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Hier ist meine erste Kurzgeschichte, die auf Wortkrieger veröffentlicht wurde, und überhaupt meine erste Kurzgeschichte auf Deutsch – die nicht gerade meine Muttersprache ist.
Anfang September
„Na gut.“ Der CIA-Direktor nickte und blickte dann auf das andere Ende des Konferenztisches. „Jetzt möchte ich McDoener hören.“
„Ja, Sir?“ Der Abteilungschefassistent Keb McDoener stand von seinem Sessel auf und rückte unbeholfen seine Krawatte zurecht.
„Sie sind in der Analyseabteilung, McDoener, richtig?“
„Ja, Sir.“
„Nennen Sie mich nicht ständig ‚Sir‘!“ Der Direktor geriet plötzlich in Wut und schlug mit der Faust auf die polierten Tischplatte. „Was für einen Mist haben Sie in den letzten Bericht geschrieben?! Was zum Teufel ist hier los?! Ich wollte Prognosen für Südostasien und die Auswirkungen des Handelskriegs zwischen den USA und China auf die finanzielle Stabilität in Russland! Was für einen Unsinn haben Sie mir geschickt?! Das ist Wahrsagerei, keine Prognose! ‚Einerseits, andererseits‘! Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen!“
„Sir, aber...“ McDoeners Stimme stockte und er räusperte sich. „Sie haben das Budget für die Abteilung um über achtzig Prozent gekürzt...“ McDoener warf einen Blick auf die Stelle an der Wand hinter dem Direktor, an der früher neben dem Porträt des Präsidenten Trump ein Porträt von Elon Musk hing. „Tatsächlich sind nur noch Pat O’Hooligan und ich in der Abteilung übrig.“
„Zwei? Zwei?!“, rief der Direktor ungläubig aus. „Aber Sie haben in den letzten drei Monaten großartige Arbeit geleistet! Und Sie haben sich nicht beschwert. Und jetzt kommen Sie plötzlich mit diesem Unsinn und dieser Ausrede?
Alle Anwesenden starrten McDoener an.
„Um ehrlich zu sein... Wir haben die Analyse ausgelagert...“
Es herrschte unangenehme Stille im Konferenzraum.
„Sie... was?? Eine dritte Partei... analysiert für die CIA??“, fragte der Direktor fassungslos.
„Ja, Sir, zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass es viele Teilnehmer gab, jeder hat seinen Teil beigetragen und kannte den Kunden nicht... Eine Art Crowdsourcing Anonymous...“
„Verdammt...“, sagte der Direktor und fasste sich an den Kopf. „McDoener, Sie...“
„Und übrigens war das alles kostenlos! Ich habe der CIA eine Menge Geld gespart!“, rechtfertigte sich McDoener und verbarg nicht länger das Zittern in seiner Stimme.
„Wie das?“, fragte der Direktor verständnislos.
„Nun, ich habe auf Facebook gefragt: „Leute da, was denkt ihr über China?“ Dann habe ich mich ausgeloggt und mich unter einem anderen Benutzernamen wieder eingeloggt und gefragt: „Glaubt ihr, dass die Vereinigten Staaten den Handelskrieg gewinnen werden?“ Ich habe mich erneut unter einem weiteren Benutzernamen eingeloggt und eine dritte Frage gestellt... und dann habe ich mich hingesetzt und die Kommentare gelesen... Alle möglichen Experten kamen, bewiesen ihre Argumente, zeigten Daten, machten Berechnungen, untermauerten ihre Theorien...“
Alle Anwesenden starrten ihn ungläubig an.
„Wollen Sie mir sagen, dass unsere Analysen, die Analysen der CIA — genau die, die wir der Administration vorgelegt haben und auf die wir uns bei unseren komplexesten Operationen weltweit verlassen haben — nichts anderes waren als Zusammenstellungen von Meinungen einiger unbekannter Möchtegern-Experten? Anonymer Amateure? Und auf… einer öffentlichen Social-Media-Plattform?“, fragte der Direktor fast flüsternd.
„Ja, Sir... Aber es hat doch funktioniert, oder? Erinnern Sie sich an unsere Analyse zu Singapur? Oder an die Daten zu internationalen Terroristen? Und an die geopolitischen Berechnungen zum Nahen Osten? Alle unsere Vorhersagen haben sich bewahrheitet!“
„Zugegeben. Das waren in der Tat ausgezeichnete Berichte. Aber wo liegt dann jetzt das Problem? Warum hat Ihr System versagt?“
„Anfang September, Sir...“
„Na und?“, der Direktor verstand nicht.
„Der Kernpool der Experten ist wieder in der Schule, Sir... Hausaufgaben, Nach-Ferien-Blues und haste nicht gesehen...“