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Copywrite Angel

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02.01.2011
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Angel

Ich besuche Oliver Rahke in einem der neu gebauten Wohnhauskomplexe in Essen-Süd. Unten am Eingangstor tasten mich schwarz gekleidete, asiatische Männer einer chinesischen Sicherheitsfirma ab.
Im neunzehnten Stockwerk wartet ein rüstiger Rentner im Jogginganzug vor seiner Wohnungstür auf mich. Er reicht mir die Hand.
»Wollen Sie was trinken?«, fragt Oliver Rahke, als er mich zum Sofa dirigiert. »Kaffee? Tee? Long Jing?«
»Tee«, sage ich. Ich sehe mich im Wohnzimmer um: Ein alter, kleiner Flatscreen von Huawei, ansonsten kaum Technik: Klapptisch, Sessel, Stühle. Billigbau; aber immerhin ein Dach über dem Kopf.
»Ich war erstaunt, dass Sie angerufen haben«, ruft Oliver Rahke aus der Küche. Er kommt mit zwei dampfenden Tassen und stellt sie vor mir auf den Tisch. »Für wen schreiben Sie?«, fragt er.
»Hongkong Daily«, sage ich.
»Ah«, sagt er, nickt, fährt sich mit dem Finger unter die Nase und blickt auf den Boden. »Chinesen.« Wir schweigen einen Augenblick. »Wie sind Sie auf meine Frau gekommen? Ich meine, bei all dem Zeug, das gerade passiert. Da gibt es doch genug zu berichten«, sagt Oliver Rahke.
»Mein Vater war in der BRD Polizist in Fulda«, sage ich und nippe am Kräutertee. »Ein bisschen später als Ihre Frau. Aber die Geschichte ging noch herum«, sage ich. Ich stelle die Tasse ab. »Ihre Geschichte ist interessant, weil viele Dinge ineinander verwoben sind: Flüchtlingskrise, Aufstieg der Rechten, Islamische Expansion. Schuld, Aggression.«
Oliver Rahke blickt durch den Raum, fährt sich mit der Hand über die Wange. Einen Moment ist da etwas in seinem Blick; die Art von Traurigkeit, wie ich sie oft in den Augen der Menschen sehe. Vielleicht kann man nur so blicken, wenn man dem Tod begegnet ist; bin ich zu weit gegangen?
»Ich danke Ihnen für Ihr Interesse«, sagt Oliver Rahke schließlich, nickt und blickt noch immer starr vor sich hin. Er schweigt einen Moment.
»Ich würde mich freuen, Emmas Geschichte zu hören«, sage ich und nippe again am Tee. Aus dem Fenster sehe ich eine Post-Drohne vorbeifliegen.
»Wenn Sie möchten«, sagt Oliver Rahke.
Ich lege mein Phone auf den Couchtisch. »Phone, starte Recording. Es ist der 24. Juli 2072. Bitte, Herr Rahke«, sage ich und nicke Oliver an. »Erzählen Sie die Geschichte Ihrer Frau.«
»Was passiert ist, wissen Sie ja«, sagt Oliver Rahke. »Sie wissen, dass sie diesen Jungen erschossen hat. Jamal.«
Oliver senkt den Kopf, legt sein Gesicht einen Moment in seine Hände. Er weint. Still und ohne sich zu bewegen; nur seine Atmung ist tiefer, lauter. Als er wieder aufblickt, sieht er mich an. »Entschuldigen Sie«, sagt er. »Ich habe Emma noch nicht gekannt, als sie den Flüchtling erschossen hat. Sie war vielleicht 26, er 19. Sie trainierte damals schon bei mir. Ich hatte ein kleines Kickbox-Studio. Ich war 43. Tagsüber habe ich als Personenschützer gearbeitet, und abends Alte und Junge im Kickbox-Studio trainiert.
