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Angemacht
Ich fand sie wirklich süß. Sie hatte lange braune Locken, volle Lippen und sie trug eine lässige blaue Mütze, die schief aufsaß. Alles Dinge, die mir signalisierten, dass die in Frage stehende Person weder eine graue Maus noch eine eingebildete Spießertussi war.
Sie stand am Rande der Tanzfläche und drehte sich gerade eine Zigarette, als ich von der Bar zurücklief, und da sie für den Augenblick mit niemandem beschäftigt zu sein schien, nutzte ich die Gelegenheit, sie anzusprechen.
„Hey, wer bist eigentlich du?“, fragte ich mit einem für mich sehr typischen Grinsen, das im Laufe eines solchen Abends immer häufiger auftritt und eigentlich nur vermitteln soll, dass ich lustig drauf bin, was ich auch war.
Sie sah langsam von ihrer Zigarette auf – ihre Finger arbeiteten hastig weiter – und lächelte.
Für mich schon ein Erfolg! Gemessen an all die anderen möglichen Reaktionen, die eine solche „Anmache“ hervorbringen konnte, sogar ein ziemlich großer.
„Sprichst du Frauen immer so an?“, fragte sie, noch immer am Lächeln.
„Nein“, sagte ich und ich versuchte dabei einigermaßen ernst zu bleiben. „Du bist da die ganz große Ausnahme.“
„Ja, das glaube ich!“
Ich musste schmunzeln. „Du hast ein schönes Lächeln“, sagte ich.
Im Zweifelsfall packe ich immer ein Kompliment aus. Manchmal geht das schief, aber ich bin der Meinung, dass Frauen, die nicht mit Komplimenten umgehen können, sowieso alle ein angekratztes Selbstwertgefühl und höchstwahrscheinlich einen an der Waffel haben.
„Danke schön“, sagte sie und dabei blitzten, wie zur Bestätigung, alle ihre Zähne auf.
„Jetzt hast du mir aber noch immer nicht gesagt, wer du bist“, erwiderte ich.
„Ich bin Studentin“, sagte sie und zündete sich dann ganz lässig ihre Zigarette an.
„Das denke ich mir, wir sind auch auf einer Studentenparty.“
Sie blies langsam den Rauch aus und zuckte mit den Achseln. „Tja ...“
Sehr cool, die Dame. Einfach nur „Tja“. Ging sie deswegen auf Distanz, weil sie einen Freund hatte? Fand sie mich schlichtweg unattraktiv? Oder gehörte das alles zu dem mysteriösen Spiel, das alle Frauen spielen, die was auf sich halten?
Sehr viele Variablen also, und unter anderen Umständen wäre so ein eiskaltes „Tja“ durchaus ausreichend gewesen, um mich und mein Ego in die Weite zu schicken, wo mein Freundeskreis mit Schulterklopfen, Toilettenhumor und frustriertes Kampfsaufen auf mich wartete, aber ich war, wie gesagt, recht lustig drauf, und das Fräulein gefiel mir. Ja, sie gefiel mir sogar recht gut.
„Medizinerin?“, fragte ich.
Ihre Augen wurden groß. „Sehe ich so aus?“
Nun zuckte ich mit den Achseln. „Möglich wär’s ...“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin Wirtschaftswissenschaftlerin.“
„Cool.“
Sie sah mich forschend an, als kaufe sie mir diese schlichte, ironielose Antwort nicht ab.
„Und was bist du?“, fragte sie.
„Ich bin Mediziner.“
„Ach was!“
Ich grinste breit. „Sehe ich nicht so aus?“
Sie lächelte. „Überhaupt nicht!“
„Ja ... wie sehen denn Mediziner aus?“
„Irgendwie anders.“
„Ja, wie?“
Sie sah mich wieder prüfend an. „Also, ich finde ... dieses Grinsen auf deinem Gesicht passt nicht!“
Da musste ich lachen. „Okay, wenn du meinst ...“
„Also, was bist du jetzt?“
„Hab ich dir doch schon gesagt.“
Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wie heißt du?“, fragte ich.
