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Angst

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05.10.2001
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Angst

Hallo! Bin neu hier und wollte auch mal eine Geschichte zum Besten geben. Sie ist etwas länger als die meisten der Kurzgeschichten, die ich hier gelesen habe. Hoffentlich schreckt euch das nicht ab, würde mich über konstruktive Kritik echt sehr freuen !!! Also denn:


Angst

Mit rasenden, stampfenden Schritten rennt der Mann über den Rasen vor dem großen Haus.
Es ist irgendein öffentliches Gebäude, soviel weiß der Mann, mehr nicht - nicht einmal, wo es sich befindet oder wie er überhaupt hierhergeraten ist.
Sein vor Panik weit aufgerissener Mund schnappt mit hektischen, unregelmäßigen Zügen nach Luft, seine schweißnassen langen Haare wirbeln chaotisch umher. Mit einem überaus gewagten Hechtsprung überwindet er die halbhohe Mauer, die das Grundstück vom angrenzenden Gehweg trennt, stürzt prompt und schürft sich dabei beide Knie und die Handflächen auf, sodaß vier stattliche rote Striemen auf dem schmutzigen Asphalt zurückbleiben.
Von hinter der Mauer ertönen die hastigen, patschenden Schritte und das schrille, absolut irrsinnige Quietschen und Pfeifen des Dings, das hinter dem Mann her ist.
Sebastian Maskquart heißt der Mann, den jedoch die meisten seiner Bekannten aufgrund seines komplizierten Namens einfach „Maski“ zu nennen pflegen. Er ist zum Zeitpunkt dieses ungewöhnlichen Geschehens neunundzwanzig Jahre alt, obwohl sein Äußeres seit einigen Tagen immer mehr in Richtung neunundvierzig tendiert hat. Angst hat sich in seinem Gesicht abgezeichnet, immer tiefere Falten darin hinterlassen und seine Haare immer grauer werden lassen, eine Angst, die er sich noch vor einer Woche nicht in seinen schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können, und die jetzt ihren totalen, wahnwitzigen Höhepunkt erreicht hat.
Die Geräusche des Dings kommen näher, und verzweifelt versucht Maski sich aufzurichten. Ein kläglicher, wimmernder Laut dringt aus seiner Kehle, während er ausrutscht und erneut stürzt. Seine Arme und Beine fuchteln wild und panisch umher, fassen schließlich doch Halt und richten ihn auf. Sofort rennt Maski los, wobei er einen dritten Sturz um Haaresbreite vereiteln kann.
Hinter ihm ertönt das laute, klatschende Geräusch, als das Ding mit seinen Füßen auf dem Bürgersteig aufsetzt. Das grelle Singen, das es hervorbringt, und das sich anhört wie monströses Grillenzirpen oder wie ein Tonband, das viel zu schnell abgespielt wird, erfüllt die gesamte Umgebung. Es dröhnt in Maski's Ohren, droht ihn um den letzten kleinen Rest Verstand zu bringen, der ihm geblieben ist.
Um ihn herum geht währenddessen alles den gewohnten Gang eines sonnigen Vormittags auf einer mittelgroßen Straße der Stadt. Autos fahren, halten an Ampeln, parken ein oder aus, Fußgänger gehen ihren sonstwie gearteten Besorgungen nach. Nichts an diesem Szenario kann den Eindruck erwecken, daß irgendetwas nicht stimmt, und auf eine gewisse Weise ist das ja auch gar nicht der Fall.
Zwei Polizisten, die sich scheinbar angeregt miteinander unterhalten, kommen ihres Weges, und obwohl Maski weiß, daß es nichts nutzen wird, ruft er schon von weitem:
„Hilfe! Helfen Sie mir!“
Doch anstatt ihm zu helfen, zeigen sie natürlich keinerlei Regung, gehen einfach weiter ihres Weges und ihrer Unterhaltung nach. Sinnlos.
Maski weicht den Beamten aus und rennt an ihnen vorüber, denn täte er das nicht, so wäre es, als würde er einen fahrenden Panzer rammen. Die beiden ahnungslosen Polizisten würden ihn einfach zu Matsch zertrampeln, ohne etwas zu merken. Hilfe ist von ihnen ganz sicher nicht zu erwarten, genausowenig wie von irgendjemand anderem.
Das Ding holt auf. Sein Fiepen und Brabbeln wird zu einem allgegenwärtigen Höllenspektakel, das alles andere überdeckt. Maski kann es genau sehen, obwohl er bis jetzt nicht ein einziges Mal zurückgeblickt hat. Er sieht es in seinem Kopf, seine Augen braucht er dazu überhaupt nicht. Es ist so, wie es in Träumen manchmal ist: Wenn man eben etwas sieht, ohne hinzuschauen, etwas weiß, ohne es je erfahren zu haben, oder etwas tut, wozu man eigentlich gar nicht in der Lage ist.
Alles um ihn herum erinnert stark an einen Traum, nur mit einem kleinen, aber äußerst entscheidenden Unterschied: Es ist kein Traum, sondern die bittere - wenn auch absonderliche - Wirklichkeit.
Das Ding ist groß - mindestens drei Meter -, es hat zwei lange, extrem dünne Beine und Arme, an deren Ende es zwei skelettartige, dreifingrige und klauenbesetzte Hände trägt. Auf einem länglichen, gewundenen Hals sitzt der Kopf, ein grausam surreales Gebilde fern von Logik und Verstand. Zwei pechschwarze, bösartig funkelnde Augen, eine rattenähnliche Nase und ein kreisrunder, weit geöffneter Mund, der entfernt an einen Wels erinnert, wabern scheinbar unentwegt über das Gesicht, verzerren sich und verändern pausenlos ihre Lage zueinander. Der ganze Kopf scheint zu pulsieren wie ein deformiertes Herz, Beulen wachsen hervor und verschwinden wieder, Substanz löst sich in kleinen, sich windenden Fäden ab und verschwindet in der Luft.
Die Gestalt erinnert Maski ein wenig an ein Insekt, obwohl es eine gelbliche, zum Teil mit langen Haarbüscheln besetzte Haut hat und auf zwei Beinen läuft. Doch es ist weder ein Insekt noch irgendein anderes Lebewesen, es ist die grausame Inkarnation aller Ängste und Wahnvorstellungen, die es geben mag, und es ist mit Abstand das furchtbarste, das Maski jemals gesehen hat.
Es ist hinter ihm her, und wenn es ihn kriegen sollte, dann wird es ihn töten oder etwas noch viel schlimmeres als das.
Maski rennt.