Ich glaube, Emma ist mir davor schon aufgefallen, durch ihr Aussehen; klein, blond, ein Teufel, wissen Sie. Aber richtig bewusst geworden ist sie mir erst nach dem Schuss. Es war ja überall in den Medien: Polizist erschießt Flüchtling. Wegen ein paar Brötchen – bei uns in Fulda! Die BRD war, was den Gebrauch von Schusswaffen anging, äußerst pazifistisch.«
Oliver Rahke schnieft, dann setzt er sich mit geradem Rücken auf und sieht mir mit seinem blauen, stählernen Blick direkt in die Augen.
»Sie hatte schon ein halbes Jahr vor dem Schuss ein, zwei kleinere Turnier-Kämpfe im Namen meines Studios absolviert. Nach dem Schuss war sie ein paar Monate vom Dienst freigestellt, wegen der vorschriftsmäßigen staatsanwaltlichen Untersuchung, bei Gebrauch der Schusswaffe. Der Fall war damals überall in den Medien, und Emma war fast jeden Tag bei mir im Studio. Und sie wollte kämpfen. Sie war eine verdammt harte Kickboxerin. Hat mit einem einzigen Front-Kick die Nase von so einer Rumänin dauerhaft kaputt gemacht. Der Kampf wurde nach fünfzehn Sekunden vom Referee abgebrochen.
Damals gingen die Bilder von Jamals Schwester, seiner Verlobten und seiner Mutter um die Welt. Der Fall war ja etwas heikel; wurde nie ganz geklärt, ob die Schüsse in die Brust nun gerechtfertigt waren oder nicht. Jedenfalls haben Jamals Schwester, seine Verlobte und seine Mutter sich an die Medien gewandt. Ihr Video lief in den Nachrichten rauf und runter. Seine verhüllte, weinende Mutter, daneben die Verlobte mit dem Gesicht in den Händen. Sie wollten mit dem Polizisten sprechen, der Jamal erschossen hat. Wegen einem Brötchen! Aber dass Jamal selbst nach der Waffe gegriffen hat ... na ja. Aber hätte es sein müssen? Wer weiß. Das war die BRD. Ich weiß noch, wie Emma das aufgeregt hat. Wie sie mir auf eine unserer Fahrten zu einem Turnierkampf so wütend vorkam. Sie wollte zurück in den Dienst. Was hätte sie auch tun sollen? Er hat nach der Waffe gegriffen! Er hat ihren Kollegen angegriffen! Und das alles wegen einem Brötchen? Wer versteht das schon? Was war das schon für ein Mensch?
Außer ein paar Eingeweihten wusste niemand da draußen, dass Emma die Schützin war. Nein, Emma wollte Jamals Angehörige nicht treffen. Wieso auch? Sie hatte nur nach Vorschrift gehandelt. Sie hatte ihn verwarnt, und als er nach der Waffe griff und sie anheben wollte, schoss Emma. Sie war sich damals, als ich mit ihr zu Turnierkämpfen fuhr, sicher, dass sie freigesprochen werden würde. Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Erzählen Sie mir, was dann passiert ist.«
»Ich weiß nicht mehr, wann sie damit anfing, diese Livestreams auf Youtube zu halten. Ich glaube, es muss in dieser Zeit gewesen sein: suspendiert, zuhause, überall im Fernsehen die Aufrufe von Jamals Mutter und Verlobten. Zu diesem Zeitpunkt gingen wir schon miteinander aus, waren aber kein Paar. Ich habe erst viel später von ihren Livestreams erfahren.
Auf Youtube nannte sie sich Angel. Auf ihrem Profilbild sah man ihre blonde Mähne, eine tief ins Gesicht gezogene Cap verdeckte ihr Gesicht. Damals erfuhr die Neue Rechte ihren ersten, großen Aufschwung. Angel war schnell unter rechten Videobloggern bekannt. Jeden Abend hörten ihr tausende Follower zu, wenn sie im Livestream über Missstände in der Polizei, über Ausländerkriminalität und muslimische Männer sprach. Aber niemand, der Angel followte, wusste, dass sie die Todesschützin von Jamal war. Niemand wusste überhaupt, wer sie war.