„Carmen.“
„So wie das Lied, oder wie?“
„Welches meinst du?“
„88’ hat Katarina Witt dazu getanzt und Gold gewonnen.“
„Echt? Wusste ich gar nicht ... die meisten Leute meinen das Lied von Sido.“
Ich nickte. „Du musst es dir auf Youtube reinziehen, gib einfach Carmen und Katharina Witt ein.“
Plötzlich runzelte sie die Stirn. „Bist du Deutscher?“
Irgendwann stellen sie alle diese Frage. Hatte ich vielleicht Carmen komisch ausgesprochen? Ich setzte zur Antwort an, aber ich bekam nicht die Gelegenheit dazu, denn im selben Augenblick sprang irgendein hochgewachsener Kerl ins Bild, nahm sie an der Hand und zerrte sie wie selbstverständlich von mir weg. Er tat dies nicht auf eine aggressive Art und Weise, sondern mit einer Lässigkeit, die beinahe an Eleganz rankam. Dabei würdigte er mir keinen Blick. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Siegergrinsen.
Mein erster Gedanke war: Das ist mit Sicherheit ihr Freund. Der zweite war: Was würde jetzt Robert Deniro tun?
Ich sah Carmen für den Bruchteil einer Sekunde nach – sie sah mich etwas unentschlossen an, lief aber ohne Gegenwehr mit dem Kerl mit – und trat dann in Aktion.
„Hey, hey, hey!“, rief ich und zwei schnelle Schritte später stand der große, blonde Kerl direkt vor mir.
Aber er lief einfach weiter, verdrehte die Augen, verzog eine gestresste Miene, und schaffte es bei alldem trotzdem nicht, mich anzusehen.
Jetzt legte ich eine Hand auf seine Brust. Endlich blieb er stehen, Carmen neben ihm.
„Wer bist du?“, fragte ich.
„Das geht dich nichts an.“
„Bist du ihr Freund?“
Carmen lachte laut auf. Die Frage amüsierte sie wohl. Und warum? Warum konnte sie da lachen? Weil dieser Typ eben nicht ihr Freund war! Oder lag ich da etwa falsch? Ich meine, ganz sicher war ich mir nicht, aber wenn ich mir vorstelle, ich hätte eine Freundin, und jemand würde eine solche Frage stellen ... na ihr versteht schon.
Der Kerl fand die Frage aber nicht so lustig. Er bohrte mir einen Zeigefinger in die Brust und lehnte sich vor, ganz so, als wolle er mich einschüchtern. Seine Bierfahne haute mich fast um.
„Hör mal zu, ich kenne dich nicht und wir gehen jetzt raus, also ciao!“
Er wandte sich zum Gehen, aber ich stellte mich ihm wieder in den Weg. „Das ist ziemlich unhöflich, was du hier bringst, Mann. Wenn du schon meine Gesprächspartnerin klaust, kannst du mir zumindest eine Erklärung liefern!“
Ich war jetzt laut geworden. Carmen sah kurz aus, als wolle sie dazwischen gehen, aber der Kerl nahm schon seine Hand und stieß mich von ihm weg.
„Jetzt verpiss dich!“
Er hätte mich stärker wegschubsen sollen, denn so lag seine dämliche Bierfahnenfresse noch immer in meiner Reichweite. Ich holte weit aus und klatschte ihm eine. Aber mit der flachen Hand wohlgemerkt. Also alles recht ungefährlich eigentlich.
Der Typ stolperte nach hinten und Carmen sah mich schockiert an. „Sag mal, spinnst du!“
Aus dem Augenwinkel sah ich den zweiten Kerl gerade noch rechtzeitig auf mich zustürmen, völlig ohne Schutz, ganz wie der doofe, betrunkene Vollidiot, der er mit Sicherheit war, und auch ihm verpasste ich eine. Dieses Mal jedoch mit der geballten Faust, denn mittlerweile hatte ich richtig Angst bekommen. Die Situation geriet schnell außer Kontrolle, und ich wusste ja nicht, wie viele noch kommen würden.