Angefangen hat alles vor etwa einer Woche. Maski weiß es nicht mehr genau, irgendwann hat Zeit für ihn einfach die Bedeutung verloren.
Es war ein Montag. Er war an diesem Morgen wie gewöhnlich beim Treffpunkt gewesen, um sich die Wochenration Stoff zu besorgen, saß dann zu Hause und wartete auf seine Kunden.
Das Geschäft war vergangene Woche gut gelaufen, die Nachfrage stieg wie nie, und so hatte er diesmal noch mehr eingekauft als sonst: Eineinviertel Pfund Koks, ein halbes Heroin und dazu dreihundert Gramm von diesem neuen Stoff, den sie „Mercury“ nannten. Gerade mit diesem Zeug machte er rasante Umsätze, denn es war beliebt und im Einkauf günstiger als alles andere. Die Leute rissen es ihm förmlich aus den Händen, zu Preisen, die er bestimmte. Maski war sehr zufrieden.
Bereits gegen neun Uhr früh klingelte es das erste Mal. Es war Paolo, einer seiner treuesten Stammkunden. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen blickten nervös umher, als er die Wohnung betrat. „Äffchengesicht“ nannte Maski diesen Ausdruck, und er mochte ihn; er bedeutete bares Geld für ihn.
„Hey Paolo! Komm rein, Mann. Was kann ich für dich tun?“, empfing er ihn.
„Mercury. Zwanzig Gramm.“, flüsterte Paolo leise aber bestimmt, gerade als die Wohnungstür ins Schloß gefallen war.
Mercury!, dachte Maski. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, daß Paolo dieses Zeug wollte. Genauso wie sein Bruder - wie hieß er noch gleich? Pino oder so ähnlich - vor ziemlich genau einer Woche. Nun, es sollte ihm recht sein.
„Geht klar, Mann. Kein Problem. Noch was anderes dazu?“
„Fürs erste nicht.“
Maski wies ihn an, es sich doch solange bequem zu machen, und verschwand im Nebenzimmer, dort wo er sein Versteck hatte.
Seit knapp zwei Jahren verdiente sich Maski nun schon sein Geld auf diese Weise, und obwohl man ihn bis jetzt noch nie deswegen belangt hatte, war er doch äußerst vorsichtig. Natürlich wußte niemand, wo sein Versteck war, und es hatte auch niemand die Chance, es jemals ausfindig zu machen, es sei denn, er käme auf die Idee, den Teppich und danach eine ganz bestimmte, lockere Diele anzuheben. Darunter nämlich befand sich ein Hohlraum, in dem all seine Ware - fein säuberlich in Portionsbeutel abgepackt - bequem Platz hatte. Maski glaubte, daß dieses Versteck sicher genug war, wenngleich es einem Drogenkommando mit Schnüfflerkötern und dergleichen wohl wenig Schwierigkeiten bereitet hätte.
Er nahm ein Zwanzig-Gramm-Beutelchen von dem gelben Mercury-Zeug heraus, schloß das Loch wieder sorgfältig und deckte den Teppich darüber. Ein Arbeitsgang, der mittlerweile zur absoluten Routine geworden war, und den er öfter tätigte als den Gang zum Klosett, um zu pinkeln.
Aber diesmal war es anders.
Als Maski ins Wohnzimmer kam, ereilte ihn die erste Überraschung von vielen, die noch folgen sollten: Paolo war nicht mehr da.
Die zweite Überraschung war die Erkenntnis, daß er sich geirrt hatte, daß Paolo in der Tat noch da war, und zwar jetzt genau hinter ihm stand. Er mußte sich wohl hinter der Tür versteckt haben, deshalb konnte Maski ihn auch nicht sehen, aber er spürte das Ding, das er ihm in den Rücken preßte, und das sich verdammt wie ein Pistolenlauf anfühlte.
„Laß den Stoff fallen und nimm die Scheißpfoten hoch, klar?“, hörte er ihn sagen und gehorchte sofort.
Daraufhin begann Paolo ihn abzutasten. Er holte Maskis Springmesser aus der hinteren Hosentasche hervor, das dieser für solche Fälle immer dort verstaut gehabt hatte, doch ihm jetzt herzlich wenig nutzte.
„Hör zu Mann, tu das Ding weg, vielleicht...“
„Schnauze! Du hörst zu. Klar?“
Er drückte ihm den Lauf mit aller Kraft in den Rücken. Maski verkniff sich einen Schmerzensschrei.
„Okay. Gut. Klar.“, entgegnete er.
„Schön. Pflanz dich in den Sessel, ich habe dir was interessantes zu erzählen.“, befahl Paolo und schubste ihn in das Zimmer hinein. Maski nahm widerwillig Platz.
„Du hast ihm dieses Scheißzeug hier verkauft, nicht wahr?“, fragte Paolo, hob das Mercury-Päckchen auf und hielt es hoch.
„Wem? Wovon redest du überhaupt?“
„Pele! Von Pele rede ich, du Arschloch!“, brüllte er. Die Waffe begann in seiner Hand zu zittern.
Etwas klickte in Maski's Kopf, als er diesen Namen hörte. Pele? Klar, so hieß Paolo's Bruder, nicht „Pino oder so ähnlich“. Aber war das nicht komisch? Wie konnte er den Namen des Mannes vergessen, der - Maski fiel es wie Schuppen von den Augen - doch sein bester Kumpel war? Er war mit dem Kerl in die Schule gegangen, verdammt! Was war hier los?
„Du glotzt genauso blöd aus der Wäsche wie ich gestern. Ja, Mann: Mein Bruder, und dein bester Kumpel. Hattest ihn irgendwie vergessen in den letzten paar Tagen, was?“, meinte Paolo.
Maski schaute ihn sprachlos an.
„Mir ging es genauso, und auch vielen anderen, zumindest bis gestern. Scheint so, als hätte es ihn für ein paar Tage einfach nicht gegeben, weder in Gedanken noch in echt. Und weißt du was?“
Er schüttelte langsam mit dem Kopf. Sein Mund stand weit offen.
„Genauso ist es auch gewesen. Alle hatten ihn vergessen, sogar ich, sein eigener Bruder! Er hat von letzten Dienstag an bis gestern nicht existiert, so als hätte es ihn nie gegeben, und jetzt ist er tot!“
„Tot? Was meinst du damit?“
„Was ich damit meine? Er ist tot, Mann, und du Dreckskerl hast ihn auf dem Gewissen! Du hast ihn umgebracht!“
„Du bist ja komplett übergeschnappt.“, sagte Maski und stand auf. Sofort riß Paolo die Waffe hoch und zielte auf ihn.
„Setz dich hin, oder ich knall' dich über den Haufen, Maski! Ich mein's ernst!“
Er gehorchte.
„Ich werd's dir erklären, aber zuerst beantworte mir eine Frage: Hast du ihm Mercury verkauft? Hast du?“
„Nun...was weiß ich. Kann sein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, Mann!“
„Du hast mir versprochen, es uns beiden niemals zu geben, weißt du noch? Du hast gewußt, was es für ein Dreckszeug ist. Und du hast es ihm trotzdem gegeben, deinem besten Kumpel. Und mir hättest du es gerade eben auch verkauft, du Bastard!“
„Aber du wolltest es doch haben!“
„Das Zeug hat Pele umgebracht, das weißt du so gut wie ich. Ich habe die leere Spritze in seiner Bude gefunden. Und dafür wirst du bezahlen.“
Maski stand wieder auf und öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte und er spürte, wie etwas mit höllenartiger Geschwindigkeit an ihm vorübersauste. Hinter ihm splitterte etwas aus Glas.
„Ich habe dir gesagt, daß ich es ernst meine. Setz dich wieder hin.“, sagte Paolo gelassen. Viel zu gelassen. Maski dagegen zitterte wie ein junger Hund. Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln, seine Knie gaben unter ihm nach, sodaß er ganz von selbst wieder in den Sessel plumpste. Beißender Pulvergestank drang in seine Nase.
„Du hast Pele dieses Zeug gegeben, und es hat irgendwas mit ihm angestellt. Ich weiß nicht, was es war, aber das ist mir auch egal. Ich weiß nur, daß er daran verreckt ist, und zwar qualvoll. Weißt du, sie haben ihn gestern morgen gefunden, irgendwo draußen in einer dreckigen Ecke. Sein Gesicht war vor Angst und Schmerzen verzerrt, seine Haare standen in alle Richtungen ab, und die Hände waren zu Klauen gekrümmt. Er muß schreckliches durchgestanden haben in den Tagen, in denen er verschwunden war, in denen er nicht existiert hat. Nur der Teufel weiß wohl, was das war, wie sowas überhaupt sein kann. Egal. Du hast ihn auf dem Gewissen, und das zählt. Ich will dich gar nicht erschießen, weißt du, und ich werde es auch nicht tun, wenn du jetzt nur genau das machst, was ich dir sage, kapierst du das?“
Maski nickte energisch mit dem Kopf, und das war gleichzeitig das letzte, an das er sich für eine ganze Weile erinnern konnte. Es war die erste Erinnerungslücke, und es sollten noch so viele folgen, daß er bald nur noch auf winzigschmalen Inseln des Bewußtseins zwischen diesen Lücken dahinexistieren würde.