Emma kam ein paar Monate später zurück in den Polizeidienst; der Staatsanwalt hatte die Ermittlungen gegen sie eingestellt. Etwa zu dieser Zeit wurden Emma und ich ein Paar. Sie war fünfzehn Jahre jünger als ich, und ich war ihr Kickbox-Trainer. Ich dachte, wir seien auf dem Weg der Besserung. Wir fuhren noch gelegentlich am Wochenende auf Turniere, aber Emma – zurück im Dienst – wurde ruhiger, entspannter. Von den Livestreams auf Youtube, die sie auch damals noch abhielt, wusste ich weiterhin nichts.
Es vergingen vielleicht ein paar Monate, bis Emma ihren ersten Anfall auf der Arbeit bekam. Sie war vor einem Fußballstadion in einer Polizeikette umgekippt. Ihre Kollegen meinten, sie hätte am ganzen Körper gezittert. Die Ärzte dachten, sie hätte einen leichten Herzinfarkt. Ein paar Tage später ging Emma wieder zum Dienst. Es dauerte keinen Monat, da brach sie wieder zusammen, während einer Routine-Streife. Sie bekam keine Luft, zitterte und übergab sich. Im Kopf stand sie ganz neben sich, war kaum ansprechbar. Panikattacken, wissen Sie.«
»Panikattacken«, sage ich und nicke.
»Die BRD war eine doch sehr andere Gesellschaft«, sagt Oliver Rahke. »Ich weiß nicht, ob Sie nachvollziehen können, wie wir damals gedacht haben, an was wir glaubten. Wie alt sind Sie?«
»Vierunddreißig«, sage ich.
»Wenn Sie die Werte und Entscheidungen der Menschen in der BRD verstehen wollen, müssen Sie verstehen, dass keine historische Gesellschaft zum Zeitpunkt ihrer Existenz davon weiß, was ihr bevorsteht.«
»Ich werde in den Artikel eine kleine Übersicht über die damalige Gesellschaft einflechten«, sage ich.
»Gut«, sagt Oliver Rahke und nickt.
»Wie ging es dann weiter?«
Oliver Rahke atmet einen Moment. Er ist ein bulliger, hoch gewachsener, alter Mann; die Arme stützt er auf seinen Knien ab, die Hände gefaltet. Er blickt an mir vorbei, in die Ecke des Raumes.
»Schwierige Zeiten«, sagt er. »Emmas Anfälle häuften sich. Alle paar Wochen hatte sie Zitter- und Kotzanfälle während des Dienstes. Sie hasste das. Sie war sich sicher, dass es etwas Organisches wäre; dass sie eine Allergie oder Herzinsuffizienz hätte. Aber bei den Ärzten kam nichts raus.
Die Führungsriege beurlaubte Emma und verordnete ihr Psychotherapie und eine Kur. Ich weiß nicht, was Emma dort gesprochen hat; ich weiß nur noch, wie aggressiv sie immer zu den Therapiesitzugen ging und dass sie die Kur frühzeitig abbrach, weil sie während den Gruppensitzungen »unkooperatives Verhalten« gezeigt hätte. Psychologen nannte sie immer lachend »Pussys«. Emma war sich sicher, dass ihr nichts fehlte, dass sie an einer Allergie oder einer nicht erkannten Muskelschwäche litt, die ihr die Übelkeit und das Zittern zufügte.
Ich glaube, es war zu dieser Zeit, dass ich von ihrem Youtube-Kanal erfuhr. Ich muss Ihnen sagen, ich war damals in politischer Hinsicht in Emmas Richtung geneigt. Ich war seit jeher politisch neutral, doch seit 2015 fühlte ich mich als politisch rechts. Was mich an Angels Livestreams schockierte, war die Tatsache, dass meine Freundin seit über einem Jahr mehrmals die Woche zu über Hunderttausend Followern im Netz sprach; mit ihrer scharfen, angriffslustigen, schroffen und frechen Art. Ich kann mich nicht mehr an die genauen Inhalte ihrer Videos erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich mir sicher war, sie würde suspendiert, wenn die Polizeidirektion von ihrer Aktivität erfahren würde.
