin hatte ich eine Firma zu leiten.
Knapp eine Stunde später bekam ich dann Besuch in meinem Büro von einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten. Die beiden hatten eine Vorladung für mich dabei und ich musste sofort mit auf's Revier kommen. Ich wollte noch meinen Anwalt Martin anrufen, so dass er bei dem Verhör mit dabei ist, aber die Polizistin machte mir klar, dass „Beschuldigtinnen und Beschuldigte bei Verstößen gegen das Anti-Diskriminierungsgesetzes keine Rechtsbeistand in irgendeiner Form zustünde“. Soviel zum Thema Rechtsstaat! Als ich dann zur Wache gefahren wurde, kamen wir an dem örtlichen Kinderinnen- und Kindergarten vorbei. Irgendein Cartoonist hatte vor Jahren mal etwas über genau diese Form der unnötigen Doppelnennungen gezeichnet. Damals war es ein Scherz, jetzt ist es bittere Realität.
Auf der Polizeiwache angekommen wurde ich erstmal in eine Zelle gesperrt. Das hab ich ja gern: Erst mich hektisch hierhin schleifen und dann keine Zeit haben. Die Beamtinnen und Beamten arbeiten möglicherweise jetzt schneller, aber immer noch genauso planlos wie vor ein paar Jahren. Dazu kommt noch, dass ich noch nicht mal eine Einzelzelle bekommen hatte. Oder besser gesagt: Es war schon eine Einzelzelle, aber da wartete schon jemand auf sein Verhör. Wir kamen schnell ins Gespräch, was soll man in einer Zelle auch schon sonst groß machen? Mein Mithäftling nannte sich Oliver und war auch wegen einem Verstoß gegen das Anti-Diskriminierungsgesetz hier. Oliver hat ein kleines Cafe in der Altstadt und veranstaltet jeden Donnerstag Abend ein Zusammentreffen für Schwule und Lesben. Genau dieser Text hängt auch ein seinem Cafe aus. Aber dieser Text wäre diskriminierend! Es müsste Schwulinnen und Schwule sowie Lesbinnen und Lesben heißen. Olivier war sich ziemlich sicher, dass sich alles schnell aufklärt. Er veranstaltet das Treffen schon ein paar Jahre und er hat noch nie eine weibliche Schwule gesehen oder eine männliche Lesbe. Außerdem bezieht sich der Text immer auf die Pluralform und in die Mehrzahl ist ja geschlechtslos. Ich hätte gerne gewusst, ob er damit durchkommt. Nur wenige Minuten später wurde Olivier aus der Zelle geholt und ich hab ihn nie wieder gesehen.
Ungefähr zwei Stunden später wurde ich dann aus der Zelle zum Verhör geschafft. Das Verhör ging ziemlich schnell. Mir wurde die Stellenanzeige vorgelegt, welche ich geschrieben hatte, und es wurde gefragt, ob die von mir wäre. Natürlich sagte ich ja, ich hatte sie schließlich online veröffentlicht. Die nächste Frage war, ob ich sie ändern würde, so dass sie den Anforderungen des Anti-Diskriminierungsgesetzes genügen würde. Dann könnte man die Sache mit einer Geldstrafe beenden. Ich war damit nicht einverstanden, die Stellenanzeige war komplett in Englisch und dort gibt es keine Unterschiede zwischen den Stellenbezeichnungen. Das war wohl die falsche Antwort, denn dann wurde ich sofort in den Gerichtssaal geschleift. Der Richter verlas kurz meine persönlichen Daten, fasste das Verhörprotokoll von vorhin zusammen und fragte mich, ob ich noch etwas zu sagen hätte. Meine Frage nach meinem Anwalt oder einem Pflichtverteidiger wurde mit dem bekannten "Nach §17 Anti-Diskriminierungsgesetz steht Beschuldigtinnen und Beschuldigten bei Verstößen gegen das Anti-Diskriminierungsgesetzes kein Rechtsbeistand in irgendeiner Form zu". Das nächste war dann schon das Urteil. Die Zeilen werde ich nie vergessen: "Das Subjekt wird für schuldig befunden, einen schweren Verstoß gegen das Anti-Diskriminierungsgesetz begangen zu haben. Eine besondere Schwere der Schuld besteht in der Weigerung, den diskriminierenden Text in eine nicht diskriminierende Form umzuwandeln, was durch Software-Engineerin with main focus on distributed computer systems / Software-Engineer with main focus on distributed computer systems oder auch Software-Engineer (w/m) with main focus on distributed computer systems geschehen könnte. Für die gewünschte Internationalisierung kann, durch die Beantragung einer Ausnahmegenehmigung, die nicht diskriminierende Bezeichnung Software-Engineer (f/m) with main focus on distributed computer systems verwendet werden. Um die Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft vor solchen anarchistischen Elementen zu schützen, wird das Subjekt zum Tode verurteilt und es verliert automatisch alle Rechte, welche den Bürderinnen und Bürgern unseres Staates zustehen. Eine Berufung gegen dieses Urteil ist nicht möglich. Die Verhandlung ist geschlossen."
Die Verhandlung war vor ein paar Stunden. Aus meiner neuen Zelle kann ich den Sonnenuntergang sehen und ich weiß, dass ich noch heute hingerichtet werde. Ich kann es immer noch nicht glauben, in weniger als 24 Stunden wurde ich vom Firmenbesitzer zum Todeskandidaten gemacht. Ich möchte noch mal mit meiner Frau sprechen, aber ohne Bürgerrechte darf ich das nicht. Statt dessen erzähle ich den Wänden meine Geschichte! Das ganze Land ist doch voller Spinnerinnen und Spinner!