Maski wird immer langsamer. Er hat fast keine Kraft mehr, das weiß er, doch das ist nicht der Grund: Alles um ihn herum wird irgendwie langsamer, sämtliche Bewegungsabläufe erscheinen immer gedehnter, kraft- und sinnloser. Die Autos, die Menschen, die Geräusche und Gerüche, eben alles.
Auch das Ding wird immer langsamer, obwohl Maski genau weiß, daß es nach wie vor eine winzige aber entscheidende Kleinigkeit schneller ist als er selbst. Das schrille Kreischen ist etwas dumpfer geworden, nicht nennenswert, aber doch hörbar. Es verliert mehr und mehr an Frequenz.
Lediglich Maski's Gedanken werden nicht langsamer, und auch nicht seine Angst. Die wächst stetig, unaufhaltsam, mit jedem weiteren, wieder etwas langsameren Schritt.
Maski rennt.

Irgendwann kam er zu Bewußtsein und fand sich auf dem Teppich seines Wohnzimmers wieder. Strahlender Sonnenschein fiel durch das Fenster direkt auf sein Gesicht. Er blinzelte zaghaft hinein und richtete sich schwerfällig und benommen auf. Sein Kopf war schwer wie ein Amboß, seine Glieder waren steif und taub.
Es dauerte einen Moment, bis er einige Dinge wieder zusammenbekam. Paolo war dagewesen, und er hatte ihn mit einer Waffe bedroht. Warum? Ja richtig, wegen Pele, wegen - verdammt, Pele, ja. Und dann? Was war dann gewesen? Maski wußte es nicht mehr.
Er stand auf, ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Er sah aus wie das Produkt dreier durchzechter Nächte, oder noch viel schlimmer: Wie ein Junkie ...
Maski lief es eiskalt den Rücken herunter. Mein Gott, er sah wirklich wie ein verfluchter Junkie aus! Das war beinahe lächerlich, denn hatte er auch Jahre seines Lebens Stoff unter die Leute gebracht, so hatte er selbst doch nie etwas davon genommen, abgesehen von ein paar gelegentlichen Joints und - ganz selten - mal etwas Koks durch die Nase. Er war sich immer erhaben darüber vorgekommen. Und jetzt?
Jetzt spürte er ein unmißverständliches Brennen am linken Unterarm, was sich bei näherer Betrachtung wie von selbst bestätigte: Eine rötliche Schwellung war da, und in der Mitte ein Einstich. Kleine, gelbe Flecken angetrockneten Zeugs glänzten um die Stelle herum, und in Maski's Kopf läutete eine Alarmglocke: Mercury!
Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, was allerdings bloß Kopfschmerzen verursachte. Paolo hatte etwas damit zu tun, ganz klar. Irgendwie mußte er Maski gezwungen haben, sich das Zeug zu spritzen, aber die Erinnerung daran fehlte. Komplett.
„Scheiße!“, brüllte Maski sein Spiegelbild an, und schlug dabei mit der Faust auf das Waschbecken.
Aber es half nichts. Er mußte sich damit abfinden, auch mit der Gefahr, jetzt vielleicht süchtig zu sein nach dem Zeug. War das überhaupt möglich? Maski wußte es nicht.
Plötzlich fiel ihm etwas anderes ein, über das sich ein Nachdenken lohnen mochte, und kurz darauf verließ er das Bad und ging ins Schlafzimmer. Er schickte sich an, den Teppich zurückzuschlagen und die lockere Diele anzuheben, als er merkte, daß dies gar nicht nötig war: Sein Versteck war bereits offen und so leer wie ein Freibad im Winter, abgesehen von ein paar toten Kellerasseln und etwas Staub.
„Elender Dreckskerl.“, flüsterte Maski, „Das wirst du mir büßen.“
Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, aufgeregt im Zimmer auf- und abzulaufen wie ein eingesperrter Tiger und angestrengt nachzudenken.
Wenn Pele tatsächlich tot war, so hätte es Maski wirklich sehr leidgetan. Er war ein verdammt guter Freund, und niemals hätte er ihm irgendetwas schlechtes gewünscht. Er konnte sich nicht genau daran erinnern, ihm Mercury verkauft zu haben, allerdings konnte er es auch nicht ausschließen. Okay, sollte es so gewesen sein, dann war es wohl ganz bestimmt ein Fehler, das war Maski klar, doch er hätte niemals die Schuld für seinen Tod auf sich genommen, denn Pele hatte das Zeug doch schließlich gewollt! Er wäre selbst schuld gewesen, oder? Maski fand ja.
Der andere Punkt war die verblüffende Tatsache, daß er seinen besten Kumpel einfach vergessen hatte. Seinen Namen, sein Gesicht, ja seine gesamte Existenz. Und wenn Paolo wirklich recht hatte, dann ging es ihm nicht allein so. Wie konnte ein Mensch für eine Woche einfach nicht existieren? Blanker Unsinn war das, irgendetwas steckte hinter der Sache, und Maski würde es herausfinden.
Er duschte, zog sich an und verließ die Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, daß er sie niemals wieder betreten würde. Das Unheil hatte seinen Lauf genommen und war nicht mehr aufzuhalten.