Sie war so wütend in dieser Zeit. Sie wollte unbedingt arbeiten, sie brauchte eine Aufgabe. Aber die Polizeidirektion ließ sie nicht. Zuhause oder außerhalb des Dienstes überfielen sie nur selten ihre Panikattacken.
Seltsam, dass wir genau in dieser Zeit ein Kind bekamen. Unser erster Sohn. Emma hatte zu diesem Zeitpunkt fast eine Viertel Millionen Subscriber auf Youtube. Sie überlegte, ihre Identität offenzulegen. Sie wollte sich unbedingt mit anderen rechten Aktivisten vernetzen und treffen. Emma war sich sicher, wir stehen vor einer irreparablen Schädigung unseres Landes. Sie war sich sicher, wenn der Westen jetzt keine Remigration an Muslimen durchführen würde, würde unsere Freiheit und unsere Kultur Schritt für Schritt verschwinden.

Emma wurde nach mehreren gerichtlichen Instanzen für dienstuntauglich erklärt. Sie bekam eine kleine Rente. Sie war damals noch keine 30. Sie wollte sich auf das Kind und ihren Youtube-Kanal konzentrieren. Sie veröffentlichte mehrere Videos pro Tag. Ich glaube, sie hatte schon ein oder zwei ernsthafte Prozesse gegen sich laufen, wegen Volksverhetzung. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie nicht mehr zu erkennen. Einmal schlug sie sich am hellichten Tag mit einer Spanierin vor einem Supermarkt; Emma brach der Frau das Jochbein, weil die Spanierin sich in der Schlange an der Kasse vorgedrängelt und nicht entschuldigt hatte.
Ich leitete damals weiterhin meine kleine Sicherheitsfirma, arbeitete als Personenschützer und trainierte im Kickbox-Bereich. An den Wochenenden fuhren wir manchmal mit dem Baby auf Demonstrationen von Pegida oder städtischen Ablegern von Pegida; aber aus irgendeinem Grund spürte ich schon damals, dass ich geistig nicht dorthin gehörte; ich meine, mit der Massenmigration und der politischen Situation war auch ich unzufrieden, aber dennoch hatte ich seit jeher berufs- und sportbedingt mit den verschiedensten Menschen zu tun und wusste, dass das, was auf diesen Veranstaltungen propagiert wurde, nur die halbe Wahrheit war.

In dieser Zeit wurde Emma erneut schwanger und bekam unser zweites Kind. Einen weiteren Sohn. Ich erzähle das, weil es durchaus relevant für meine Erzählung sein wird.«
»I know«, sage ich; ich merke, wie angespannt und gerade ich auf dem Sofa sitze. »Zjìchù«, sage ich. [Anm. d. A.: Aus dem Chin., dt. Fahren Sie fort.]
»Die ganze Schwangerschaft hindurch versuchten Emma und ich, auf juristischem Weg erneut gegen ihre Ausweisung aus dem Polizeidienst vorzugehen. Die Details hierfür sind nicht von Bedeutung. Grob gesagt waren ihre Panikattacken weder eine messbare medizinische Einschränkung, noch war abzusehen, ob sich ihre gesundheitliche Lage nicht nach ein oder zwei Jahren wieder normalisieren würde.