Aber mich anzugreifen traute sich danach niemand mehr. Es versammelte sich eine schaulustige Menge, die von mir Abstand hielt. Was aber nicht heißen soll, dass sie mich in Ruhe ließen. Während die einen sich um meine Opfer kümmerten – einer blutete aus der Nase – wurde ich von den anderen beschimpft. Kanake! Assi! Mongofresse! Wichser! Ich kann mich nicht an alle Ausdrücke erinnern, aber es waren auf jeden Fall eine ganze Menge dabei. Augen traten hervor, Fäuste wurden geballt, sogar mit den Füßen wurde gestampft. Ich hatte selten eine Gruppe gesehen – vor allem eine Gruppe Studenten – , die sich so schnell gegen einen gemeinsamen Feind vereinen ließ. Freilich war es keine willkürlich zusammengesetzte Gruppe, es werden vor allem Kollegen der Opfer dabei gewesen sein, aber nichtsdestotrotz fand ich ihre Solidarität beeindruckend. Sie ließen ihren Hass monsunartig auf mich niederprasseln, und der Effekt war so stark, dass ich nichts anderes tun konnte, als stehen zu bleiben und es hinzunehmen. Ich nahm einen Schluck Bier, ließ meine Arme locker zur Seite hängen und saugte einfach alles in mich auf.
Man soll jetzt aber nicht denken, dass ich mich schuldig fühlte und ich mich deswegen der Menge aussetzte. Im Gegenteil, dass die beiden Typen genau das bekommen hatten, was sie verdienten, stand außer Zweifel. Sie hatten sich mir gegenüber nicht nur äußerst respektlos verhalten, sondern – und das war fast schlimmer – äußerst doof. So wie ich das sah, hatte ich ihnen eine Lektion erteilt, die sie dringend nötig hatten und ihnen in Zukunft einiges ersparen könnte. Ich blieb im Grunde nur deswegen stehen, weil ich Mittelpunkt des Geschehens war, und meine einzige Alternative, nämlich wegzulaufen, mir im Vergleich dazu langweilig erschien.
Mit einem Türsteher hatte ich aber nicht gerechnet. Aus dem Nichts tauchte er auf, packte mich unter beiden Armen, zerrte mich unter lautem Jubel aus dem Club und warf mich dann auf die Strasse, wo es – natürlich – regnete.
„Meine Jacke ist noch drin“, erklärte ich ihm.
„Die kannst du morgen holen“, sagte er.
„Aber es regnet!“
„Du kannst sie morgen holen.“
Ich versuchte noch von draußen meine Kumpels zu erreichen, aber im Club war der Empfang zu schlecht. Mein Studentenwohnheim war aber nicht so weit entfernt, ungefähr fünfzehn Minuten zu Fuß, und so lief ich einfach los. Dort angekommen, zog ich meine komplette Kleidung aus und setzte einen Tee auf. Ich war noch zu aufgedreht, um schlafen zu können. Als mein Mitbewohner ein paar Stunden später nach Hause kam, war ich noch wach.
„Ach, da bist du!“, sagte er, als er mich im Bademantel am Küchentisch sitzen sah. „Wir haben dich überall gesucht!“
„Ja ... hatte keine Lust mehr ...“
„Aber da war echt voll viel los. Sogar eine Schlägerei!“
„Echt?“
„Ja, ja ... irgendein Mongo hat einfach angefangen, um sich zu schlagen. Voll verrückt!“
Ich nickte. „Kennst du eigentlich eine Carmen?“
„Carmen ... mit braunen Locken?“
„Ja, genau die meine ich. Hat sie einen Freund?“
„Keine Ahnung, habe nur ein paar Vorlesungen mit ihr. Wieso, geht da was?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Mal schauen ...“