Die ersten einer ganzen Reihe seltsamer Vorfälle ereigneten sich, kaum als er den Gehweg vor dem Haus betreten hatte.
Ein jüngerer Mann lief frontal auf ihn auf und riß ihn dabei beinahe von den Füßen.
„Verdammt, hast du keine Augen im Kopf, Mann?!“, brüllte Maski.
„'Tschuldigung, ich hab' Sie nicht gesehen, war keine Absicht, ehrlich.“
„Kauf dir 'ne Brille, du Blindschleiche!“, entgegnete Maski und ging kopfschüttelnd weiter.
Der Kerl sah ihm ungläubig nach, so als könnte er es selbst nicht fassen.
„Tut mir wirklich leid!“, rief er.
Maski grunzte mißmutig. Das gibt's doch gar nicht, dachte er und ging schneller.
Knapp hundert Meter weiter kam ihm eine Frau mit Kinderwagen entgegen. Sie lief genau in der Mitte des Gehwegs entlang und machte keinerlei Anstalten, auch nur ein klein wenig Platz zu machen, obwohl sie geradeaus schaute. Maski mußte zwangläufig auf die Straße ausweichen. Die Frau würdigte ihn keines Blickes.
„Ja, bin ich denn unsichtbar, oder was?“, fragte er erbost, worauf die Frau sich erschrocken umdrehte und ihn anschaute. Sie wirkte genauso verdutzt wie der Kerl vorher.
„Tu-tut mir leid, ich war wohl in Gedanken. Nichts für ungut.“, antwortete sie.
Maski grunzte wieder und ging weiter, noch schneller und mißmutiger als zuvor.
Noch merkwürdiger wurde es, als eine Gruppe Spatzen sich plötzlich direkt vor seinen Füßen niederließ und begann, auf dem Gehweg nach Krümeln herumzupicken. Er blieb stehen und beobachtete sie für einen kurzen Moment. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so freche Spatzen gesehen zu haben. Einer kam sogar bis auf wenige Zentimeter an seinen rechten Fuß heran, ohne ihn auch nur zu beachten!
„Für euch bin ich wohl auch unsichtbar, was, Jungs?“
Maski hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als die ganze Gruppe gleichzeitig abhob und laut fiepend davonflatterte. Er sah ihnen nachdenklich hinterher. Es war das erste Mal, daß er an seinem Verstand zweifelte und daran, daß hier alles mit rechten Dingen zuging.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Bald war er im Stadtpark angelangt, wo er auch nicht lange brauchte, um die Leute zu finden, die er gesucht hatte. Sie waren zu dritt und lümmelten sich mit einer Palette Dosenbier auf einer Mauer herum. Maski kannte alle drei, sie kauften regelmäßig Stoff von ihm, und er wußte, daß sie gute Bekannte von Paolo waren. Er ging auf sie zu.
„Hey Leute! Alles im Lot?“, begrüßte er sie.
Die drei schauten auf, musterten Maski für einen kurzen Moment, und sahen sich dann untereinander an.
„Was'n das für 'ne Figur?“, fragte einer. Maski riß seine Augen weit auf.
„Was soll das denn heißen? Seid ihr besoffen?“
Die drei sahen sich wieder kurz an, und daraufhin stand einer von ihnen auf.
„Okay, Mann. Was willst du?“
„Ich wollte mich ein wenig mit euch unterhalten. Über Pele, Paolo's Bruder.“
„Hm-hm. Was hast du denn mit Pele zu tun, Freund?“, fragte der Kerl.
„Was ich mit ... Moment mal! Ich verstehe. Ihr habt mit Paolo gesprochen, ja?“
„Wer bist du, Freundchen?“
Maski verschlug es die Sprache. Was war hier los? Wollten die ihn veräppeln?
„Ich bin's, Maski! Wollt ihr mich verarschen, oder was?“
Der Kerl vor ihm nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und sah Maski stirnrunzelnd an. Die beiden anderen fingen an zu lachen. „Was ist denn das für ein bescheuerter Name?“, meinte einer, und sie lachten noch mehr.
„Ihr Idioten, ihr kriegt euren Scheiß-Stoff von mir!“, sagte Maski laut. Sofort verstummte das Gelächter, und sie sahen sich wieder an. Für einen Moment herrschte absolute Stille.
„Okay Freundchen, denke es reicht. Du solltest sehen, daß du sehr schnell hier wegkommst.“, meinte der Kerl, der vor ihm stand und kam langsam auf ihn zu. Die beiden anderen stellten ihre Bierdosen ab und standen ebenfalls auf.
Maski hob beschwichtigend die Hände: „Hey Leute, wir sind alle ziemlich aufgebracht wegen dieser Scheißsache. Ihr solltet wissen, daß ich nichts damit zu tun habe, auch wenn Paolo euch etwas anderes erzählt hat. Das müßt ihr mir glauben.“
„Du wirst gleich sehen, wie aufgebracht wir sind, du blöder Penner!“, schrie der Kerl und schubste Maski auf den Boden. Die anderen bauten sich um ihn herum auf.
Er versuchte sich aufzurichten, doch mit einem Mal begann sich alles um ihn herum zu drehen, und seine Arme gaben unter ihm nach. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch statt eines Wortes kam nur ein hohles Röcheln hervor, das sich anhörte wie ein verstopfter Abfluß. Er spürte einen dumpfen Schmerz in der Seite, und dann wurde wieder einmal alles dunkel.