Jedenfalls war es im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft, als Emma nach einem Gerichtstermin über Lichtblitze in ihrem Blickfeld klagte. Natürlich dachten wir, es hätte mit einer ihrer bevorstehenden Anfälle zu tun; aber das war es nicht. Nach ein paar Tagen erhielt sie in der Notaufnahme die Diagnose Netzhautauflösung; ein Augenspezialist prognostizierte ihr, dass sie innerhalb eines Jahres ihr komplettes Sehlicht verlieren würde. Das war ein sehr harter Schlag für sie. Ich glaube, ich habe Emma selten in so einem Zustand gesehen, wie in jenem bei ihrer Diagnose. Sie wusste, dass sie ihre Kinder nie würde aufwachsen sehen. Sie war damals 32.«
Oliver Rahke und ich sitzen einen langen Moment schweigend im Wohnzimmer. Schließlich steht Oliver Rahke auf, läuft in die Küche und kommt mit zwei kleinen Flaschen Bier zurück. Er reicht mir die eine Flasche, setzt sich zurück in den Sessel und nimmt ein paar tiefe Schlucke. »Entschuldigen Sie«, sagt Oliver Rahke. »Ich bin nicht mehr der Jüngste.«
»Machen Sie sich keinen Kopf«, sage ich. Meine Hände sind schweißnass. Ich nippe am Bier. »Wenn Sie möchten, zjìchù«, sage ich.
»Ja«, sagt Oliver Rahke. »Die folgenden Jahre lassen sich wie folgt zusammenfassen: Emma gebar unser Kind. Wir bereiteten uns auf ihre Blindheit vor; wir stellten eine Haushaltskraft ein, nahmen ein paar kleine Umbauten an der Wohnung vor; Emma besuchte eine Fachklinik für Blinde, in der sie lernte, ihren Alltag ohne ihre Sehkraft zu meistern. Sie war eine unglaublich starke Frau. Aber ihre Blindheit war etwas, gegen das sie nicht ankämpfen konnte. Je mehr sich die Dunkelheit um sie legte, desto ruhiger wurde Emma. Sie nahm ein paar Kilo zu, weswegen sich auch ihre Optik veränderte. Sie verbrachte viel Zeit mit den Kindern in der Wohnung. Ihre Livestreams wurden seltener. Dadurch, dass in den Videos immer ihr Gesicht verdeckt gewesen war, bemerkten die Zuschauer keine Veränderung an Angel. Ihre Aggressionen legten sich auf die Art, dass ich mir Sorgen machte. Sie nahm öfters an Livestreams mit anderen Youtubern teil. Und obwohl sich die politische Lage in jener Zeit durch die wirtschaftliche Krise zuspitzte, schien Emma das Interesse zu verlieren. Der Verlust ihres Augenlichts – wohl eine späte Folge zweier Augenverletzungen während eines Turnierkampfes – veränderten meine Frau. Verzeihen Sie mir die Küchenpsychologie, aber ich hatte das Gefühl, dass die Aggression, die Emma in all den Jahren nach außen getragen hatte, sich jetzt nach innen legte. Sie litt vermehrt an schweren Depressionen; manchmal lag sie tagelang stumm im Bett. Manchmal sagte sie, da sei nichts mehr, das sie fühlen könne. Und dann gab es Tage, an denen sie von cholerischen Wutanfällen gepackt wurde; da schrie sie die Haushälterin und die Kinder zusammen.
Emma verbrachte phasenweise Monate in psychosomatischen Kliniken. Es war nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hatte. So vergingen sieben oder acht Jahre.«
»Und dann passierte das, was Ihr Leben noch einmal verändern sollte.«
»Unser jüngster Sohn wurde erstochen. Er war gerade 13 Jahre alt. Emma war 44, ich 59. Shaun war mit einem Freund und ihren Fahrrädern draußen unterwegs. Sie saßen in einer Bushaltestelle und unterhielt sich wohl. Ein Junge kam daher, er war erst elf. Er fühlte sich von Shauns Kumpel provoziert. Der Junge trug ein Messer bei sich. Shauns Kumpel fiel im Handgemenge hinter die Bank, Shaun wollte wohl aufstehen, da stach der Junge ihm ins Herz. Shaun ist noch zweihundert Meter weit gerannt. Er hatte den Stich wohl gar nicht bemerkt. Er sagte noch zu Passanten, da sei ein Junge mit einem Messer; und, dass ihm so schwindelig sei; dass ihm ganz kalt sei. Dann fiel er um und war tot.«
Wieder schweigen wir – ein, zwei Minuten. Oliver Rahke räuspert sich. »Der Junge kam aus einer verwahrlosten, rumänischen Gypsy-Familie. Man schnappte ihn zwei Tage später.«
»Was machte das mit Ihrer Frau?«
»Sie fiel in ein tiefes Loch. Sie nahm stark ab. Phasenweise litt sie an starken Heulkrämpfen, dann saß sie apathisch auf dem Sofa und hörte Radio. Ihre Tätigkeit als politische Videobloggerin war damals schon fast zum Erliegen gekommen; gelegentlich lud sie kurze Videos mit Kommentaren zu politischen Ereignissen hoch.
