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Anders Arbeiten
Bevor Anders die Arbeitsanweisungen des Tages eines Blickes würdigt, öffnet er das kleine Fenster in seinem Büro. Die Spatzen warten schon auf dem Fensterbrett auf Ihr Frühstück. Das freudige Gezwitscher über ein paar Sonneblumenkörner im Ohr, überfliegt Anders sein heutiges Tagespensum. Zwei kaputte Leuchtstoffröhren im 2. Stock tauschen. Die Klimaanlage in der Lohnverrechnung richten. Nicht gerade viel zu tun heute. Eigentlich hat Anders ja nie viel zu tun. Größere Reparaturen erledigen Baufirmen oder Servicetechniker. Um das Außengelände kümmert sich eine auf Grünbereichspflege spezialisierte Firma. Trotzdem kommt niemand in der Firma auf die Idee Anders wegzurationalisieren. Von der Putzfrau bis zum Management ist er gern gesehen. Obwohl niemand so genau weiß was er den ganzen Tag macht und sich eigentlich niemand jemals wirklich genau an Anders erinnern kann, ist er immer irgendwie da und man spürt, es ist richtig und gut, dass er da ist.
Keine drei Schritte aus dem Büro kreuzt der Produktionsleiter Hr. Sammer Anders Weg: „Ah, Guten Morgen Anders. Heute ist wieder der Teufel los. Klamm hat sich krank gemeldet und ich hab niemanden der die Schnürmaschine bedient.“ Im Ansatz eilig in Richtung Produktionshalle weiterzugehen stockt Sammer plötzlich als wäre ihm irgendwas Wichtiges eingefallen. Die zuvor eingemeißelt erscheinende Hektik weicht aus seinem Gesicht. Die Sorgenfalten glätten sich. Noch bevor er sich ganz zu Anders umgedreht hat, spürt man die Schönheit Sammers die nun von Innen aus ihm herausstrahlt. „Sie haben Recht, was macht es schon wenn die Schnürmaschine heute nicht 100% läuft. Wenn wir uns ein bisschen abwechseln wird’s auch so gehen. Ich sollte wirklich zuerst Klamm anrufen und ihm gute Besserung wünschen.“ Anders noch einen schönen Tag wünschend macht Sammer kehrt und verschwindet vor sich hin pfeifend um die nächste Ecke.
Anders hatte, die Doppelpackung Leuchtstoffröhren die ganze Zeit über auf den Fingerspitzen balancierend und die Werkzeugtasche gut verschlossen mit der Öffnung nach unten unter dem anderen Arm, außer „Guten Morgen“ nichts zu Sammer gesagt.
Dass Anders die Treppe in den zweiten Stock verkehrt rauf ging, fiel niemanden weiters auf. Anders selbst erschien dies einfacher und sicherer, da auf diese Weise die balancierten Leuchtstoffröhren vor herunterkommenden Firmenkollegen besser geschützt waren, da diese im Unglücksfalls zuerst in ihn rein laufen würden und nicht direkt in die Leuchtstoffröhren.
Den Tausch der Leuchtstoffröhren verrichtete Anders allein mit der rechten Hand. Er liebte es Sachen mit der rechten Hand zu erledigen obwohl er Linkshänder war. Amüsiert über die teils unerwarteten Reaktionen der 'falschen' Hand auf der Leiter stehend hatte Anders beim Tausch der zweiten Leuchtstoffröhre durch das aquariumähnliche Fenster freie Sicht auf die Sekretärin des Geschäftsführers. Ihrem angespannten Gesichtsausdruck und den gedämpften Wortfetzen entnehmend schloss Anders, dass sie gerade Streit mit Ihrem Freund hatte. Da sie Anders im Eifer des Wortgefechts nicht wahrnahm lehnte er sich allen Sicherheitsvorschriften zum trotz zum Fenster hinüber und klopfte leicht dagegen. Etwas verdutzt und auch beschämt merkte die Sekretärin sofort, dass Ihr Telefongespräch wohl am Gang auch hörbar war. Doch schon während sie Anders Kopfnicken erwiderte wich die Anspannung aus Ihrem Gesicht. Die Lampen erfolgreich getauscht hörte Anders noch Wortfetzen wie „….vergessen wirs einfach ….“ und „…Lass uns heute schwimmen gehen nach der Arbeit …“
Die Tasche wieder verkehrt unterm Arm ging Anders die Treppe hinauf bis aufs Dach, um von diesem über die Feuerleiter vor das Außenfenster der Lohnverrechnung im obersten Stock zu gelangen. Er hätte die Klimaanlage auch von Innen reparieren können. Aber Anders liebte es einfach übers Firmendach zu spazieren. Auch im Großraumbüro der Lohnverrechnung änderte sich die Stimmung der mittlerweile leicht verschwitzen Angestellten unmittelbar mit dem Auftauchen von Anders vor dem Fenster. Durch das Loch in dem eben noch die von Anders heraus genommene Klimaanlage war füllte sich der Raum mit der kaum hörbaren angenehmen Melodie, die Anders vor sich hinpfiff als er die Entlüftung säuberte und einige Schrauben nachzog. Drinnen wurden verflixte Abrechnungskonstruktionen plötzlich durchschaubar und die Verbissenheit wich dem lockeren Austausch von Alltagsgeschichten.
Mit dem Rücken zur Wand die Leiter aufs Dach hochkletternd schweifte Anders Blick übers Firmengelände. Frau Anders war nirgendwo zu sehen, aber es konnte nicht falsch sein trotzdem immer wieder nach Ihr Ausschau zu halten. Anders Arbeitspensum für diesen Tag war erledigt.