Maski's Verstand ist weit weg. Hinter ihm, über ihm, irgendwo, nur nicht mehr in seinem Kopf. Die Welt um ihn herum ist unwirklich geworden, bizarr und grotesk. Die Gebäude und Gegenstände, die im Zeitlupentempo an ihm vorüberziehen, sind fremd und farblos geworden. Alles ist derart langsam, daß sich nur schwer ein kontinuierlicher Ablauf erkennen läßt.
Das Ding ist nähergekommen, näher denn je. Maski spürt seinen heißen Atem im Genick. Das schrille Kreischen hat nun nichts schrilles mehr an sich, vielmehr läßt sich jetzt deuten, was es wirklich ist: Es redet, es sagt etwas zu Maski. Noch ist es zu schnell, um es wirklich verstehen zu können, doch es wird immer langsamer und deutlicher.
Maski will eigentlich überhaupt nicht wissen, was diese Bestie sagt, ja er fürchtet sich davor, es zu verstehen. Am liebsten würde er stehenbleiben und damit allem ein Ende bereiten, aber er kann nicht. Wie von allein tragen ihn seine Beine immer weiter, mit ihren grausam langsamen Bewegungen tragen sie ihn in die Ewigkeit.
Maski rennt.

Irgendwann kam er wieder zur Besinnung. Er wußte, daß er lange bewußtlos gewesen sein mußte, aber er ahnte nicht einmal ansatzweise wie lange. Er lag im Park, vor der Mauer, auf der die drei Kerle gesessen und Bier getrunken hatten, und es war strahlender Sonnenschein.
„Nicht mein Tag heute.“, murmelte er und rieb sich die schmerzende Stirn.
Die ganze Welt hatte sich gegen Maski aufgelehnt. Ein gigantisches Komplott. Die wollten ihn fertigmachen, mit allen Mitteln, dabei hatte er keinem Menschen etwas getan! Was sollte das bloß bedeuten?
Wie zur Antwort ertönte ein leiser, aber unerträglich hoher Ton in seinen Ohren. Er schüttelte mehrmals den Kopf, und dann war es wieder verschwunden.
„Ich werd euch alle in den verdammten Hintern treten, das schwör' ich, und wenn es das letzte ist, das ich tue!“
Er stand auf und schaute sich um.
Mittlerweile herrschte reger Betrieb im Park. Frauen mit Kinderwagen, Omas mit sabbernden Kötern, plärrende Kinder und knutschende Teenager streiften umher, und keiner würdigte Maski auch nur eines Blickes. Das machte ihn irgendwie wütend. Was bildeten die sich eigentlich ein? Warum zum Teufel taten bloß alle so, als wäre er Luft? Was war das hier für ein Spiel?
„Hey, hier bin ich!!“, platzte es plötzlich und urgewaltig aus ihm heraus. „HIIIEEEER!!!“
Ein Pärchen, das keine zehn Meter von ihm entfernt war, wandte sich fragend nach rechts und links. - „Hast du das gehört?“ - „Hat sich angehört wie Meeresrauschen oder so was“ - „Bestimmt nur der Wind.“
Ein kleines Stück weiter begann ein Hund zu kläffen.
Maski klappte die Kinnlade herunter. Fassungslosigkeit machte sich in ihm breit wie ein schleimiger Parasit, und immer mehr Wut kochte in ihm hoch.
Blindlings lief er auf das Pärchen zu, baute sich drohend neben dem Jungen auf, der gut einen Kopf kleiner war als er selbst.
„Meeresrauschen, was, Arschloch?“, brüllte er ihm direkt ins Ohr.
„Da war es wieder. Also, wie Wind hört sich das nicht an...“, sagte der Junge, drehte seinen Kopf nach rechts und sah glatt durch Maski hindurch.
Und jetzt machte Maski einen schweren Fehler, obwohl er ja gar nicht ahnen konnte, was für Folgen sein weiteres Handeln haben konnte. So gesehen, hatte er noch sehr viel Glück gehabt - wenn man in seiner Situation überhaupt noch von Glück reden konnte.
Er holte mit beiden Händen aus und schubste den Jungen mit aller Kraft von der Seite an, das heißt, er versuchte es, denn das Ergebnis war, daß er sich selbst eine Sekunde später mit verstauchten Fingern auf dem Schotter des Gehwegs wiederfand. Er jaulte vor Schmerz laut auf, während das Pärchen unbeeindruckt weiterging.
Maski wußte nicht wirklich, was geschehen war, und als er seine irrsinnig schmerzenden Finger vor das Gesicht hielt und dabei aus dem Augenwinkel heraus eine Frau mit Kinderwagen direkt auf sich zukommen sah, war es mehr ein Reflex als bewußtes Handeln: Blitzartig stieß er sich auf dem Hinterteil rückwärts aus dem Weg, vom Schotterweg auf den Rasen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
Während er zusah, wie die Frau teilnahmslos an ihm vorüberging, begann er einiges zu verstehen. Nicht daß er auch nur irgendetwas von all dem begriff, was hier mit ihm geschah, so konnte sich doch sein Verstand ganz allmählich auf diese (und sei es auch noch so eine fremdartige) Situation einstellen. Und somit wußte dieser angepaßte Verstand auch fast sofort, was dieses Pieksen zu bedeuten hatte, das er just in diesem Moment von den Nerven aus Maski's Hintern gemeldet bekam.
Es war das Gras. Jeder einzelne Grashalm stach wie eine Nadel durch seine Jeans bis in die Haut. Warum, so lautete die 1000 DM-Frage. Ganz klar, weil Maski nicht in der Lage war, die Halme durch sein Gewicht umzuknicken, genausowenig wie er den Jungen wegschubsen konnte. Und der Kinderwagen hätte ihm glatt die Beine abgefahren, wäre er nicht ausgewichen. Logisch. Soweit klar. Doch die 2000 DM-Frage vergessen wir doch lieber, das wird uns dann wohl doch zu schwer!
Maski war nur noch als Beobachter auf dieser Welt. Weder konnte ihn jemand wahrnehmen, noch konnte er irgendetwas beeinflussen. Sicher, das Pärchen vorhin hatte zumindest etwas gehört, aber er war überzeugt, daß dies ein Zustand war, der sich auch bald legen würde. Für die Welt um ihn herum existierte er einfach nicht mehr, so wie ...
Genau in dem Moment, als er an den Namen „Pele“ dachte, ertönte wieder dieses Geräusch. Er hatte es vorher schon einmal gehört, nur war es da noch viel leiser gewesen. Es war ein unglaublich hoher Ton, ein schrilles Pfeifen, das immer lauter wurde und in den Ohren wehtat.
Maski stand vorsichtig auf. Der Ton schwoll weiter an, um dann plötzlich unvermittelt abzuklingen. Ein weiteres, mysteriöses Gefühl stahl sich in seinen Kopf: Das Gefühl, von jemandem (oder etwas) beobachtet zu werden ...