Kurze Zeit später löste sich die EU auf und die daraus resultierende Banken- und Währungskrise stürzte Europa in die nächste Wirtschaftskrise; die AfD als nationalsoziale Partei stieg auf über 25 Prozent, die Grünen schrammten in Umfragen knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. Rentnern wurde ihre Pension nicht ausgezahlt, im Winter kam es wegen der Währungskrise zu einem Gasmangel. Es waren schwierige Zeiten.«
»Und trotzdem zog sich Emma immer weiter aus der Politik zurück.«
»Ja. Wie ich auch. Und wie die meisten. Man muss sehen, wo die Familie bleibt«, sagt Oliver Rahke. »Der Islamismus keimte genauso erneut auf wie die Neue Rechte; die Grünen als regierende Partei schufen eine technokratisierte, extrem schnelle Gesetzgebung, die die Menschen zunehmend erzürnte. Dazu führten sie eine miserable Wirtschaftspolitik. Sie verloren die Kontrolle.«
»Und Ihre Frau?«
»Der Tod unseres Sohnes brach meine Frau beinahe. Sie meinte, wenn sie morgens aufwachte und im Bett lag, sei ihr Sohn tot. Wenn sie sich die Zähne putzte, sei ihr Sohn tot. Das Schlimme am Verlust des eigenen Kindes ist nicht die Phase der Trauer, sondern das Danach. Die Leere, die für die restliche Zeit des Lebens auf einen wartet. Nichts wird kommen, das ihn ersetzt. Der Schmerz ist mal stärker und mal schwächer, aber er bleibt. Die Traurigkeit bleibt. Die Traurigkeit ist manchmal so groß, dass man glaubt, man zerreißt. Dass man glaubt, es nicht mehr auszuhalten. Es gibt nichts, das einen diesen Schmerz nehmen kann. Mit dem Tod des eigenen Kindes endet auch ein Teil des eigenen Lebens. Das alles sagte mir Emma. Und dann sagte sie mir, dass Gott ihr das angetan hätte. Dass Shauns Tod ihre gerechte Strafe sei. Das stimmt nicht, sagte ich ihr.
Wir flogen ein Dreivierteljahr nach Shauns Tod nach Istanbul. Wir hatten Jamals Schwester über Facebook kontaktieren können; auch Jamals damalige Verlobte und Jamals Mutter lebten noch. Seltsam, wie ruhig Emma auf dem Flug dorthin war. Ich bin 40 Jahre lang im Sicherheitssektor gewesen, wissen Sie, ich habe kein Problem mit Anspannung oder Nervosität. Trotzdem sah ich meine Hände zittern, als wir am Erdoğan-Flughafen auscheckten. Emma war so ruhig. Sie war ganz still und in sich ruhend.
Am Flughafen wartete die komplette Familie Jamals auf uns. Ich wusste nicht, was uns erwartete. Letztendlich – so viel kann ich Ihnen sagen – unterhielten sich die Frauen die ganze Nacht und den kompletten restlichen Morgen. Emma und Jamals Mutter lagen sich oft weinend in den Armen. Jamals Verlobte Tamina hatte in der Türkei geheiratet und nun selbst zwei Söhne im Grundschulalter.
