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Angestarrt
Der Bus hat Verspätung, schon wieder. Er muss den Weg zur Schule hoch rennen, schwitzt. Wer ihm entgegen kommt, mustert ihn genau. Blicke bohren sich in seine Brust. Eine alte Frau mit ihrem Dackel an der Leine grinst verstohlen, als sie ihn sieht. »Spät dran?« Er läuft weiter, keine Luft zum sprechen. In die Schule, die Treppen hoch. Sein Kopf ist puterot.
Endlich. Er lehnt sich an die Wand, pünktlich ist er da, vor dem Klingeln. Die dürren Mädchen mit den pinkfarbenen T-Shirts auf der anderen Seite des Gangs kichern, grinsen hämisch vor sich hin, betreten das Klassenzimmer. Endlich. Er atmet aus, schließt die Augen. Jemand rempelt ihn an, er öffnet die Augen, sieht den Jungen, der es war. »Tschuldigung, hab dich ganz übersehen«, jappst er mit gespielter Freundlichkeit, stellt sich neben ihn an die Wand, sieht ihn an, aus den Augenwinkeln, schmunzelt. Die Lehrerin kommt, öffnet die Tür.
Chemie vergeht, wie im Flug. Es klingelt wieder, er geht hinaus. Setzt sich in seine Ecke im Flur, wenige Leute. Isst still sein Knäckebrot, blickt leer geradeaus. Wieder die Treppen hoch, auf den Lehrer warten.
Die Pausen sind Zeitverschwendung. Sie sind lästig, viel zu lästig. Und zu lang. Das Lästigste an der ganzen Schule. Die Pausen sollten wegfallen, der Tag wäre schneller vorbei. Die Augen würden ihn nicht so oft finden.
Er setzt sich auf seinen Platz, erste Reihe, am Fenster. Der Stuhl knarrt leicht unter seinem Gewicht. Er nimmt sein Heft heraus. Mathe, sein Lieblingsfach. Einfache Zahlen, Formeln, Gleichungen. Nichts davon denkt und fühlt. Er sitzt allein.
Die Doppelstunde ist vorbei, die Schule ist vorbei. Endlich. Er geht aus dem Raum, die Mädchen aus der anderen Klasse kichern, wieder und wieder. Auf dem Weg die Treppen hinab starrt ihn ein magerer Junge an, unentwegt, penetrant. Ein Lehrer gluckst leicht, sieht wie er vorbei geht. Er spürt den Blick in seinem Nacken. Wie der Lehrer ihm nachsieht. Wie der Junge ihn anstarrt. Wie die Mädchen kichern. Sie kichern in seinem Kopf, zeigen mit den Fingern auf ihn, immerzu.
Er rennt nun aus dem Gebäude, den Hügel hinab, auf dem die Schule steht. Hinab bis zu dem Fluss im Tal, setzt sich auf einen kalten Stein, sieht zornig ins Wasser.
Wut kocht in ihm, blanke Wut. Können die ihn nicht in Ruhe lassen, einfach alle in Ruhe lassen? Meinen die denn, er wäre gern so? Die haben es gut. Die haben es gut, haben keine Probleme mit dem Gewicht. Müssen nicht Kalorien zählen, müssen nicht schnaufen, wenn sie eine Treppe hochgehen. Finden überall Kleider, die passen. Müssen nicht in Geschäfte gehen, wo nur Dicke hingehen. Können essen, was sie wollen. Die werden nicht angestarrt, immer wieder angestarrt.