Und genau dieses Etwas ist in diesem Moment, in diesem zeitlosen Augenblick inmitten einer Welt jenseits aller Vernunft, hinter Maski her. Und es spricht zu ihm, rasend schnell, und jedes einzelne der wenigen verständlichen Worte zwischen all dem schrill chaotischen Kauderwelsch bohrt sich wie heiße Nadeln in seinen Kopf, scheint sein Gehirn zum kochen zu bringen. Aber es sind keine richtigen Worte im Sinne von menschlicher Sprache, vielmehr sind es verzerrte Botschaften aus einer fremden, weit entfernten Welt, deren Bedeutung man nur annähernd zu erahnen vermag:
„Hast du Angst, Maski?“ - „Fürchtest du dich?“ - „Lauf weg, Maski!“ - „Schau mich an!“
Aber Maski kann nicht weglaufen. Es gibt keinen Ort, an den er laufen kann, es gibt keine Zeit, um irgendwohin zu gelangen, und erst recht gibt es keine Kraft mehr in ihm. Er ist gefangen in einem schwarzen Loch, dort wo Raum und Zeit keine Bedeutung mehr haben.
Gerade will er wieder zu einem neuen, endlos langen Schritt ansetzen, als er bemerkt, daß seine Füße gar keinen Halt mehr haben, daß es ihm gar nicht mehr möglich ist, überhaupt noch einen Schritt zu machen. Er befindet sich mitten im Fall. Beide Füße stehen hinter ihm in der Luft, sein Körper liegt fast waagerecht, schwebend und fast so unbeweglich wie eine Fotografie. Verblüffung ergreift von ihm Besitz, aber auch eine gewisse Erleichterung, da er nun weiß, daß alles bald vorbei sein wird, er erlöst werden wird von dieser allumfassenden Angst, die ihn nun schon so lange beherrscht.
Maski fällt.