Nach drei Tagen verabschiedeten wir uns von der Familie. Und dann taten Emma und ich etwas, das ich bis heute nicht ganz begreifen kann. Damals kam es mir wie eine spontane, intensive Idee vor, aber letztendlich – wenn ich heute darüber nachdenke – scheint es mir wie die logische Schlussfolgerung all unserer Handlungen Emmas und meines Lebens. Wir liefen zur Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul und konvertierten noch am gleichen Tag, während des nächsten Salāt, zum Islam.
Auf unserem Rückflug nach Frankfurt kam mir Emma so ruhig und entspannt vor wie seit Jahren nicht mehr. Die eine Hälfte des Fluges saßen wir schweigend und lächelnd Hände haltend im Flugzeug. In der zweiten Hälfte legte Emma ihren Kopf auf meine Schulter und schlief so ruhig, tief und fest, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Ich hatte dieses seltsame Gefühl, über eine Klippe zu steigen, wissen Sie. Ich hatte das Gefühl, dass sich während der letzten Tage die Dinge so grundlegend in uns verschoben hatten, dass wir dabei waren, erste Schritte in den Beginn einer neuen Ära zu gehen.«
»Sehr ergreifend.«
Oliver Rahke nimmt einen großen, letzten Schluck seines Bieres. Er lächelt. »Im Frühling des nächsten Jahres ist der Europäische Bürgerkrieg ausgebrochen. Aber Sie wissen ja, was es damit auf sich hat.«
»Ja.«
»Wir stellten uns auf keine Seite. Wir versuchten, uns so gut es ging um unseren verbleibenden Sohn zu kümmern. Er wurde in ein Regiment der BRD eingezogen und kämpfte bei Vilnius.
Emma hielt sich vollkommen aus allem heraus. Als eine deutsch-polnische nationalistische Miliz sie am 21. April 2040 aus unserer Wohnung zerrte, weil sie eine in Blindenschrift verfasste Ausgabe des Koran bei uns in der Wohnung fanden, erkannten sie Angel nicht; sie wussten nicht, dass diese weißhaarige, blinde Deutsch-Muslimin vielleicht eine derjenigen Menschen gewesen war, die einige der Milizionäre Jahre zuvor vom Untergang der christlich-abendländischen Kultur mit überzeugt und zu rechten Untergruppen getrieben hatte.
Man erschoss Emma noch am gleichen Nachmittag standrechtlich auf dem Marktplatz. Aber das sollte ich erst Jahre später mitbekommen; man hatte mir zu diesem Zeitpunkt schon die Beine gebrochen und mich in einen Waggon in Richtung eines Sammellagers verfrachtet.«
Oliver Rahke zieht die Hosenbeine hoch; ich sehe die breiten Narben auf seinen Schienbeinen.
»Man brach uns immer wieder die Beine. So wollten die Nationalisten verhindern, dass wir nach einer möglichen Befreiung bewaffnet und eine Gefahr für sie werden könnten.«
So sitzen Oliver Rahke und ich noch einen langen, schweigsamen Moment auf der Couch im Wohnzimmer seiner Wohnung. Da gibt es Dinge, über die es aktuell wichtiger wäre, zu berichten, na klar. Es gibt es Leute, die sagen, Vergangenheit ist Vergangenheit. Und die, die sagen, wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie immer wieder zu durchleben. Ich weiß nicht, auf welcher Seite ich stehe. Ich bin ein einfacher Mann, ein kleiner Schreiberling. 32 Jahre alt; verlobt, mit einem kleinen Sohn.
Was kann ich schon ändern? Wer hört mir schon zu? Wer weiß schon, was meiner Generation bevorsteht?

 

Also, also, geschätzter @zigga, das hier:
-- "wie kann man das wissenschaftlich belegen?"
- hat in meinem ursprünglichen Post allerdings auch nie gestanden :baddevil:

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

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