Nach den Ereignissen im Park schien er wieder eine längere Bewußtseinslücke gehabt zu haben, denn nun war er plötzlich an einem ganz anderen Ort. Scheinbar hatte er den Park verlassen und lief nun auf dem Gehweg neben einer belebten Straße entlang, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Dies war verwunderlich, da er die Stadt doch eigentlich sehr gut kannte, aber mittlerweile überraschte ihn gar nichts mehr.
Ständig mußte er aufpassen, nicht mit entgegenkommenden Leuten zusammenzustoßen, was manchmal nicht ganz einfach war. Maski überlegte sich, was wohl passieren würde, wenn der Wind Blätter oder irgendwelchen Abfall auf ihn wehen würde. Konnte er sogar dadurch verletzt werden? Er wußte es nicht.
Eine Stimme hinter ihm unterbrach seine Überlegungen.
„Traurig, sooo traurig. Oh du bist ja sooo traurig, Klara!“
Maski schaute sich um. Dort ging eine junge Frau mit gesenktem Kopf, und neben ihr spazierte ein äußerst merkwürdig aussehender Kerl, der weinte und ständig auf sie einredete. Es war ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht und wäßrig-blauen Augen. Er trug einen langen, schwarzen Umhang und einen schwarzen Schlapphut. Die Frau schien ihn aber weder zu sehen noch zu hören.
„Warum mußte er dich nur verlassen? Die ganze Welt hat keinen Sinn mehr ohne ihn. Mein Gott, was bist du traurig, Klara, du ...“
Plötzlich schaute der Kerl auf und sah Maski direkt in die Augen. Er verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene, bei der Maski das Blut in den Adern gefror.
„Was ist los? Was glotzt du so?“, fauchte er.
Maski erschrak: Dieser Kerl konnte ihn sehen!
„Wer bist du? Warum kannst du mich sehen?“, fragte er.
„Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten! Viel Zeit bleibt dir sowieso nicht mehr, Gelber! Und jetzt laß mich in Ruhe, ich muß hier meinen Job machen!“
Die beiden gingen an ihm vorbei, und der Kerl wandte sich wieder der Frau zu, schluchzend und auf sie einredend.
Maski war wie gelähmt. Wie hatte der Kerl ihn genannt? Gelber? Was zum ...
„Armer Maski.“
Diese Stimme kam von rechts. Er fuhr herum, und sah ... eine Katze! Sie saß neben ihm auf einem Mülleimer, und in dem Moment als er sie ansah, zwinkerte sie ihm zu. Maski lachte kurz auf, ein Lachen, das amüsiertes Erstaunen ausdrückte.
„Armer, armer Maski. Was haben sie nur mit dir gemacht? Ausgestoßen, verbannt und gedemütigt. Sieh dir nur die Menschen an: Ihnen geht es gut, oder? Sie alle können nach Hause gehen, in ihre Sessel furzen und ihre Frauen nageln. Und du?“
Während die Katze zu ihm sprach, keimte ein Gefühl in Maski auf, ein Gefühl, das ihm wohlbekannt war, das er schon oft verspürt hatte: Es war Neid. Er war tatsächlich neidisch auf all die anderen Menschen! Aber wie ...
„Oh, das ist ganz einfach! Paß mal auf.“, sagte die Katze, „Sieh dir nur da drüben das Pärchen an!“
Maski schaute hinüber zur anderen Straßenseite. Dort begrüßten sich allem Anschein nach gerade ein Mann und eine Frau, sie umarmten und küssten sich. Beide strahlten vor Glück.
„Wäre es nicht ausgesprochen schön, an der Stelle des Mannes zu sein? Warum ist er so glücklich und du nicht? Hast du das verdient, Maski?“
Sofort loderte tödlicher Neid in ihm auf. Tatsächlich hätte er diesem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte, in diesem Moment den Hals herumdrehen können. Er haßte ihn, aber er konnte absolut nicht sagen warum.
Die Katze schaute ihn mit blitzenden Augen, in denen ganz eindeutig ebenfalls purer Neid lag, an. Maski öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie unterbrach ihn.
„Ja, du hast recht. Ich bin der Neid.“
„Was bedeutet das alles?“
„Nicht allzu viel. Jedenfalls nicht für dich. Zerbrich dir nicht den Kopf, Maski, es gibt wichtigeres. Schau dir nur all die glücklichen Menschen an, die ihr Glück nicht verdient haben! Daran klammere dich, das allein zählt!“
Er sah wieder zu dem verliebten Pärchen hinüber. Eine Frau stand jetzt bei ihnen und flüsterte den beiden etwas ins Ohr. Sie war atemberaubend schön, die schönste Frau, die Maski jemals gesehen hatte. Sie hatte langes, in verschiedenen Farben schimmerndes Haar und trug ein langes weißes Kleid. Sie schaute kurz zu ihm herüber und winkte, und sofort breitete sich ein warmes, kribbelndes Gefühl in seinem Bauch aus.
Maski wußte sofort, daß, wenn die Katze der Neid war, diese Frau die Liebe sein mußte, und fast augenblicklich wurde ihm klar, daß der Kerl vorher die Traurigkeit gewesen war. Diese Erkenntnis explodierte in seinem Verstand wie eine Bombe. Es war eine geradezu kosmische Erkenntnis, wie ein Blick von außen auf etwas, das man sein ganzes Leben lang nur von innen gesehen hat, wie eine einzige Antwort auf tausende von Fragen. Es war fantastisch.
„Naja, so fantastisch ist das auch wieder nicht.“, sagte der Neid.
„Warum ich? Was spiele ich für eine Rolle? Was tue ich hier?“
„Du solltest nicht hier sein, kein Mensch sollte jemals hier sein. Aber manchmal passiert es, daß jemand die Grenze der Wahrnehmung überschreitet, Maski. Dein Bewußtseinszustand ist bereits so weit vorgedrungen, daß eine Rückkehr leider, leider nicht mehr möglich ist. Du befindest dich hier in einer Wahrnehmungsebene weit über der deinen, da wo Gedanken und Gefühle lebendig sind. Wie oft in deinem Leben warst du neidisch auf jemanden oder etwas? Ich weiß es nicht genau, aber gerade bei dir war es sehr oft. Ich war jedesmal bei dir, stand neben dir und habe zu dir gesprochen. Ich habe dich immer sehr gemocht, Maski, deshalb habe ich dich auch so oft besucht. Schade, das jetzt ein anderer diesen Job übernommen hat.“
„Ein anderer? Wer?“
„Ein Teil von ihm fließt bereits in deinen Adern, es hat Besitz von dir ergriffen und wird dich nicht mehr loslassen. Schon bald wirst du noch eine weitere Bewußtseinsebene hinaufsteigen, allerdings werden deine Sinne nicht mehr ausreichen, um sie wahrzunehmen. Armer, armer Maski.“
„Es war das Mercury, richtig? Das verdammte Mercury.“
„Es hat viele Namen. Wir nennen es 'das gelbe', und es ist das Wesen mit der größten Macht von uns allen. Sehr unangenehm, Maski, sehr, sehr unangenehm. Ich muß jetzt leider gehen, dort warten noch viele Menschen auf mich, die dringend eine Portion Neid gebrauchen können. Vielleicht sollte ich dir eine gute Reise wünschen? Nun, jedenfalls denke immer daran, was andere haben und du nicht, an all die Ungerechtigkeit. Gehab dich wohl.“
Im selben Augenblick war die Katze, sprich der Neid, verschwunden, und Maski war nicht mehr ganz sicher, ob sie wirklich jemals dagewesen war.
Seine Gedanken schwirrten wild umher. Mercury, Bewußtseinsebenen, Liebe, Neid und Traurigkeit, 'das gelbe', das Wesen mit der größten Macht ...
schrilles Pfeifen
Was kann das sein?
kommt näher
Es muß auch ein Gefühl sein, eine Empfindung ...
im Gebüsch, direkt neben ihm
Maski weiß es. Maski beginnt zu schreien. Der Kreis schließt sich.
Es ist ...
Maski rennt.

... Angst. Die pure, nackte, gestaltgewordene Angst. Sie ist mächtig. Sie ist gelb. Sie ist genau über Maski.
Ihre bösen Augen blicken direkt in sein Gesicht, zwei apokalyptische schwarze Löcher voll dämonischer, weltenzerstörender Energie. Ihr Antlitz wirkt wie das Gemälde eines geisteskranken abstrakten Künstlers, es ist das entstellte Abbild ewig währender Grausamkeit und Verzweiflung.
Der Film, der sich Realität nennt und dessen Zuschauer Maski seit einiger Zeit ist, hat nun fast gänzlich auf Standbild geschaltet. Sein Körper befindet sich in beinahe waagerechter Haltung knapp über der Erde, sein Gesicht ist schier unmenschlich verzerrt, sein Mund mitten im stummen Schrei weit geöffnet. Lediglich sein Geist arbeitet nach wie vor in vollem Tempo, nimmt die Angst unaufhaltsam in sich auf und vernichtet dabei alles andere, was da jemals gewesen sein mag.
Die Worte der Angst sind wie himmelzerreißender Donner, gewaltige Entladungen, die das Fundament des gesamten Kosmos zu erschüttern scheinen. Es sind Worte, die von keinem Verstand der Welt verarbeitet werden können. Die Sprache der Angst ist die Auslöschung der Wirklichkeit, sie macht jede Art von Rationalität bedeutungslos.
Für Maski existiert nichts anderes mehr als Angst, sie ist jetzt seine Welt, sein Innen und Außen, sein Nah und Fern, sein Heute und Morgen bis in alle Ewigkeit. Selbst der Tod, der das einzige ist, was diese Angst noch zu besiegen vermag, ist nicht mehr. Er ist gefangen in der Unendlichkeit ohne Zeit und Raum, niemals mehr wird diese Angst ein Ende haben. Maski hat noch nicht einmal mehr die Gelegenheit, dies zu begreifen. Würde er es begreifen, so würde er sehen, wie er immer und immer wieder auf dem Fußboden seiner Wohnung aufwacht, den Einstich an seinem Arm und die angetrockneten Flecken. Er würde sehen, wie seine Erlebnisse sich ständig wiederholen: Die Kerle im Park, die ihn zusammenschlagen, die sprechende Katze als die Verkörperung des Neids. All dies würde er sehen, während er gleichzeitig hier in erstarrter Haltung immerwährend seiner Angst ins Antlitz sieht.
Der Kreis hat sich geschlossen.

Als etwa eine Woche später seine Leiche gefunden wurde, verkrümmt und mit verzerrtem Gesicht, war es für die Menschen in der Stadt lediglich ein weiteres Drogenopfer, und niemand wäre auf die Idee gekommen, daß dieser Mann immer noch lebt, gefangen in einer Ritze zwischen Raum und Zeit, verbannt in die Unendlichkeit des Daseins.
Und als einer der Schaulustigen beobachtete, wie der Pathologe den Leichensack zuzog und dabei dachte, wie traurig das doch alles war, konnte auch er nicht ahnen, daß genau in diesem Moment ein seltsam aussehender Mann mit schwarzem Schlapphut neben ihm stand und ihm etwas zuflüsterte.


ENDE


Nachwort:

Soweit meine Geschichte.
Ich hoffe, daß sie dem Leser etwas zum Nachdenken angeregt hat. Einige Anregungen möchte ich an dieser Stelle noch mit auf den Weg geben:
Was ist Bewußtsein? Ist es real, oder ist unsere gesamte Wahrnehmung nur Einbildung?
Was immer Bewußtsein auch sein mag, eines ist sicher: „Mercury“ ist zwar frei erfunden, aber Drogen gleich welcher Art verändern unser Bewußtsein mehr oder weniger stark, und das sogar nachhaltig. Sie sind das Wesen mit der größten Macht, da sie Empfindungen in uns auslösen, die im Normalfall nicht vorhanden sind.
Aber was sind eigentlich diese Gefühle, die täglich unser Handeln bestimmen? Sind es vielleicht wirklich Wesen, die in einer anderen Bewußtseinsebene leben und uns von dort steuern? Vielleicht ist das, was wir sehen, nicht alles, vielleicht bleiben die wesentlichen Dinge unseren Sinnen verborgen.
Es sei dem geschätzten Leser die Entscheidung überlassen, ob Maski diese Geschichte wirklich widerfahren ist, oder ob er alles nur im Drogenrausch, im Geiste erlebt hat.
Aber macht das überhaupt einen Unterschied? Wo wollen wir die Grenze zwischen Realität und Einbildung ziehen? Ich denke zum einen, daß beide Zustände fließend ineinander übergehen, zum anderen, daß es noch sehr viel für uns zu lernen gibt.

 

Hi Gambler,

oh Mann, was für eine Geschichte.

Ehrlich gesagt, kann ich deinem Wunsch nach konstruktiver Kritik im Moment nicht nachkommen, da ich Mühe habe, in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Mit dieser Geschichte bist du hier auf Kurzgeschichten.de mehr als willkommen.
Ich verpflichte dich hiermit umgehend, mehr solcher Geschichten zu posten, eine pro Tag reicht aber. Mehr kann man von Geschichten dieses Kalibers gar nicht verarbeiten.

Supersupergut!!!Ehrlich!!! <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">


Gruß.....Ingrid

 

Hallo und vielen Dank für die Blumen!!! Eine sooo positive Reaktion habe ich ja gar nicht erwartet (erröt). Freut mich aber, daß sie schon einmal EINER Leserin gefallen hat.

Also pro Tag eine Geschichte dürfte wohl schwierig werden, aber ich geb mir Mühe, möglichst bald noch was nachzulegen. Hab extrem wenig Zeit im Moment. Mal schaun, ob ich vielleicht eine meiner etwas älteren Storys überarbeite und poste.

Ich hoffe doch, daß auch ein paar andere Leute noch meine Story lesen werden und vielleicht auch noch ein paar Meinungen hinterlassen?!?
Itschis Stellungnahme hat mich auf jeden Fall schon einmal total angespornt, aber Geschmäcker und Ansichten sind ja bekanntlich verschieden.

Also nochmal danke und bis bald.

 

Hallo Gambler,

freut mich, daß du dich soooo gefreut hast. ;)
Da du neu hier auf kg.de bist, ist es vielleicht angebracht, ein paar Worte zu diesem Forum zu sagen.
Ich kann mir vorstellen, daß du, nachdem du deine Geschichte hier reingesetzt hast, gespannt auf Reaktionen der anderen Mitglieder gewartet hast und noch immer wartest.
Stell dir jetzt einfach mal vor, daß die anderen ca. 600 Mitglieder hier genau dasselbe fühlen wie du. Auch sie warten gespannt auf Kritik zu ihren Geschichten. Siehst du, worauf ich hinauswill? Genau - Nehmen und Geben heißt die Devise. Ich höre von euch etwas zu meinen Geschichten, dafür nehme ich mir die Zeit und sage zu der einen oder anderen Geschichte von euch meine Meinung. Das ist nur fair- und alle sind zufrieden.

Vielleicht bekommst du zunächst nicht so viele Reaktionen, wie du dir vielleicht erhofft hast, aber bedenke, wie viele Geschichten es hier zu lesen gibt und wie begrenzt die Zeit jedes einzelnen hier ist. Man kann unmöglich alles lesen, und es ist keine Diskriminierung des Autors, wenn er mal nur wenig oder gar keine Kritik bekommt.

Und bitte faß das jetzt nicht als schulmeisterliche Belehrung auf, es soll nur ein gutgemeinter Tip sein, damit du uns nicht gleich wieder gefrustet wegläufst. OK? :D


Gruß.....Ingrid

 

Hi itschi,

soo schnell bin ich bestimmt nicht gefrustet...
Aber gut, das Prinzip dieses Forums habe ich schon verstanden, und selbstverständlich werde ich auch die eine oder andere Kritik hinterlassen, auch wenn es mir irgendwie viel leichter fällt, Geschichten zu schreiben als andere Geschichten objektiv zu beurteilen. Vielleicht fehlt mir dazu ja noch die Übung.
Schaun mer mal...

Trotzdem danke für die freundlichen Hinweise!
:)

 

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